Schattenreiter. Sarah Nikolai
Die Jungs schienen so beeindruckt, dass sie tatsächlich den Rückzug antraten.
»Schon gut, jetzt regen Sie sich mal nicht so auf«, stammelte der Stachelkopf im Gehen. Und so schnell, wie diese Bande gekommen war, so schnell war sie auch wieder verschwunden.
»Gut gemacht«, meinte ein älterer Herr vom Nachbartisch, und Abigail wischte sich die Hände an der Schürze ab, so, als wären sie schmutzig. Sie nickte nur zustimmend und ging wieder hinein.
Nach Ladenschluss half ich Abigail, die Stühle hochzustellen, das Geschirr abzuwaschen und den Boden zu wischen.
»Ohne dich würde ich hier noch bis nach Mitternacht sitzen«, sagte sie dankbar.
»Kein Problem. Ich helfe dir auch in den nächsten Tagen.« »Das ist lieb von dir. Roger will mir auch helfen. Gemeinsam kriegen wir das schon hin.«
»Dieser Roger ist ein Netter, stimmt’s?« Ich musterte sie sehr genau. Neugierig, ob sie ihn gern hatte. Dass Roger ein Auge auf meine Tante geworfen hatte, war mir schon heute Morgen nicht entgangen. Doch zu meiner Überraschung blieb Abigail ganz ungerührt.
»Ja. Sicher. Wieso?«
»Ach, ich hatte den Eindruck, dass er dich mag.« Abigail, die gerade den Lappen auswrang, hielt in ihrer Bewegung inne. Abrupt fing sie zu lachen an. »Du hast eine Fantasie, Mädel.« »Ich meinte das ernst.«
»Roger ist Witwer. Seine Frau ist vor anderthalb Jahren gestorben. Es war sehr schwer für ihn. Ich glaube kaum, dass er über den Verlust hinweg ist.«
Kopfschüttelnd schloss sie die Kasse ab.
Die Uhr zeigte halb zwölf, als wir endlich mit allem fertig waren.
Abigail verschwand im Bad und ich in meinem Zimmer, wo ein Teller mit Kuchen für mich bereitstand. Nach der kleinen Stärkung ging auch ich unter die Dusche, machte mich dann bettfertig und schlüpfte unter die Decke. Ich ließ meinen Tag Revue passieren, an dem sich so viel ereignet hatte, dass ich meinte, seit mindestens einer Woche hier zu sein. Unglaublich, wie schnell man sich einlebte.
Schläfrig rollte ich mich zur Seite und fiel fast augenblicklich in eine Art Dämmerschlaf, halb wach, halb schlafend. Ein Zustand, in dem man glaubte, fast zu schweben. Ich fühlte mich rundum wohl und kuschelte mich in meine Decke, als ich direkt über mir ein Pochen vernahm, das immer lauter und energischer wurde.
Als ich den Kopf hob, entdeckte ich eine Krähe an meinem Fenster, die mit ihrem Schnabel gegen die Scheibe klopfte. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Vorsichtig öffnete ich das Fenster, aber sie flog weg.
Und in dem Moment hörte ich das Klirren von Glas. Jemand hatte unsere Scheibe eingeschlagen!
Ich stürzte in den Flur und stieß fast mit meiner Tante zusammen. Die trug ein Blumennachthemd, eine Art Schlafmütze auf dem Kopf und hatte zu meinem Entsetzen eine Schrotflinte in der Hand.
»Um Gottes willen, was hast du damit vor?«, fuhr ich sie an.
Tante Abigail legte den Zeigefinger auf die Lippen. Wir lauschten ins Dunkel, aber ich konnte nichts hören.
Abigail winkte mich mit sich und schlich durch den Flur, der mir unendlich lang vorkam. Ich bemühte mich, keinen Ton von mir zu geben und nach Möglichkeit auch keine Diele zum Knarren zu bringen, was bei dem alten Holz nicht gerade leicht war. Irgendwie schafften wir es, geräuscharm zur Treppe zu gelangen.
»Warte kurz«, flüsterte sie und spähte nach unten.
Mein Herz klopfte so laut, dass ich fürchtete, ein möglicher Einbrecher würde es hören. Ganz vorsichtig stieg Abigail zwei Stufen hinunter und richtete die Waffe in den unter ihr liegenden Raum.
»Wer ist da?«, brüllte sie mit ihrer tiefen Stimme, die fast wie die eines Mannes klang. Ich erschrak derart, dass ich ungewollt einen leisen Schrei ausstieß.
Abigail lief schnell nach unten. Mir blieb vor Angst um sie fast das Herz stehen. Aber dann sagte sie plötzlich ganz gelassen: »Du kannst runterkommen«, und knipste das Licht an.
Misstrauisch blickte ich mich um, sah in jeder Ecke und Nische nach, um erleichtert festzustellen, dass Gott sei Dank tatsächlich keine Menschenseele hier war. Von meiner Tante und mir mal abgesehen.
Das Fenster war zertrümmert. Vereinzelte Glaszacken hingen noch im Rahmen. Die restlichen Splitter lagen auf dem Boden und den Tischen verstreut. Ich entdeckte einen etwa faustgroßen Stein, der neben einem Stuhlbein lag.
»Das wird teuer«, stellte Abigail nüchtern fest.
Plötzlich bemerkte ich eine Bewegung im Garten. Meine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, und ich erkannte einen Schatten, der sich zum Tor hin bewegte.
Ich weiß nicht, was in diesem Moment in mich fuhr, aber ohne großartig nachzudenken, lief ich nach draußen, in der wahnwitzigen Absicht, den Steinewerfer zu schnappen. Ich bewegte mich so schnell und gewandt wie eine Raubkatze auf den Schatten zu, der menschliche Formen annahm. Es war ein Mann. Ich streckte die Hand nach ihm aus und packte ihn am Arm.
»Hier geblieben!«
Der Fremde drehte sich erschrocken zu mir um. Das Licht der Straßenlaterne fiel auf sein Gesicht, und ich erkannte Rin. »Du?« Ich konnte es nicht glauben. Ausgerechnet Rin! »Es ist nicht so, wie du denkst.« Ich schüttelte fassungslos den Kopf.
»Das mit dem Fenster, das war ich nicht«, redete er auf mich ein und nickte zum Desert Spring.
»Rin ... wieso?« Ich war völlig durcheinander.
»Glaub mir, Jorani.« Seine Hände krallten sich in meine Schultern. Ich spürte seine Finger durch meinen Schlafanzug hindurch.
Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Sein Atem ging rasch. »Ich war das nicht«, wiederholte er eindringlich.
»Okay, okay. Aber wer war es dann, und was machst du eigentlich hier?«
In dem Moment hörte ich, wie Tante Abigail herauskam. Rin wich instinktiv zurück. »Ich erkläre es dir morgen.«
»Warte doch.«
Mit einem leichtfüßigen Satz über den Zaun war er im Dunkeln verschwunden.
»Bleib stehen«, brüllte Abigail ihm nach. Gott sei Dank hatte sie ihre Schrotflinte drinnen gelassen. Entschlossen rannte sie auf die Straße, doch sie war nicht bei bester Kondition und musste bereits nach wenigen Schritten aufgeben. Atemlos kam sie zu mir zurück.
»Dieser Mistkerl. Wenn ich den in die Finger kriege!«, sagte sie und keuchte so heftig wie eine Asthmakranke. Sie beugte sich vor und stützte sich auf den Knien ab. Langsam kam sie wieder zu Atem.
»Die haben sich gerächt. Das war einer von den Jungs«, war sie überzeugt. »Der Sheriff wird von mir hören. Hast du den Täter erkannt?«
Mechanisch schüttelte ich den Kopf. Ich hasste es, meine Tante anzulügen, aber ich wollte Rin schützen.
3. KAPITEL
Der Sheriff nahm Abigails Aussage auf, mehr konnte oder wollte er nicht für uns tun. »Ich habe in der Dunkelheit niemanden erkannt«, log ich auch ihn an. Ich wollte Rin nicht in Schwierigkeiten bringen, zumal er behauptet hatte, es nicht gewesen zu sein. Und ich glaubte ihm.
Wahrscheinlich würde ohnehin die Versicherung greifen, so dass meine Tante zumindest nicht selbst für die Reparaturkosten aufkommen musste. Nachdem Sheriff Hunter den Tatort untersucht und unsere Aussagen aufgenommen hatte, genehmigte er sich einen Schinkenbagel und eine Tasse Milchkaffee.
»In letzter Zeit häufen sich solche Vorfälle«, erklärte er und biss herzhaft in den Bagel. Ein paar Krümel blieben in seinem Schnauzbart hängen.
»Warum tun die Leute nur so etwas?« Meine Tante konnte das beim besten Willen nicht verstehen.
Der Sheriff zuckte mit den Schultern. »Das ist ein Problem unserer Zeit. Die Jugend hat zu viel Freizeit, zu viel Langeweile. Da kommt man schnell auf dumme Gedanken. Ich habe selbst so