Augusta und ihr Dichter. Gerd Mjøen Brantenberg

Augusta und ihr Dichter - Gerd Mjøen Brantenberg


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miteinander überein. Und dann stimmt zumeist etwas mit dem äußeren Wissen nicht.“

      Als Frau Lindeman in Daviken angekommen war, wurde der Hof Frimannslund mit den Bergen und dem blanken, stillen Fjord zu einem Ort. Augusta konnte unten am Hang auf der Treppe zu einem der kleinen Pavillons stehen und zu dem großen weißen Holzhaus mit dem schönen Garten hochblicken und denken: Seltsam – daß das derselbe Ort ist, an dem ich angekommen bin. Er sieht ganz anders aus. Sie versuchte, sich an das Bild zu erinnern, das sie bei ihrer Ankunft gesehen hatte. Es gelang ihr nicht. Sie mußte sich den Anleger in Molde vorstellen, ihren Vater und Bjørnstjerne, die ihr zuwinkten, mußte in Gedanken mit dem Dampfschiff fahren und sich über den Fjord rudern lassen, und erst dann tauchte das erste Bild in ihr auf.

      Ich bin derselbe Mensch, dachte sie. Aber ich kann zwei ganz verschiedene Bilder desselben Ortes sehen. Wie sehr muß sich dann das Bild, das ein Mensch von einem Ort hat, von dem eines anderen Menschen unterscheiden. Wie unterschiedlich wir wohl alle möglichen Dinge sehen! Die Bäume dort, sogar den Himmel an einem Tag mit gutem Wetter, wenn man kaum mehr sagen kann, als daß er blau ist, und doch – obwohl alle sagen, gewiß, er ist blau – sehen wir Tausende unterschiedliche blaue Himmel. Über Frimannslund gab es also vierundzwanzig verschiedene blaue Himmel. Und außerdem noch die der Lehrerinnen und Lehrer.

      Im Religionsunterricht fragte eines Tages eine Schülerin: „Stimmt es, Frau Lindeman, daß Sie Ihren Mann durch ein Los bekommen haben?“ Daß Anna Uthus es wagte, eine solche Frage zu stellen, ließ allen die Wangen heiß werden. Die Mädchen schlugen die Augen nieder. Frau Lindeman war lieb und freundlich, aber es mußte doch Grenzen geben. Wie dumm, daß Anna einfach so damit herausgeplatzt war, auch wenn sie natürlich darüber getuschelt hatten. Schließlich waren sie nicht mehr sieben Jahre alt. Sie schwiegen lange.

      Frau Lindeman trat einen Schritt vor. Sie blickte über die Klasse, dann aus dem Fenster zum Himmel, der sich blau über den Bergkämmen wölbte. „Ja“, sagte sie. „So war es.“

      Dann setzte sie sich auf einen Tisch und zog ihre Röcke ein wenig hoch, so daß ihre Knöchel zu sehen waren. Sie legte die Hände übereinander, die rechte über die linke. Die Herrnhuter wollten gern Gottes Willen in Erfahrung bringen, erklärte sie. Wie es sich für gute Christen gehört. Und als junges Mädchen hatte sie mehrere Jahre bei der Brüdergemeinde in Christiansfeld verbracht. Das machten damals wie heute viele junge Mädchen. Und sie lernten, daß sie sich bemühen mußten, um Gottes Gebot zu erkennen. Man konnte nicht ein für allemal wissen, was richtig und was falsch war. Das Leben selber mußte die Menschen vor die Wahl stellen. Gott hatte dem Menschen einen freien Willen gegeben. Und dazu den Verstand, mit gutem Willen vorzugehen. Oder mit bösem. Doch selbst dann war immer noch Gottes Wille vorhanden. Denn Er wollte das Gute. Deshalb wurde bei den Herrnhutern gelost – denn in diesem Leben haben wir ohnehin keine Wahl. Wer entscheidet sich schon für das Paradies? Das hatten nicht einmal Adam und Eva getan. Gott hatte sie hineingesetzt. So war Sein Plan.

      „Das alles ist ein Mysterium“, sagte Frau Lindeman. „Ich bin nicht sicher, ob ich es selber verstanden habe. Daß Gott dem Menschen einen freien Willen gegeben hat, damit der Mensch Gottes Willen tut. Das ist ja eigentlich ein Widerspruch in sich. Er gibt uns den freien Willen, ohne ihn uns zu geben. Er hat einen Plan mit uns – aber wir müssen selber auch einen Plan machen. Nicht alles liegt in Seiner Gewalt, und doch liegt alles in Seiner Gewalt. Und an dieser Stelle wird das Los wichtig. Ich dachte“, sagte sie, „dann kann ich es auch dem Zufall überlassen, wer mein Ehemann werden soll, es ist ja auch ein Zufall, daß ich überhaupt auf diese Welt gekommen bin. Und dann wurde gelost, und das Los fiel auf Pastor Lindeman. – Ich kannte ihn damals noch nicht. Wir verlobten uns, ich fuhr wieder nach Hause und arbeitete eine Zeitlang als Lehrerin, dann heiratete ich Pastor Lindeman und kam hierher nach Daviken, wo er eine Pfarrstelle bekommen hatte. Und als er eines Tages in der Annexkirche war, versagte sein Herz. Ich hörte davon, ruderte sofort hinüber – aber es war zu spät.“

      Die Mädchen, die sie angestarrt hatten, während sie das alles erzählte, schlugen die Augen nieder. Sie hörten ein leises Zittern in ihrer Stimme. „Ich war sehr unglücklich.“ Sie räusperte sich. „Erst da begriff ich, wie sehr ich ihn liebte...“

      Hier legte sie eine Pause ein. Die Schülerinnen hörten, daß ihre Stimme zu versagen drohte. Einige schluchzten. Aber Frau Lindeman sprach weiter: „Es ist schon seltsam in diesem Leben – daß die stärksten Gefühle oft erst kommen, wenn das, was sie ausgelöst hat, bereits zu Ende ist. Erst jetzt verstand ich den Plan, den Gott bei der Auslosung gehabt hatte. Es war ein klares, starkes Erlebnis, das mich ihm näher brachte. Ich weiß nicht, ob ihr das verstehen könnt... Ich weiß nicht einmal, ob ich es selber verstehe. Aber so war es. Ich betete soviel zu Ihm, versuchte, in meiner Trauer Seinen Willen zu finden. Meine doppelte Trauer – denn ich hatte nichts, wofür ich leben konnte. Was sollte aus mir werden? Der Witwensitz der Pfarre war noch besetzt. Aber es mußte doch Gottes Wille sein, daß ich hier war? Konnte ich nicht das benutzen, was ich gelernt hatte? Ja, war das nicht meine Pflicht? Sollte ich aufgeben, nur weil ich eine Frau war? Hatte Gott mich nicht als Frau erschaffen? Ich hatte doch zusammen mit dem Pastor hier eine Schule gehabt. Warum sollte ich das nicht auch allein schaffen? Ich erkannte, daß das Los auch bedeutete, daß ich eine Schule für vierundzwanzig junge Mädchen eröffnen sollte.“

      Sie lächelte. „Damit ihr hier sitzen und mir solche aufdringlichen Fragen stellen könnt“, sagte sie streng.

      Alle atmeten erleichtert auf und liebten sie noch mehr als zuvor. Daß ein erwachsener Mensch so offen über sein Leben, über Schmerzen und Freuden sprechen konnte, das hatten die jungen Mädchen noch nie erlebt.

      „Es gibt so vieles, das sich für Damen nicht schickt“, sagte Frau Lindeman. „Eigenes Geld sollen sie zum Beispiel nicht verdienen.“ Sie erzählte, daß in Frankreich, das sie vor kurzem besucht hatte, Frauen gegen diese Ansicht rebellierten. Sie verlangten Stimmrecht für Frauen, wollten gleich viel erben wie Männer, studieren und ein Amt ausüben – ja sogar in der Nationalversammlung sitzen. Es sollte kein Privileg der armen Frauen bleiben, sich durch eigene Arbeit zu ernähren, während eine, die eine gute Partie machte, ihren Beruf aufgeben mußte. Das neue wohlhabende Bürgertum verurteilte seine Frauen zu Eleganz und Leere, sagten die Französinnen. Die armen Frauen, die arbeiten gehen mußten, beneideten sie und sahen nur die Eleganz, die Leere sahen sie nicht.

      Leere in einem Leben ist ja auch unsichtbar. Die anderen Menschen sehen Glitzern und Geld oder überhaupt nur den Erfolg der anderen. Doch wenn die „Erfolgreiche“ über ihr Unglück spricht, stößt das auf taube Ohren. Aber Frauen – egal ob arm oder reich – müßten endlich einsehen, daß, wie man die Sache auch dreht und wendet, die Männer auf den Geldsäcken sitzen und das nun wirklich keinen Sinn hat.

      Die Frauen, die so dachten, nannten sich Feministinnen, erzählte Frau Lindeman. Das war ein ziemlich neues Wort. Ihr Widerstand hingegen war nicht neu. Bei der großen französischen Revolution hatten die Frauen versucht, als Teil des dritten Standes sich am Aufruhr gegen die Adelsherrschaft zu beteiligen, aber die Männer, die sich für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit einsetzten, hatten ihre Schwestern nicht dabeihaben wollen. Und das wollten sie auch jetzt nicht.

      Die Mädchen hörten gespannt zu und machten große Augen. „Meinen Sie, im norwegischen Parlament werden irgendwann auch Frauen sitzen, Frau Lindeman?“

      Auch diese Frage stammte von Anna Uthus. Einige Mädchen kicherten. Und redeten drauflos. Wie wäre es mit einer Ministerin? Einer Botschafterin? Einer Admiralin?

      „Ihr lacht!“ sagte Frau Lindeman laut und lächelte selbst. „Aber wenn eine Frau Königin sein kann, warum sollte sie nicht zur Admiralin oder Ministerin taugen?“ Wann? Wann? wollten die Mädchen wissen. Ob sie das noch erleben würden? Frau Lindeman überlegte. „Ich werde es wohl nicht mehr erleben, aber vielleicht haltet ihr ja so lange durch...“

      Zu Weihnachten sorgte Frau Lindeman dafür, daß sie sich wie zu Hause fühlten. Sie schmückten das Haus und backten, es wurde geschlachtet, alle halfen mit. Nach dem Gottesdienst am Heiligen Abend wollte sie sich an eine Sitte halten, die sie in Deutschland kennengelernt hatte. Alle setzten sich in den dunklen Speisesaal und faßten einander an den Händen. Die Tür zum Weihnachtszimmer


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