Augusta und ihr Dichter. Gerd Mjøen Brantenberg
Bjørnstjerne. „Ich weiß nicht, ich kenne ihn nicht“, antwortete der Vater. „Nein, ich auch nicht, aber er ist ein Schafskopf“, lachte Bjørnstjerne. Sein Blick streifte Augusta. Er erzählte von seinem Artikel. Von dem hatten sie auch in Oppdal gehört. „Ja, wie hieß der denn noch gleich? Die Stimme der Revolution bei der Bevölkerung von Molde? Hast du da nicht ein bißchen übertrieben?“ – „Nein, nein, nein. Wenn ihr doch nur ein bißchen länger hierbleiben könntet...“ Wieder sah er zu Augusta hinüber, um sie ins Gespräch einzubeziehen. „Dann würde ich ihn euch vorlesen. Er ist gut. Er ist wirklich gut.“ Er lachte kurz, wie um anzudeuten, es sei dumm, sich selber so zu loben, und andererseits doch nicht nur dumm. Augusta mußte lachen. „Lachst du über mich?“ fragte er. „Nein, gar nicht.“ – „Du bleibst ein Jahr lang weg?“ – „Mm.“ Sie schluckte. „Sei nicht traurig, es wird dir sicher gefallen.“ – „Wie lange bist du schon hier?“ fragte sie, um das Gespräch von sich abzulenken. „Im Sommer waren es fünf Jahre. Aber bald ist Schluß. Und dann werde ich wohl in die Hauptstadt gehen.“
Die Zeit verstrich bei dieser Plauderei sehr schnell, und als ihnen aufging, wie spät es war, mußten sie zum Anleger rennen. Im Gewühl verloren sie sich aus den Augen. Bald darauf saß Augusta auf dem Schiffsdeck und war von fremden Menschen umringt. Ihr kamen die Tränen. Sie war zum ersten Mal ganz allein auf der Welt und kam sich sehr verloren vor. Dann stand plötzlich ihr Vater vor ihr. Er bahnte sich einen Weg durch das Gewimmel am Anleger und erzwang sich den Zugang zum Schiff. In der Hand trug er eine große Tüte mit Gebäck. „Die mußte ich einfach noch schnell kaufen“, sagte er und reichte sie ihr. „Ach, Vater!“ rief sie und schlang ihm die Arme um den Hals. Und dann mußte er wieder von Bord, weil die Schiffssirene ertönte.
Jetzt verlor sie ihn nicht mehr aus den Augen. Er stand ganz vorn und schwenkte ein großes Taschentuch und warf ihr mit beiden Händen Kußhände zu. Bjørnstjerne stand neben ihm, er nahm seine Mütze ab, winkte, verbeugte sich und winkte wieder. Unter Tränen mußte sie lachen. Um den Bug schäumte das Wasser auf. Der Streifen Wasser zwischen Boot und Land wurde immer breiter. Die Schaufelräder warfen weiße Gischt hoch. Sie war noch nie auf einem Schiff gewesen. Das war viel erbarmungsloser als Wagen, die sich langsam auf der Straße entfernten. Zwischen ihr und den Menschen im Hafen klaffte plötzlich eine beängstigende Tiefe. Sie blickte zurück und winkte, während ihr die Tränen über die Wangen liefern. Bald konnte sie die beiden nicht mehr von den anderen unterscheiden. Sie war allein.
Die Gegend am Ufer war schön. Eine schönere Landschaft hatte sie noch nie gesehen. Berggipfel in Reih und Glied, die aus dem Wasser aufzuragen schienen. Sie waren so anders als die Berge daheim. So hell. Alles war hell. Endlich befand sie sich mitten in der hellblauen Welt, die sie in Waslæggen vom Schoß ihrer Großmutter aus gesehen hatte.
Der Hof Frimannslund in Daviken lag zwischen Linden an einem langgestreckten, zum Wasser abfallenden Hang, dahinter ragten gewaltige Berge auf. Ein Obstgarten umgab das Hauptgebäude, an der Böschung zum Fjord gab es Obststräucher, in Terrassen angelegte Blumenbeete, Pavillons mit Sitzbänken. Vor einigen Jahren hatte die Witwe des Pastors Jakob Andreas Lindeman das Anwesen gekauft und ihr Pensionat für vierundzwanzig junge Mädchen eingerichtet.
Augusta verließ das Schiff bei Moldøen, wo eine der Lehrerinnen des Pensionats sie erwartete. Sie übernachteten bei Witwe Ravn auf Sæternes, beide Damen waren sehr nett zu ihr, sie durfte im Garten Beeren essen und weinte ansonsten die ganze Zeit. Die Damen gaben ihr Papier, Feder und Tinte, damit sie nach Hause schreiben konnte. Sie schrieb an ihren Vater und erzählte ihm, wie entsetzlich alles sei und wie sehr sie sich nach Oppdal zurücksehne.
Am nächsten Tag ruderten sie vier Stunden lang über den Fjord, bis sie schließlich an einem Anleger abgesetzt wurden und zum Hof Frimannslund hinaufblicken konnten.
Das Gut war bei ihrem Eintreffen wie verwaist. Aber nach und nach füllte sich das Haus mit Mädchen aus allen Ecken des Landes. Die Mädchen brachten Hüte und Seidenbänder, Koffer und feine Kleider mit weiten Ärmeln und Spitzen mit, sie begrüßten einander lauthals auf Französisch, tauschten Umarmungen und lachten, und unter gewaltigem Lärm wurden die Plätze im Schlafsaal verteilt. Viele besuchten das Pensionat seit mehreren Jahren und kannten einander gut, alle mußten erzählen, was sie in den Ferien erlebt hatten, und fanden hoffentlich zumindest eine halbe Zuhörerin, sie hoben gegenseitig die Röcke hoch, lobten die Stoffqualität, klatschten in die Hände und sagten: „Nein, wie reizend!“ Ich komme wirklich aus einem Gebirgskaff, dachte Augusta. Zu Hause war zumeist sie diejenige mit den schönsten Kleidern, und nie kam es vor, daß niemand darauf achtete, daß sie zugegen war. Abends schrieb sie nach Hause und hielt sich für den unglücklichsten Menschen auf der Welt.
Aber schon bald lernte sie die weltgewandten jungen Damen kennen. Und die stellten fest, daß Augusta einiges bereits konnte, was sie noch lernen sollten, und sie reichten ihr unter den Tischen ihre Tafeln, um sich von ihr die Dreisatzaufgaben lösen zu lassen. Wenn drei Tonnen Getreide einen Schilling und drei Ort kosteten, was kosteten dann fünf? Augusta rechnete bereitwillig alles aus und ließ die Tafeln zurückgehen. In Französisch dagegen brillierten die anderen, und Augusta mußte mit leeren Händen anfangen. Eines Tages zeigte in Lehrer Danielsens Erdkundestunde Marie Olsen aus Molde auf und sagte: „Augusta Mjøen kann Frankreich zeichnen.“
Und nun mußte sie an die Tafel. Sie zeichnete das Land so, wie sie es von Iver Bjerkager gelernt hatte, mit Flüssen und Bergen und dem runden Golf von Biskaya. Alle schauten gespannt zu. Als sie fertig war, sagte Danielsen: „Du meine Güte! Kannst du auch noch andere Länder? Italien vielleicht?“ Seine Begeisterung ließ ihre Leistung noch größer erscheinen. Augusta zeichnete den langen, schrägen Stiefel mit dem Apennin in der Mitte, dem Po, dem Tiber und dem Arno, einem Punkt für Rom, Sizilien ganz unten, und sicherheitshalber zeichnete sie auch noch Korsika und Sardinien ein. Alle staunten. „Phantastisch! Das sieht ja ganz echt aus!“ rief Anna Uthus aus Bergen. „Weißt du, wer dort geboren ist?“ fragte Danielsen und tippte mit dem Zeigestock auf Korsika. „Da sind viele geboren, aber Sie meinen sicher Napoleon“, sagte Augusta ernsthaft. Alle lachten. „Aber wie sein Geburtsort heißt, weißt du nicht!“ sagte Danielsen.
„Ajaccio“, sagte Augusta.
An diesem Abend fiel keine Träne auf ihren Brief nach Hause. Und eines Tages tauchte dann die Pensionatsleiterin auf. Sie hatte einen längeren Auslandsaufenthalt hinter sich, kam hereingefegt, schlank und schön, begrüßte alle und hatte für jede ein freundliches Wort. Sie kannte alle Namen, wußte, woher die Schülerinnen kamen, und vor allem mit der Neuen unterhielt sie sich ein Weilchen.
Die vierundzwanzig jungen Mädchen erfuhren von vielen Phänomenen ihrer Zeit und noch mehr aus der Vergangenheit. Sie lernten Französisch, Deutsch, Englisch, Musik und Erdkunde, sie hörten von altnordischen und griechischen Göttern, von Odysseus’ Reise über das Meer, von Ymer, aus dessen Haaren Bäume geworden waren, aus seinem Fleisch Erde, aus den Knochen Berge, aus dem Blut das Meer und aus seinem Schädel der Himmel. Sie machten sich mit dem Römischen Reich vertraut, und einige lernten sogar, den Preis dieser ewigen fünf Tonnen Getreide zu berechnen. Handarbeit hatten sie natürlich auch, aber sie durften niemals einfach nur stricken oder nähen. Eine von ihnen mußte immer die Handlung des Romans erzählen, den sie gerade las, ohne dabei ins Buch schauen zu dürfen. In der Regel lasen sie Romane von Walter Scott und sollten die in eigenen Worten wiedergeben. Die Erzählerin sollte Ivanhoe sein, der als unbekannter Ritter das Turnier gewinnt und die Aufmerksamkeit der schönen Lady Rowena erweckt. Oder sie sollte die arme Jeannie sein, die vor der Königin von England auf die Knie fällt, um ihre Schwester vor dem Schafott zu retten.
Das alles war höchst anregend, und sie machten aus ausgewählten Abschnitten der Bücher kleine Schauspiele. Dadurch lernten sie die einzelnen Schicksale besser kennen, sagte Frau Lindeman. „Sich in andere Menschen hineinversetzen zu können, ist die wichtigste Quelle der Weisheit. Alle verfügen über ein inneres Wissen“, sagte Frau Lindeman. „Das Wissen besteht aus dem, was sie selber hier auf der Welt erlebt haben, aus den Bergen, an deren Fuß sie aufgewachsen sind, den Tieren, die sie gekannt haben, aus Mutter, Vater und Geschwistern und allem, was nur sie gesehen haben, denn nur sie standen in einem bestimmten Moment an einer bestimmten Stelle. Das ist ihr Wissen, das sind ihre inneren Kenntnisse. Lernen bedeutet, dieses Wissen mit