Schattenreiter. Sarah Nikolai
»Du kennst doch die Leute in Calmwood ganz gut, oder?«
»Ich denke schon. Warum?«
»Ich habe vorhin mit Rin einen toten Hund gefunden. Sah aus, als hätte man den getötet.«
»Getötet? Bist du sicher?« Ich nickte.
»Und du denkst, das war einer aus Calmwood?« »Das weiß ich ja eben nicht.«
»Ganz ehrlich, ich traue das keinem zu.« Sie überlegte einen Moment und knabberte dabei an einem Fingernagel, ehe sie energisch den Kopf schüttelte, so dass ihr Zopf dabei hin- und herflog. »Keinem«, wiederholte sie.
Ich glaubte ihr. Vielleicht war es jemand von außerhalb gewesen. »Sind solche Dinge schon öfter passiert?«
»Ich erinnere mich an keinen Vorfall. Die Leute von Calmwood sind gute Leute, für die ich meine Hand jederzeit ins Feuer legen würde. Anständige Bürger, keine Tierquäler. Oder hat Rin etwas anderes behauptet?«
»Nein! Ganz und gar nicht.«
»Na bitte.«
Sie drehte das Radio wieder lauter. Das Thema war für sie offenbar beendet, und ich wollte nicht weiter nachbohren. Vor allem, weil ich etwas anderes noch viel dringlicher erfahren wollte.
»Was macht dieser Rin eigentlich so?« Ich war mir sicher, dass er entweder auf einer Farm arbeitete oder woanders mit Tieren zu tun hatte.
Ira biss sich auf die Unterlippe. »Warum willst du das wissen?«
»Einfach nur so.«
Sie lachte und sah mich an, als wäre ich für sie ein offenes Buch. »Er sieht gut aus, stimmt’s? Das finden viele. Aber mach dir keine Hoffnung, Mädel, nur weil er dir einen hübschen Anhänger geschenkt hat.«
Das hörte sich an, als würde Ira aus Erfahrung sprechen. Unterschwellig meinte ich, verletzten Stolz herauszuhören.
»Rin lässt niemanden an sich ran. Weder dich, mich noch den Bürgermeister. Keiner von uns weiß etwas Genaues über ihn.«
»Ich mache mir doch gar keine Hoffnungen«, erwiderte ich empört. Wohl wissend, dass ich nicht sonderlich glaubwürdig klang. »Wie dem auch sei, ich dachte, hier sind alle bestens übereinander informiert?«
»Rin ist eine Ausnahme. Er ist ein netter Kerl, doch er leidet am ›Einsamer-Wolf-Syndrom‹. Man sieht ihn nicht, man hört ihn nicht. Er ist wie ein Gespenst, ein Phantom. Schwer zu greifen. Ganz einfach anders als du und ich, wenn du verstehst, was ich meine?«
Ich nickte und erinnerte mich an die außergewöhnliche Bestattung.
»Man weiß nicht, woher er kommt oder wer seine Eltern sind. Vielleicht stammt er aus einem der Reservate? Von einem Tag auf den anderen war er plötzlich da. Doch er nimmt nie an gesellschaftlichen Ereignissen teil, bleibt immer für sich, spricht kaum mit jemandem. Wir wissen nicht mal, wo genau er wohnt. Aber hin und wieder kommt er in die Stadt, erledigt Einkäufe oder kümmert sich um die Tiere.«
In einer Großstadt wie Berlin würde sich niemand Gedanken über jemanden wie Rin machen, aber in einem Ort wie Calmwood musste es schon etwas Besonderes sein, wenn ein Mann unter den Leuten lebte, über den man nichts wusste. Ira, auch wenn sie es sicher nicht zugeben würde, interessierte Rins Hintergrund. Zumindest schien sie sich ausführlich damit beschäftigt zu haben.
»Er treibt sich viel in den Wäldern herum. Wenn ein verletztes Tier gefunden wird, bringt man es zu Rin. Der pflegt es gesund. Und die Tiere vertrauen ihm. Er ist sehr naturverbunden.«
Wir fuhren durch ein Schlagloch und wurden durchgeschüttelt. Ich stieß vor Schreck einen leisen Schrei aus. Ira sah mich überrascht an, und wir mussten beide lachen.
Ich sank in meinen Sitz zurück, schloss die Augen und lauschte den Rest der Fahrt den Dixie Chicks.
2. KAPITEL
Den musst du unbedingt probieren.« Ira reichte mir einen Erdbeer-Bananen-Shake und setzte sich auf die Wiese vor dem Denkmal. Ihren eigenen Pappbecher hatte sie zwischen ihre Beine gestellt. Ich nahm einen Schluck und gesellte mich zu ihr.
»Mmh. Sehr gut.« Cremig und dickflüssig, wie ich es liebte. »Ich hätte nicht gedacht, dass mitten in Amerika tatsächlich ein Originalteil der Berliner Mauer ausgestellt werden würde.«
»Hast du den Fall der Mauer eigentlich miterlebt?«
»Nicht wirklich. Ich bin in dem Jahr geboren, in dem die Mauer fiel.«
»Wann war das?«
Ich deutete zu der kleinen Tafel, auf der das Datum stand.
»Oh. 1989. Ist auch mein Geburtsjahr. Was ist dein Sternzeichen?«
»Löwe.«
»Löwe? Das hätte ich mir denken können.« Sie lachte und steckte sich den Strohhalm in den Mund. »Ach ja? Und wieso?«
Sie ließ sich mit dem Trinken Zeit. Ich konnte sehen, wie sich die zähe Creme durch den Strohhalm nach oben schob.
»Weil du die passende Frisur hast.« Sie grinste und schnappte sich eine meiner dicken Locken, an der sie verspielt zupfte. Ich liebte meine Haare, die ich von Moms Seite der Familie geerbt hatte, war stolz auf sie und nahm Ira den Vergleich nicht übel. Immerhin hatten sie mir schon oft Bewunderung eingebracht.
»Ist das alles Natur?«, wollte sie wissen und ließ die Strähne los.
»Ja. Meistens ist es super, aber das Haarewaschen ist wirklich schwierig.«
»Das glaub ich gern.«
Wir genossen die wohltuende Wärme der Sonne und die kühlen Shakes und plauderten über Belangloses. Kurze Zeit später machten wir uns auf den Weg zu Roys »Souvenirs & More«.
Der Laden war sehr klein. Das Schaufenster kam mir aber im Vergleich dazu überdimensional vor. Hinter der Scheibe entdeckte ich neben zahlreichen Tassen in verschiedenen Größen und Formen auch eine Vielzahl an Kappen, Stickern und Anstecknadeln mit dem Wappen South Dakotas. Friedenspfeifen und verschiedener Federschmuck lagen ebenfalls aus.
Vor der Tür saß ein Mann in einem Liegestuhl, neben ihm befand sich ein Verkaufstisch mit Souvenirs. Er hatte seinen Cowboyhut tief ins Gesicht gezogen, und eine Zigarette ragte unter der Hutkrempe hervor. Seine Hose war aus hellem Wildleder und hatte überall Fransen. Die Cowboystiefel hatten auffällig hohe Absätze.
»Hey, Pete«, sagte Ira und ging auf ihn zu.
Der Mann nahm den Hut ab. Ein äußerst verschlafen wirkendes Gesicht kam zum Vorschein. So, wie er aussah, hätte ich ihn über sechzig geschätzt. Da der Rest seines Körpers athletischer wirkte, vermutete ich, dass er in Wahrheit um einiges jünger war. Die Haut war sonnengebräunt und tief gegerbt, die Augen dunkel und freundlich.
»Ira, schön, dich zu sehen. Was treibt dich denn in die Stadt?«
Pete richtete sich mühevoll auf und drückte die Zigarette im Aschenbecher auf seinem Schoß aus. Er musterte mich nur kurz, ehe er wieder Ira ansah.
»Ich wollte Jorani den Laden zeigen. Ist Roy nicht da?«
»Roy trifft sich heute mit diesem Holzschnitzer und kommt erst am Nachmittag nach Rapid City. Isaac und ich vertreten ihn so lange. Schaut euch ruhig drinnen um, wir haben wieder ein paar tolle Schmuckstücke aus dem Reservat«, forderte uns Pete auf.
Als wir eintraten, erklang ein leises Glöckchen, das uns willkommen hieß. Ira hatte nicht zu viel versprochen. Roys Shop war ein Paradies für jeden Souvenirjäger. Neben den Artikeln, die auch schon im Schaufenster auslagen, entdeckte ich eine Postkartensammlung, noch mehr Kappen, Cowboyhosen, Stiefel, Hüte und eine Reihe von Süßigkeiten, Zigaretten und Zeitschriften.
»Das ist neu«, meinte Ira plötzlich und deutete zu einer Überwachungskamera, die sie an der Decke ausgemacht hatte. In dem Moment kam ein junger Mann aus dem Hinterraum und stellte sich hinter den Ladentisch. Er hatte