Schattenreiter. Sarah Nikolai
und strich dabei über seinen Sheriffstern.
Als Roger wenige Minuten später vorbeikam und das zertrümmerte Fenster sah, regte er sich mächtig auf. Seine Wut galt vor allem dem Sheriff, weil der seiner Ansicht nach nicht genug unternahm, um die Täter zu fassen. Mehr als die Aussage meiner Tante aufzunehmen würde er nicht tun, behauptete Roger vehement.
»Keine Sorge, guter Mann, ich kümmere mich um den Fall«, versicherte Hunter.
»Wer’s glaubt ...«
Hunter nahm Rogers Einwände nicht weiter ernst und verabschiedete sich, stopfte den letzten Bissen seines Bagels in den Mund und verließ das Café. Er stieg in seinen Dienstwagen und brauste davon.
»Das ist ein Unding«, beschwerte sich Roger.
»Reg dich nicht auf, denk an dein Herz«, beruhigte Abigail ihn und schenkte ihm Zitronentee ein.
»Ist doch wahr. Was hat der je für unsere Gemeinde getan? Und so einer will Sheriff sein.«
»Er tut, was er kann.«
»Aber das ist offenbar nicht genug.«
»Was soll er denn machen, Roger? Wir haben nun mal niemanden erkennen können.«
Der Einzige, der Licht ins Dunkel bringen konnte, war Rin. Er musste den oder die Täter gesehen haben.
Ich suchte nach Müllschippe und Handfeger und machte mich daran, die Scherben zu beseitigen. Die Sache mit dem Fenster war schnell geregelt. Bereits am Nachmittag wurde eine neue Scheibe eingesetzt.
Ich half meiner Tante im Café, machte jedoch am späten Nachmittag Feierabend, weil Ira ihre Freunde und mich zu einem DVD-Abend zu sich nach Hause eingeladen hatte. Ich war sehr gespannt auf Pway und Linda, bekam aber auch ein schlechtes Gewissen, meine Tante mit der Arbeit allein zu lassen. Doch Abigail versicherte mir mehrmals, dass sie allein zurechtkäme und ich mir einen tollen Abend machen sollte.
Die McLaines wohnten in einem wunderschönen Häuschen, das aus einem amerikanischen Familienfilm hätte stammen können. Überall wuchsen herrlich bunte Blumen, im Vorgarten, in den Fensterkästen, auf den kleinen Beeten vor der Haustür. Rosafarbene Vorhänge zierten die weiß gerahmten blitzblanken Fenster. Es war ein Puppenhaus. Einzig der Schädel eines Büffels, der über der Haustür hing, passte zu dem Westernstil, der in dieser Gegend typisch war.
Ich klingelte, und Ira öffnete mir. »Schön, dass du es einrichten konntest! Komm rein. Ich möchte dir meine Familie vorstellen.«
Mrs McLaine sah genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Eine perfekte Hausfrau und Mutter, die zugleich Schürze und Make-up trug.
»Willkommen in Pennington County«, begrüßte sie mich und schüttelte mir überschwänglich die Hand.
Mr McLaine arbeitete für das Rapid City News Journal und hatte ein eigenes Büro im Haus. Er winkte mir nur kurz durch die Tür zu.
»Eigentlich wollte ich mir eine Studentenbude in Rapid City nehmen, aber das klappt finanziell nicht«, erklärte Ira und stieg die Treppe nach oben. Ich folgte ihr.
»Du studierst?«
»Ja, Geschichte und Literatur.«
Nach meinem sozialen Jahr hatte ich eigentlich auch vor zu studieren, ich hatte mich allerdings noch für kein Studienfach entschieden. »Wollt ihr ein paar Kekse?«, rief uns Mrs McLaine hinterher. »Nein danke, Mom. Wir haben noch genug in meinem Zimmer.« »Alles klar. Dann viel Spaß!«
»Danke, Mom.« Und an mich gewandt, meinte sie: »Die anderen sind übrigens schon da.«
Ira stellte mir Pway, der ohne die Ölflecken im Gesicht ganz nett aussah, und Linda, eine natürliche Schönheit mit irischen Vorfahren, vor. Außerdem war da noch Jack, ein Freund von Pway, der, wie ich erfuhr, ursprünglich aus Jamaika stammte und gleich mehrere Tüten Erdnussflips mitgebracht hatte. Wir guckten »American Beauty«, und anschließend erzählte ich ihnen von meinem Leben in Berlin.
»Wie haben sich deine Eltern eigentlich kennengelernt?«, wollte Jack wissen.
»Auf dem deutsch-amerikanischen Volksfest. Mom hat Zuckerwatte verkauft, und Dad war in Zivil unterwegs. Er hat sich auf den ersten Blick in ihr strahlendes Lächeln verliebt und sie dann jeden Tag an ihrem Stand besucht. So lange, bis er sie so weit hatte, dass sie mit ihm Achterbahn fuhr. Mom hatte schreckliche Angst vor den Karussells und ganz besonders vor der Achterbahn. Dass sie dann schließlich doch ja gesagt hat, sprach lediglich für Dads Charme. Dad wusste nicht nur, wie er jemanden überzeugen konnte, er war auch ein schlauer Fuchs. Die ganze Fahrt über hat sich Mom an ihm festgekrallt, bis sie ihn schließlich gar nicht mehr loslassen wollte.«
»Eine süße Geschichte. Und wie heißt es so schön, Gegensätze ziehen sich an.«
Als Ira das sagte, musste ich unwillkürlich an Rin denken. Gab es einen größeren Gegensatz als ihn und mich, das Stadtmädchen? Ich konnte das Sprichwort nur bestätigen. Nie zuvor hatte ich mich so stark zu jemandem hingezogen gefühlt. Und das, obwohl ich ihn kaum kannte. Vielleicht lag es an seiner geheimnisvollen Andersartigkeit? Ich wusste nicht genau, was es war, doch ich hatte es vom ersten Moment an gespürt.
»Das finde ich auch«, meinte Linda leise, die ein sehr ruhiges Mädchen war. Ihre Haare schimmerten rotblond. Ich erfuhr, dass es ihre Naturfarbe war, um die ich sie ehrlich beneidete.
Pway hätte ich älter geschätzt. Das lag an seiner Stimme. Sie klang sehr ruhig, ausgeglichen und deutlich tiefer als die von Jack. Er arbeitete in der Autowerkstatt seines Vaters und hatte sich erst kürzlich von seiner Freundin aus Rapid City getrennt. In der Gegend um Calmwood und in den Black Hills kannte er sich wie kein Zweiter aus.
»Wenn du magst, zeige ich dir ein paar schöne Flecken«, versprach er. »Oder wir gehen alle zusammen campen. Der Wald ist in dieser Jahreszeit unvergleichlich. Bevor du abreist, solltest du unbedingt in die Black Hills fahren. Das ist ein Muss.«
»Pway hat recht, Jorani. Die Natur hier ist einzigartig«, ermunterte mich Ira.
»Und wann wollt ihr das machen?«
Pway zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. An einem Wochenende vielleicht?«
Damit waren alle einverstanden. Ich auch. Denn ich wollte wirklich gern mehr von South Dakota sehen, und wegen Gladice’ Unfall würde meine Tante nicht viel Zeit für eine Sightseeing-Tour haben.
Gegen 23 Uhr machte ich mich auf den Heimweg. Linda und Jack begleiteten mich ein Stückchen, aber dann mussten sie in eine andere Richtung. Pway war schon etwas früher aufgebrochen, so dass ich nun allein war.
Friedlich, ja geradezu totenstill lag die von Bäumen gesäumte Straße vor mir. Calmwood hatte bei Nacht einen ganz besonderen, eigenen Charme. Es war in seiner ländlichen Atmosphäre beschaulich und anheimelnd. Ich ging an liebevoll gepflegten Vorgärten vorbei, in denen Briefkästen mit hoch-und runterklappbaren Fähnchen standen, wie man es aus Filmen kannte. In einigen Häusern brannte noch Licht, in anderen war es bereits dunkel, weil die Bewohner schon schliefen. In der Ferne hörte ich das einsame Bellen eines Hundes.
Es stimmte, was man sagte. In ländlichen Gegenden war man den Sternen näher als in der Großstadt. Ein Meer aus funkelnden und glitzernden Diamanten erstreckte sich über mir. Ich blieb stehen, um den Anblick zu genießen, als ich das Rascheln von Laub hinter mir hörte. Erschrocken drehte ich mich um, aber niemand war zu sehen. Die Straße war menschenleer. Wahrscheinlich war es nur ein Tier gewesen, das sich in die Stadt verirrt hatte. Dennoch beschloss ich, mich zu beeilen. Die Vorfälle der letzten Tage, die eingeworfene Fensterscheibe und der getötete Hund spukten mir noch immer im Kopf herum. Offenbar steckte diese Jugendbande hinter allem, und ich hatte keine Lust, ihnen allein auf offener Straße zu begegnen.
Ich bog in eine Seitenstraße, in der Hoffnung, eine Abkürzung gefunden zu haben, als plötzlich jemand hinter mir auftauchte und mich am Arm festhielt.
»Warte bitte.«
Ich blieb wie angewurzelt stehen, hielt vor Schreck den Atem an. Das Herz schlug mir bis