Schattenreiter. Sarah Nikolai
schüttelte den Kopf. Fasziniert blickte ich in seine Augen, die so dunkel waren, dass ich zwischen Iris und Pupille kaum unterscheiden konnte. »Ich bin seit gestern bei meiner Tante Abigail Stanford zu Besuch.« Ich ging davon aus, dass ihm zumindest ihr Name bekannt war. Schließlich kannte hier jeder jeden.
»Dein Englisch ist nicht schlecht, aber ich höre einen leichten Akzent.«
Ich war überrascht, hatte ich doch geglaubt, man könne mich aufgrund meines guten Sprachtrainings für eine Einheimische halten. Der junge Mann musste eine gute Beobachtungsgabe oder sehr feine Ohren haben.
»Ich bin Berlinerin«, klärte ich ihn auf.
»Willkommen in Calmwood. Tut mir leid, dass wir dir kein schöneres Begrüßungsgeschenk machen konnten.« Nun klang er sarkastisch.
»Rücksichtslose Autofahrer scheint es selbst in einem idyllischen Örtchen wie diesem zu geben«, meinte ich resignierend. Wie oft kam es vor, dass jemand ein Tier anfuhr und es schwer verletzt liegen ließ. Das konnte mich wirklich aufregen.
»Er ist nicht unter die Räder gekommen. Er wurde von Menschenhand getötet«, erwiderte der Fremde mit einer eigenartig monotonen Stimme und wandte sich um.
Getötet? Ich musste schlucken.
Er ging weiter, und ich folgte ihm unwillkürlich. Gab es in Calmwood tatsächlich Menschen, die zu so einer Grausamkeit fähig waren?
Der Fremde blieb an einer kleinen Mulde stehen, die er offenbar zuvor ausgehoben hatte, und legte das tote Tier hinein. Mit bloßen Händen schaufelte er die aufgeschüttete Erde auf die Decke.
»Unser Freund hat kein gnädiges Ende gefunden.« In seiner Stimme schwang grenzenlose Verachtung. Ich hingegen war viel zu geschockt, um etwas zu sagen. Zugleich war ich beeindruckt, dass der junge Mann sich des armen Tieres annahm. Ich hockte mich zu ihm und grub meine Finger in die warme Erde, um ihm zu helfen.
»Warum machst du das?«, wollte ich wissen.
»Warum machst du das?«
»Ich hab zuerst gefragt.«
Er nickte. »Es ist besser, ihn zu vergraben. Sonst lockt er Aasfresser an.« Nicht weit von uns entfernt saßen zwei Krähen auf einem großen Stein. Sie plusterten ihr dunkles Gefieder und guckten interessiert zu uns herüber. »Du kennst dich gut aus. Bist du Tierarzt?«
Ich hörte ihn lachen und sah aus dem Augenwinkel, dass er den Kopf schüttelte. Dann war er sicher Farmer. Jedenfalls jemand, der Ahnung hatte. »Also, und warum hilfst du mir?« Er sah mich neugierig an.
Ich zuckte mit den Schultern. »Der Hund tut mir leid.«
Er sammelte faustgroße Steine und legte sie auf einen Haufen. Einen davon zeigte er mir. Er war rund und staubig. Als ich ihn kurz in die Hand nahm, merkte ich, wie schwer er war.
»Die kommen auf das Grab. Weißt du auch, wieso, Stadtmädchen?«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung und hob hilflos die Schultern. Dann gab ich ihm den Stein zurück.
Er lächelte nachgiebig. »Dadurch verhindern wir, dass sich Raubtiere am Kadaver vergehen.«
Gewissenhaft verteilte er die Steine auf der lockeren Erde.
»Sieh hin, Stadtmädchen, ich lasse keinen Platz zwischen den Steinen. Ein hungriges Tier ist sehr erfinderisch und würde bei zu großen Lücken zu graben beginnen. Doch das Leichengift würde ihm nicht guttun.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Aber warum nennst du mich ständig Stadtmädchen?«
Er hielt inne und grinste mich unverfroren an. »Weil man dir anmerkt, dass du aus einer Großstadt kommst.« »Ach ja?«
»Du warst dir nicht mal sicher, ob der Hund noch lebt.« Er lachte leise.
»Hey, mach dich nicht lustig. Ich habe es nur gut gemeint. Außerdem wusste ich, dass er tot ist. Erst als du ihn wie ein Baby eingewickelt hast, bekam ich Zweifel.«
»Ich weiß. Aber deine Unsicherheit hat dich trotzdem verraten.« Sein Lachen wurde lauter.
»Das nenne ich Dankbarkeit«, sagte ich gereizt, denn ich fühlte mich von dem Kerl veralbert. »Das nächste Mal überlege ich es mir zweimal, ob ich helfe.«
Sacht hielt er mich am Arm zurück. »Sei nicht böse, Stadtmädchen. War nicht meine Absicht, dich zu kränken. Im Gegenteil. Ich bin dir wirklich dankbar.«
Er drückte mir den letzten Stein in die Hand und nickte mir aufmunternd zu. Ich legte ihn an die vorgesehene Stelle.
»Sehr gut«, lobte er mich und presste die Handflächen aneinander, als wollte er beten.
»Was soll das werden?«, fragte ich irritiert.
»Ich muss seinen Geist befreien.«
»Was?«
»Er steckt in seinem Körper fest, weil er einen grausamen Tod erfuhr. Wenn wir ihn nicht befreien, bleibt er für immer gefangen und findet niemals Frieden.«
Der Kerl meinte ernst, was er da sagte. Ich hingegen glaubte nicht an Übersinnliches. Unter normalen Umständen hätte ich ihn einfach machen lassen und wäre gegangen. Aber etwas an ihm faszinierte mich und hinderte mich daran zu gehen. Stattdessen beobachtete ich ihn sehr genau. Er holte ein Gebilde aus mehreren Federn, das an einen Traumfänger erinnerte, aus seinem Rucksack und legte es auf das Grab.
Dann senkte er den Kopf, so dass ihm die Haare ins Gesicht fielen, und konzentrierte sich. Reglos verharrte er vor dem Steinhaufen. Ich wagte nicht, mich zu bewegen oder zu sprechen.
Eine fast unheimliche Stille breitete sich über dem Feld aus. Der Wind bewegte die Federn, trieb sie plötzlich hinauf, bis sich das runde Gebilde um sich selbst drehte.
Es flog immer weiter, bevor es langsam wieder zu Boden segelte. Ungläubig verfolgte ich das Spiel. Neugierig und eingeschüchtert zugleich. War es der Geist des Hundes gewesen, der die Federn bewegt hatte? Ich traute mich nicht, den Fremden zu fragen.
Gerade als ich glaubte, er hätte sein Gebet beendet, ertönte eine kehlige Stimme, die so ganz anders klang als seine Sprechstimme. Andächtig lauschte ich dem angenehmen Klang.
»E’neya ... Mahitoka di Ti’tibrin, ta’ke di Mal. E’neya, Mahitoka di Ti’tibrin, ta’ke di Mal.«
Ein kräftiger Windstoß fegte das Federgebilde über das Feld, so weit, dass ich es nicht mehr sehen konnte. Die Stimme des Fremden vibrierte. Dann wurde er leiser, bis er nur noch flüsterte und schließlich ganz verstummte.
Ohne ein weiteres Wort erhob er sich, klopfte sich den Sand von den Jeans und zupfte einen Grashalm ab, den er sich in den Mund steckte.
»Ist der Geist befreit?«, fragte ich verunsichert. Er nickte lediglich und ordnete zwei der aufgestapelten Steine neu an.
»Du gehörst zu den Sioux, oder?« Ich hatte in meinem Reiseführer gelesen, dass South Dakota einst ihr Territorium gewesen war. Doch zu meiner Überraschung schüttelte er den Kopf, allerdings ohne mir zu verraten, welchem Stamm er stattdessen angehörte.
Langsam gingen wir zur Straße zurück. In dem Moment fiel mir ein, dass ich ihn unbedingt etwas fragen wollte.
»Woher wusstest du, dass er gezielt getötet und nicht einfach nur überfahren wurde?«
»Ihr Stadtmenschen habt Augen und könnt doch nicht sehen.« Dieses Mal hörte ich sein Bedauern, vielleicht sogar Mitleid.
»Ich kann sehen«, beharrte ich.
»Das glaubst du. Hast du die Wunde an seinem Hals bemerkt? Sie wurde ihm mit großer Wahrscheinlichkeit durch ein Messer zugefügt.«
Ich schüttelte entsetzt den Kopf. Nein, das war mir tatsächlich entgangen. Und darüber war ich sogar froh, denn ich konnte kein Blut sehen. Selbst wenn es getrocknet war.
»Wer macht nur so was?«
Mit zügigen Schritten