Augusta und ihr Dichter. Gerd Mjøen Brantenberg

Augusta und ihr Dichter - Gerd Mjøen Brantenberg


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sich auf die Hinterbeine und heulte. Wenn zum Essen geläutet wurde, heulte er noch mehr. Er gab einfach keine Ruhe. Hektor war im ganzen Tal zu hören. Nach einigen durchheulten Tagen kam ein Schneehuhnjäger vorbei. Er nahm Hektor mit, und dann hörten sie irgendwo im Wald einen Schuß fallen.

      Die Nachricht verbreitete sich im Dorf, und schon bald hieß es, der Knecht Ivar habe gesehen, daß die Lensmannsfrau den Wolf zu sich gelockt habe. Die Dorfbewohner stellten sich vor, wie Frau Mjøen in der Küche Amok lief, Stühle und Bänke und Tische umstieß, sich auf den Boden fallen ließ und schrie, während der Wolf dastand und sie verdutzt anglotzte. Über dieses Bild mußten sie herzlich lachen. Als das Thema ausgiebig durchgekaut und vorwärts und rückwärts und für alle Neuankömmlinge noch einmal beschrieben worden war, als man sich immer wieder ausgeschüttet hatte vor Lachen, fragte jemand, ob nicht die Pastorin das eine oder andere aus ihrem Haus vermißt habe, damals, als Helene sich verlobt hatte? Einen oder zwei silberne Löffel vielleicht? „Einen Tortenheber!“ erklärte der Schmied fest. Und das entschied den Fall. Wenn er es so genau wußte, dann mußte es stimmen. Und fehlten nicht oft ein Wurstende oder ein Stück Speck, wenn die Lensmannsfrau einen Besuch gemacht hatte? Doch, das traf zu. Aber mehr ließ sich darüber nicht sagen. Mehr ließ sich absolut nicht sagen.

      Augusta saß weinend hinter dem Schafstall. Es war mehrere Wochen her, daß der Jäger Hektor erschossen hatte, und sie konnte nicht begreifen, wo er jetzt wohl war. Als sie zum Abendessen nicht ins Haus kam, hatte der Vater sie bald gefunden. „Aber Augusta, kleines Knöpfelchen“, sagte er. „Hier sitzt du also?“ Denn er nannte sie „Knöpfelchen“, seit er nach dem Tod des kleinen Bruders das Spiel mit den Zehen angefangen hatte. Er nahm sie auf den Schoß. „Denkst du an Hektor?“ – „Ja“, sagte sie, erleichtert, weil er das verstanden hatte, obwohl sie nicht begreifen konnte, wie er in ihren Kopf hineingeschaut hatte. Er schmiegte seine Wange an ihre. „Weißt du, Hektor ist jetzt im Himmel, zusammen mit Ulfhild, seinem Schwesterchen, das er immer vermißt hat, als er noch hier auf der Erde war.“ – „Wirklich?“ – „Ja.“

      Sie saßen eine Weile wortlos zusammen, an diesem stillen Maiabend. Alles um sie her war jetzt so schön. Grüne Keimlinge und ganz kurzes Gras, das aus dem Boden lugte und so gern leben wollte.

      „Gibt es einen eigenen Wolfshimmel?“ fragte sie.

      Ihr fiel auf, daß er nicht sofort antwortete.

      „Nein“, sagte er dann entschieden. „Die Wölfe kommen in denselben Himmel wie wir.“

      „Auch Wolfsrudel? Die aus den Bergen?“

      „Ja, auch Wolfsrudel. Im Himmel sind sie zahm, verstehst du, genau wie Hektor das war.“

      „Aber nur die Seele ist da oben. Sein Fell mußt du als Mantel nehmen.“

      „Was?“

      „Ja. Du brauchst einen warmen Pelz, wenn du ins Dovregebirge fährst. Das sagt Mutter.“

      Er erstarrte. Hektor als Mantel zu nehmen, kam ihm vor, wie aus einem Hund einen Bettvorleger zu machen.

      „Meinst du wirklich?“ fragte er.

      „O ja!“ sagte sie. „Er wird sich da oben so freuen, wenn er das sieht!“

      „Meinst du wirklich, Knöpfelchen?“

      „Ja.“

      Eine tiefe, unerklärliche Wärme breitete sich in ihm aus. Er drückte das Kind an sich und ließ sein Kinn auf ihrem Köpfchen ruhen. Noch am selben Tag schickte er einen Boten zu dem Schneehuhnjäger, der Hektor noch nicht verkauft hatte, und ließ sich den Pelz mehrerer Tiere bringen, das reichte für einen knöchellangen Wolfsmantel. Auf diese Weise sollte der Wolf Hektor den Lensmann bis an dessen irdisches Ende begleiten.

      4. Kapitel

      Jon Mjøen spielte mit dem Gedanken, in Kristiania sein juristisches Staatsexamen abzulegen. Bisher hatten alle Examensprüfungen in lateinischer Sprache stattfinden müssen, seit neuestem jedoch war auch Norwegisch erlaubt. Ein neues, liberaleres Strafgesetz wurde ausgearbeitet, große, wichtige Reformen standen bevor, über die er sich informieren mußte. Seine Frau ermunterte ihn zu diesem Entschluß, sie wollte mit ihm in die Hauptstadt gehen. Er behauptete, Zeit für sich zu brauchen, er mußte schließlich büffeln. Ein etwas unangenehmer Wortwechsel endete damit, daß er das erste Jahr dort allein verbringen sollte, im folgenden Herbst würde er seine Familie holen kommen.

      „Und dann holst du nicht drei, sondern vier“, sagte Helene. Er starrte sie an. „Bist... bist du in Hoffnung?“ fragte er dumm. „Ja“, antwortete sie. „Und mach jetzt kein Gesicht, als ob du damit nichts zu tun hättest.“ Er machte trotzdem weiterhin ein dummes Gesicht. Er freute sich über die Maßen. „Aber... ich meine... wann ist es denn soweit?“ Sie sagte, vermutlich im September, denn sie glaubte, das Kind um die Weihnachtszeit empfangen zu haben. „Am Heiligen Abend?“ rief er.

      Sie tauschten leicht verlegene Blicke. Dann prusteten sie los. Sie wußten noch genau, wie sie die Heilige Nacht begangen hatten, nachdem die Kerzen gelöscht worden waren. Augusta und Hansemann kamen angestürzt. „Warum lacht ihr? Warum lacht ihr?“ Sie erklärten, daß ein neues Kind erwartet werde.

      Und das sollte witzig sein? Wunderbar war das. Aber witzig? Wieder lachten die Erwachsenen über etwas sehr, sehr Ernstes. Ein neues Kindchen? Ein Schwesterchen oder ein Brüderchen? Und das war ein Grund zum Grinsen? Augusta mußte fragen. Die Eltern kicherten wie die Backfische und sahen auf ihre Kinder hinab. „Nein, wir haben gelacht... hm... hm, weil... nein... nein, es war am Heiligen Abend, und... nein, das versteht ihr nicht, Kinder, wir erklären es euch, wenn ihr erwachsen seid.“

      „Dann müssen wir aber schrecklich lange warten, nur um einmal lachen zu können“, sagte Augusta empört.

      Über diese Beschwerde lachten die Erwachsenen noch heftiger. Und zehn Monate später traten alle Bewohner von Oppdal vor ihre Häuser und winkten. Nicht jeden Tag verließen so hochgestellte Personen die Gegend für ein ganzes Jahr. Sie standen am Königsweg und winkten und lächelten. Viele waren von weither gekommen, um sich zu verabschieden. Mjøen war jetzt candidatus juris, und sein Bruder Even vertrat ihn als Lensmann. Alle wünschten ihm eine gute Reise. Die Lensmannsfamilie winkte zurück. Jon Mjøen trug Uniform, die anderen neue Reisekleider. Augusta lächelte allen voller Stolz zu, sie wurde bald sieben, der fünfeinhalbjährige Hansemann saß neben ihr, die neugeborene Fredrikke hatte die Mutter auf dem Schoß. Und alle konnten sehen, daß schon das nächste Kind unterwegs war. Die Rückkehr des Lensmanns um die Weihnachtszeit hatte Früchte getragen.

      „Ja, ich habe das ja schon damals zu Frau Bjørnson gesagt, als sie Peter erwartete und fast mitten in der Familiengeschichte niedergekommen wäre, daß schwangeres Vieh geschont wird, aber bei Frauenzimmern es ganz anders zugeht“, sagte Helene. Der Lensmann sagte nichts dazu. Sie hatte ja unbedingt mitkommen wollen. Entweder komme sie mit, hatte sie gesagt, oder er solle sich nicht darauf verlassen, sie bei seiner Rückkehr noch vorzufinden. Wenn er allein fuhr, welche Garantie hatte sie dann, daß er sich nicht nach Amerika absetzte? Das schien unter den Mannsbildern doch die neue Mode zu sein. Auch dazu hatte er nichts gesagt. Tatsache war, daß dieser Gedanke ihm schon gekommen war, es war schließlich so häufig von dem grünen Land dort drüben die Rede, aber natürlich würde er solche Gedanken niemals in die Tat umsetzen. Wie sie ihre Drohung, einfach zu verschwinden, ausführen wollte, blieb unklar. Woher sollte sie die nötigen Mittel nehmen? Manchmal sagte sie wirklich ziemlich wirklichkeitsferne Dinge. Aber er wollte sich nicht mit ihr streiten, schon gar nicht, während sie auf der Hauptstraße durch das Dorf fuhren und alle lächelten.

      „Ich kann nur sagen, daß du noch nie so schön warst“, sagte er schließlich.

      Das wirkte. „Ich komme mir vor wie eine Kuh in Seenot“, sagte sie geschmeichelt.

      Augusta trug eine neue Schürze und neue Schuhe und betrachtete die dunkelgelben Kornfelder. Sie wußte nicht immer, ob die Eltern sich stritten oder scherzten. Wichtig war zumeist der Tonfall, nicht die Worte. Sie verstand jetzt die meisten, und sie konnten entsetzliche Dinge bedeuten, doch der Tonfall konnte ihnen auch einen angenehmen Sinn


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