Schattenreiter. Sarah Nikolai

Schattenreiter - Sarah Nikolai


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richtete den Rucksack, der an einem Träger über seiner Schulter hing, und deutete die Straße hinunter zur Stadt. »Ich muss dort entlang.«

      »Wir sollten es der Polizei melden«, sagte ich entschlossen.

      »Ohne einen Beweis können die nichts machen. Leider.«

      »Wir müssen zumindest den Besitzer verständigen. Weißt du, wem der Hund gehört hat?«

      »Roy. Zu dem gehe ich jetzt.« Er klopfte auf seinen Rucksack, aus dem ein merkwürdiges Gesicht aus Holz lugte, das nicht viel größer als der Deckel eines Senfglases und ebenso rund war.

      Er holte das Holzstück aus dem Rucksack und zeigte es mir. »Gefällt dir der Shi-ru’u?«, wollte er wissen und grinste.

      »Shi ... Shi ... was?«

      »Shi-ru’u. Ein Glücksbringer.«

      Ich nickte unentschlossen. Zumindest wollte ich es mir gern näher ansehen.

      »Ich schenke ihn dir, weil du mir geholfen hast.« Zum ersten Mal hörte ich auch in seiner Stimme einen leisen Akzent, der sehr warm und angenehm klang.

      Ich nahm das Holzstück entgegen, betrachtete es von allen Seiten und stellte fest, dass es sich um ein Amulett handelte. Es hing an einem Lederband und war mit grünen Federn versehen. »Danke.« Ich hängte es mir um.

      »Bitte. Mach’s gut, und genieß deinen Urlaub«, sagte er und hob die Hand, bevor er sich umdrehte und davonging.

      »Ciao«, rief ich ihm nach und schaute mich weiter in der Gegend um. Viel gab es jedoch nicht mehr zu entdecken. Calmwood lag inmitten einer weitläufigen Gras- und Waldlandschaft, die sich bis zum Horizont erstreckte.

      Als ich zum Desert Spring zurückkehrte, war es bereits 9 Uhr. Der Duft von Ei und Speck lag in der Luft.

      »Guten Morgen«, rief Abigail mir zu. Ich setzte mich an die Theke. »Hast du dir die Stadt angesehen?« Sie stellte eine Tasse dampfenden Kaffees vor mich hin.

      »Ja. Ich bin früh wach geworden und wusste nichts mit mir anzufangen«, gab ich zu.

      »Und wie gefällt dir Calmwood? Möchtest du was essen? Ich wette, du hast einen Bärenhunger.«

      Ich überlegte kurz und entschied mich für Rührei mit Speck und Lauchzwiebeln. Bärenhunger war allerdings übertrieben. Nach dem morgendlichen Schockerlebnis war mir ein bisschen der Appetit vergangen. Ich war nach wie vor wegen des Hundes aufgelöst und wollte mit meiner Tante darüber sprechen, die allerdings im Moment keine Zeit dafür hatte.

      »Eine gute Wahl«, meinte ein älterer Herr neben mir, der seine Stirnglatze mit einer langen grauen Haarsträhne zu kaschieren versuchte. Ich schätzte ihn auf Ende sechzig. »Abigails Rühreier sind die besten, die ich je gegessen habe.«

      Meine Tante kehrte mit zwei leeren Tellern hinter die Theke zurück und lachte herzlich. »Du übertreibst wie immer, Roger.« Sie begann, die Teller abzuspülen.

      »Ich sage nur, was ich denke. Und das sind, so wahr ich hier sitze, die besten Rühreier von Pennington County, wenn nicht sogar von ganz South Dakota!«

      Tante Abigail schüttelte amüsiert den Kopf.

      In dem Moment betrat die Blondine vom Tag zuvor das Café. »Morgen, Abigail«, grüßte sie meine Tante und kam zielstrebig auf mich zu. »Morgen, Jorani.«

      Ich wunderte mich, dass sie meinen Namen wusste. Aber dann fiel mir ein, dass hier jeder jeden kannte.

      »Hast du Lust mitzukommen? Ich fahre nach Rapid City.«

      Ihre Einladung kam überraschend. Wir hatten ja bisher keine Gelegenheit gehabt, uns kennenzulernen. Und wenn ich ehrlich war, hatte ich sie gestern nicht mal sonderlich sympathisch gefunden. Das sollte sich im nächsten Augenblick aber ändern.

      »Und was willst du da machen?«

      »Dir was zeigen, das du aus deiner Heimat kennst. Die Berliner Mauer.« Sie zwinkerte mir zu.

      »Oh, die ist wirklich eine Sehenswürdigkeit«, sagte Roger. Auch Tante Abigail fand die Idee großartig. »Ich habe die Mauer damals mit eigenen Augen gesehen, als ich John besuchte. Wir sahen uns das Brandenburger Tor aus der Ferne an, konnten aber nicht hinüber. Unglaublich, wie lange das alles inzwischen her ist.«

      »Haben wir dich jetzt neugierig gemacht?«, fragte Ira.

      »Ja, ziemlich. Ich bin gespannt, was es damit auf sich hat.«

      »Okay, dann komm mal mit.«

      Sie führte mich zu ihrem blauen Camaro, den sie vor dem Gartentor des Desert Spring geparkt hatte.

      Ich stieg kurz entschlossen ein. Ira setzte sich ans Steuer. Kraftvoll trat sie aufs Gas und ließ den Motor schnurren.

      Die Dixie Chicks dröhnten aus den Boxen. Iras Kopf wippte im Takt mit. »Ich bin übrigens Ira McLaine«, erklärte sie und reichte mir die Hand.

      »Jorani Wittlach.«

      »Wittlach? Ich dachte, du wärst eine Stanford.« »Meine Eltern haben nie geheiratet.« »Ach so?« »Ja.«

      Ira zuckte mit den Schultern. Das Thema schien sie nicht weiter zu interessieren.

      »Hat dein Name irgendeine Bedeutung?«

      »Jorani meinst du? Mein Dad hat ihn ausgesucht. Er steht auf außergewöhnliche Namen. Meine Ururgroßmutter soll eine Lakota gewesen sein. Nach ihr wurde ich benannt. Zu meiner Mom, die den Namen anfangs nicht so toll fand, hat er gesagt, dass die Geburt eines Kindes etwas Besonderes ist, daher sollte es auch einen besonderen Namen tragen.« Das war so typisch Dad.

      »Ich meinte Wittlach. Das klingt sehr deutsch.«

      »Oh ... ähm ... nicht, dass ich wüsste.« Es war Moms Nachname.

      Ira drehte das Radio leiser.

      »Ich hoffe, es ist okay, dass ich dich so überfallen habe? Meine Mom hat mich auf die Idee gebracht, dir ein bisschen die Gegend zu zeigen.«

      »Danke, sehr nett.« Ich musterte Iras Profil. Sie war hübsch. Die blonden Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, und ihre Haut war so makellos wie bei einem Make-up-Model aus der Werbung.

      »Wie lange bleibst du denn in Calmwood?«

      »Zweieinhalb Wochen sind geplant. Die Reise war ein Geburtstagsgeschenk meiner Eltern.«

      »Cool. Aber ich sage dir, die Zeit vergeht schnell, wenn du erst meine Freunde kennengelernt hast.« Das klang vielversprechend.

      »Du meinst sicher die beiden, die gestern mit dir im Café saßen.«

      »Ja, genau. Linda und Pway. Wir nennen ihn Pway, aber eigentlich heißt er Ben Pwayton. In Rapid City eröffnet am Freitag ein neuer Club. Vielleicht hast du Lust, mit uns hinzufahren?«

      »Klingt gut.«

      »Find ich auch.« Ira bemerkte das Amulett um meinen Hals. Sie nahm es in die Hand und zog es zu sich heran. »Das hast du von Rin, oder?« »Rin?«

      »Braune Haare, markante Wangenknochen, dunkler Blick ... schüchtern.«

      »So heißt er also«, sagte ich leise. »Die Bescheibung passt jedenfalls auf ihn.« Bis auf das »schüchtern« vielleicht.

      »Stehst du auf solche Sachen?« Ira ließ den Anhänger los, und er schlug sacht gegen meine Brust.

      »Keine Ahnung. Gekauft hätte ich ihn mir vermutlich nicht.«

      »Das wird Roy nicht gern hören.«

      Einen Roy hatte Rin vorhin auch erwähnt. Ihm gehörte der tote Hund. »Und wer ist dieser Roy?«

      »Der Besitzer eines Souvenirshops. Für den stellt Rin auch diese Glücksbringer her. Alles feinste Handarbeit.«

      Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Roy damit einen großen Gewinn erzielte. Gewiss kamen nur wenige Touristen nach Calmwood.


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