Schattenreiter. Sarah Nikolai

Schattenreiter - Sarah Nikolai


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ich mich um und blickte in ein schmales Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen und einem kantigen Kiefer. »Hab ich dich erschreckt?«

      »Rin!« Ich war unendlich erleichtert, ihn zu sehen, und wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen.

      »Entschuldige, ich wollte dir keine Angst machen.«

      »Du kannst schleichen wie eine Katze, weißt du das? Aber was machst du denn hier?« Der Schrei einer Krähe hallte durch die Nacht und ließ mich zusammenzucken. In der Krone einer riesigen Eiche hockten sieben, acht, vielleicht sogar zehn Krähen. Ich erkannte im Dunklen nur ihre Umrisse. Ihre Köpfe waren nach vorn gereckt, so, als starrten sie auf uns herab. Sie erinnerten an Raubvögel, die auf Beute hofften. Oder auf Aas. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.

      »Ich habe dich gesucht.«

      Rin folgte meinem Blick zu den schwarzen Vögeln, die auf den Ästen saßen.

      »Vor den G’takalag brauchst du dich nicht zu fürchten. Man sagt, sie seien im engen Kontakt mit den Zorwaya, und so wissen sie, was erst geschehen wird. Sehr kluge Tiere.«

      »Ehrlich gesagt klingt das alles andere als beruhigend.« Diese Vögel waren mir unheimlich.

      Rin lachte leise. »Hab keine Angst, Stadtmädchen, sie werden dir nichts tun.«

      Er sagte das so überzeugend, dass ich ihm glauben musste. Immerhin kannte sich niemand so gut mit Tieren aus wie Rin.

      »Was ist gestern Nacht geschehen?«, fragte ich, denn ich wollte endlich Klarheit haben.

      »Du musst mir glauben, dass ich nichts damit zu tun habe. Ich habe eure Scheibe nicht eingeworfen.«

      »Das weiß ich doch«, versicherte ich ihm eilig. Ich hatte von Anfang an gespürt, dass er unschuldig war. Warum hätte er meiner Tante und mir das auch antun sollen?

      Rin wirkte erleichtert.

      »Aber warum warst du ausgerechnet zu dem Zeitpunkt in Abigails Garten?«, wollte ich wissen.

      Er atmete tief durch. »Ich war zufällig in der Nähe, als ich die Jungen sah, die über den Zaun ins Desert Spring kletterten. Ich wusste sofort, dass das nichts Gutes zu bedeuten hat. Leider kam ich zu spät, um es zu verhindern. Doch ich wollte sichergehen, dass keinem von euch etwas passiert war.«

      Ich war gerührt. Also war er nur gekommen, weil er sich Sorgen um uns machte. »Hast du die Jungen erkannt?«

      »Es waren die Jugendlichen aus der Gegend. Ich kenne ihre Namen nicht.«

      »Dann hat meine Tante ja recht gehabt.«

      Wahrscheinlich handelte es sich tatsächlich um die verspätete Rache für das Hausverbot im Desert Spring.Eine Sache wollte mir aber noch nicht in den Kopf.

      »Warum bist du so schnell weggerannt? Du hättest meiner Tante doch alles erklären können.«

      »Hätte sie mir auch nur ein Wort geglaubt?«

      »Natürlich!« Daran gab es für mich keinen Zweifel, doch Rin sah das offenbar anders.

      Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinanderher. Ich blickte mich immer wieder nach den Krähen um, und jedes Mal waren sie direkt hinter uns, saßen in einer Baumkrone oder auf dem Dach eines Hauses.

      »Ich weiß, was die Leute über mich denken. Sie halten mich für sonderbar. Und das bin ich vielleicht auch. Ich möchte keinen Ärger mit ihnen.«

      Ich erinnerte mich an Iras Worte. Er galt als Sonderling, als menschenscheu. Ich fragte mich, warum er dann ausgerechnet meine Nähe duldete. »Meine Tante hat nichts gegen dich, das kannst du mir glauben«, versicherte ich ihm.

      In diesem Moment setzte eine Krähe zum Sturzflug auf uns an. Ich erschrak dermaßen, dass ich sofort die Hände vors Gesicht schlug, um den heftigen Flügelschlag abzuwehren.

      »Alles ist gut«, beruhigte mich Rin.

      Vorsichtig nahm ich die Hände wieder herunter. Rin holte ein Stück Brot aus seiner Hosentasche, brach ein Stückchen ab und reichte es der Krähe, die auf seiner Schulter Platz genommen hatte.

      »Das ist unglaublich.« Ich hatte noch nie eine zahme Krähe gesehen. »Wie machst du das nur, sie scheint dir völlig zu vertrauen.«

      Er gab ihr einen weiteren Brocken, den sie mit der Klaue nahm und dann zum Schnabel führte, um daran zu knabbern. Eine zweite Krähe setzte sich, davon ermutigt, auf Rins andere Schulter. Auch sie bekam einen Leckerbissen.

      »Als ich ein kleiner Junge war und meinem Bruder sein Totem, der Bär, erschien, wollte ich auch ein Totem besitzen. Eines, das größer und mächtiger war als der Bär. Aber Vater sagte, dass nicht ich es bestimmen könne, sondern dass es mich erwählen und sich mir zu erkennen geben würde, wenn die Zeit dafür reif sei.

      Die Männer und Frauen meines Stammes haben eine alte Tradition. Sie gehen nach Hokatriri, dem Land der Steine, das ihr Badlands nennt. Dort fasten sie und bitten die Zorwaya um ein Zeichen. Wenn sie gnädig sind, senden sie ihnen ihr Totem in einem Traum.

      Viele Krieger hoffen auf ein Totem wie den Bären, das Pferd oder den Adler. Wir glauben, dass ihre Fähigkeiten auf uns übergehen. Doch jeder bekommt nur das Totem, das seinem Selbst entspricht.«

      Rins Stimme war tief und rau geworden, während er das erzählte. Ich bekam eine Gänsehaut, weil sie plötzlich fern, beinahe geisterhaft klang.

      »Es sind die Krähen, nicht wahr? Sie sind dein Totem.«

      Er nickte. »Als ich alt genug war, ging ich nach Hokatriri, wie es schon meine Vorfahren und mein Bruder getan hatten, setzte mich auf einen Felsvorsprung und wartete, bis mir das Zeichen geschickt würde. Die Sonne brannte heiß. Ich hielt es in meiner Kleidung nicht länger aus, streifte sie ab und streckte mich auf dem Stein aus. Normalerweise dauert es drei Tage und Nächte, manchmal sogar länger, ehe die Zorwaya die jungen Krieger erhörten. Doch zu mir waren sie gnädig. Eine Krähe erschien mir und setzte sich auf meine Brust. Sie sah so echt aus, dass ich glaubte, ihr Gefieder berühren zu können. Ich blieb liegen und spürte, wie ihre Kraft durch mich floss, wie sie und ich miteinander verschmolzen. Es war ein erhabenes Gefühl. Seit diesem Tag folgen sie mir.«

      »Welche Fähigkeiten hat die Krähe?«

      »Die Krähe ist das Totem des Cha-Bekum. Ihr würdet ihn Schamane nennen. Seine Fähigkeit ist die Spiritualität.« Er musterte mich sehr eindringlich und wartete auf eine Reaktion. Aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

      »Für dich klingt das wie ein Märchen. Hab ich recht, Stadtmädchen?«

      »Nein, eigentlich nicht.« Vielleicht hätte es so klingen müssen, das wäre zumindest vernünftig gewesen, aber ich war fasziniert von Rins Geschichte und seinem Wissen über die Geister. Ich wollte mehr über ihn und seine Welt erfahren.

      »Du bist also ein Schamane?«

      »Noch nicht. Ein langer Weg liegt vor mir. Manche sagen, es dauert ein Leben lang, um die Weisheit von zehn Kreisläufen zu erlangen. Ein Schamane aber braucht die Weisheit von hundert Kreisläufen.«

      »Das klingt, als sei es unerfüllbar.«

      »Es ist eine Lebensaufgabe. Aber nun weißt du, was es mit den Krähen auf sich hat. Sie tun mir nichts, und auch dir werden sie kein Haar krümmen.« Er warf das letzte Stückchen Brot in die Luft. Sofort breitete eine Krähe ihre Flügel aus und schoss hinterher, um es aufzufangen, bevor es zu Boden fiel.

      »Welchem Stamm gehörst du an?«

      »Wir nennen uns Ti’tibrin E’neya. In eurer Sprache heißt es Kinder der E’neya, der Gründerin und Urmutter unseres Stammes, welche die Männer und Frauen zu einer Sippe einte und uns den Weg der Natur lehrte.«

      »Von diesem Stamm habe ich noch nie gehört.«

      »Es gibt über fünfhundert anerkannte Stämme in den USA. Wie sollte ein Großstadtmädchen wie du sie alle kennen?«

      »Haha. Ich wünschte,


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