Augusta und ihr Dichter. Gerd Mjøen Brantenberg
ihrem vierten Kind hochschwanger. „Ja, Kühe werden nicht die Landstraße entlanggeschleppt, wenn sie kalben sollen, aber für uns Frauenzimmer gelten offenbar andere Regeln“, sagte die Lensmannsfrau. Frau Bjørnson lachte und meinte, Helene solle sich keine Sorgen machen, der Junge würde nicht vor Ende des nächsten Monats auf die Welt kommen, ja, sie spüre, daß es diesmal ein Junge sein würde. Helene seufzte erleichtert. Das Wochenbett würde ihnen also erspart bleiben. „Wie schön für dich, daß du zu Hause niederkommen kannst“, sagte sie nur. „Ja. Weißt du, ich freue mich ja so! Ein Haus am Wasser! Kannst du dir das vorstellen? Ach, das Meer hat mir ja so gefehlt!“ Sie legte sich ins Bett und lobte die bestickte Bettdecke, das wunderschöne Blumendekor mit Girlanden an Türblättern und Gesimsen, den blauen Himmel über dem Bett und die Bilder an den Wänden. Ihr entging nichts. „Und seit dem letzten Mal bist du richtig fein und dick geworden“, rutschte ihr heraus.
Die Männer unterhielten sich derweil über die erbärmliche Kartoffelernte. Im vergangenen Sommer waren die Kartoffeln dreimal im Boden erfroren. Vielerorts herrschte Not. Es hatte viele strenge Winter hintereinander gegeben. In einem Jahr hatte es so heftig geschneit, daß der Schnee noch im Juni mannshoch gelegen hatte, erzählte der Lensmann. Die Bauernfamilien auf den Höfen waren zum Schneeräumen verpflichtet, aber in diesem Jahr hatten sie sich geweigert. Diese Pflicht gelte nur im Winter, behaupteten sie.
„Ja, das ist typisch für die Leute hier“, sagte der Pastor und erzählte, daß er in Kvikne einige anstrengende Jahre verbracht hatte. Eines Tages hatte er den stärksten Mann aus dem Dorf die Treppe hinunterwerfen müssen. Der Mann hatte behauptet, der Pastor sorge nicht dafür, daß die Gemeinde in der Furcht des Herrn lebe. Also mußte der Pastor ihm zeigen, wer der Stärkere war. Und der Dorfriese verlor kein Wort mehr über die Furcht des Herrn. „Das Pfarrbüro liegt nämlich im ersten Stock“, erklärte Bjørnson.
„Aber ich streite mich wirklich nicht gern“, fügte er hinzu und sah dem Lensmann munter in die Augen. „Das Leben ist doch selber schon ein Streit!“ „Ja“, antwortete der Lensmann mit weicher Stimme und schlug die Augen nieder. „Das Leben ist... Kampf und Streit.“
Der Lensmann verlor sich in Gedanken, und Bjørnson verbreitete sich über die Dampflokomotive. Wie er zu diesem Thema übergegangen war, blieb unklar. Er sprach von der gewaltigen Entwicklung in England. „Diese kleine Insel wird noch den ganzen Erdball unterwerfen. Man muß sie bewundern. Denen gelingt wirklich alles. Sie haben Napoleons Heer mit Uniformen versorgt. Stell dir das vor! Sie haben an den Kleidern ihrer Feinde verdient. Sie sind schlau. Und bald werden sie die halbe Welt mit Eisenbahnlinien versorgen.“
Der Lensmann nickte und paffte seine Meerschaumpfeife, während Bjørnsons Worte sich überschlugen. „Ja, in England können sie Eisenbahnlinien bauen, da gibt es ja nur Wiesen und kleine Hügel, aber es wäre bestimmt ein Kampf, eine Bahnlinie durch das Drivatal zu bauen. Ich werde das nicht mehr erleben“, sagte der Lensmann.
Als der Pastor das Wort „Kampf“ nicht aufgriff, sondern sich über die kommunale Selbstverwaltung äußerte, wußte der Lensmann, daß dies ein sprunghaftes Gespräch war, ohne roten Faden, und gastfreundlich sprang er zwischen den tausend Dinge, über die man reden konnte, mit umher.
Bjørnstjerne jagte hinter Augusta her zum Vorratshaus. „Warum rennst du denn so?“ rief er. „Warum rennst du so?“ gab sie zurück. „Du bist so dunkel!“ rief er. „Du bist so hell“, sagte sie. Und dann hatte er sie eingeholt und wollte sie fangen.
Er warf sich im Schnee über sie und packte ihre Ärmchen mit festem Griff, der ein bißchen wehtat. Sie versuchte, sich loszureißen. Er ließ ein wenig locker, aber nicht ganz. „Da, wo ich herkomme, gibt es Wölfe“, sagte er. „Hier auch“, sagte sie. „Wirklich? Wo? Zeig sie mir!“ – „Wir haben einen in der Küche“, sagte sie. Jetzt ließ er sie endlich los. Und schaute ihr in die Augen. „In der Küche? Ihr habt einen Wolf in der Küche?“ – „Ja“, sagte sie.
Der Junge stürzte zum Haus und in die Küche, aber die war leer, und er rannte ins Wohnzimmer weiter und schrie dabei: „Der Wolf! Der Wolf! Onkel Mjøen – hast du den Wolf gesehen?“ Doch ehe Mjøen antworten konnte, hatte der Pastor den Jungen am Ohr gepackt. Der Wicht stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Druck zu erleichtern. „Was soll der Unfug? Willst du den Leuten Angst einjagen?“ Augusta, die hinterhergerannt war, starrte ihn und den Jungen an. Faßte sich ans Ohr, als ob es dem Jungen dann weniger wehtäte. Der Vater ließ ihn los. Sofort machte Bjørnstjerne sich wieder über den Lensmann her.
„Stimmt das? Hast du einen Wolf? Wo steckt der?“
„Doch, doch“, war die Antwort. „Sicher habe ich einen Wolf. Kommt, dann zeige ich ihn euch.“ Peder Bjørnson machte große Augen. „Hast du wirklich einen Wolf?“
Alle gingen in den Schuppen, wo Hektor ein Nickerchen machte, und sahen ihn sich an. Er sprang auf und kam schwanzwedelnd auf den Hausvater zu. Der Lensmann streichelte ihn, und Hektor fiepte, leckte ihm die Hand und sprang an ihm hoch.
Als alle nach dem Essen im großen Zimmer saßen, erzählte der Lensmann, wie er an den Wolf gekommen war und wie brav der sich immer verhalten hatte – abgesehen von dem Mal, als er sich den Hahn geschnappt hatte. „Wölfe sind freundliche Tiere“, sagte er. „Ganz anders, als man meinen möchte, wenn man sie im Wald heulen hört. Hektor liebt uns fast noch mehr, als wir uns selber lieben, denn wir sind sein Rudel, und niemand darf uns etwas tun.“ Alle murmelten verwundert und anerkennend vor sich hin. „Wartet nur“, sagte seine Frau. „Der liebt uns so sehr, daß er uns noch alle auffrißt.“ – „Das kann nicht sein“, erwiderte ihr Mann. „Aber der Hahn ist zu Suppe geworden, den haben wir gegessen.“ Da hörten sie ein Schluchzen. Augusta hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte. „Sie ist immer so traurig, wenn wir erwähnen, daß Napoleon zu Suppe geworden ist“, erklärte der Lensmann. Bjørnstjerne lief zu Augusta, nahm ihre Hände und sagte: „Nicht weinen, Kindchen.“
Wieder lachten die Erwachsenen.
Am nächsten Morgen, noch ehe die anderen aufgestanden waren, liefen die beiden ins halbfertige Gerichtshaus. Sie sprangen von Balken zu Balken, und wieder wollte er sie fangen. Ihr war noch nie ein so ruheloser Junge begegnet. Er redete die ganze Zeit, während er herumtobte. Im neuen Dorf würde er eine neue Hose und einen Hut und einen Mantel bekommen. Sie kannte ein Versteck, von dem er nichts ahnte, und schwupp, war sie verschwunden. Er fand sie in einem Hohlraum zwischen Brettern, kroch zu ihr hinein und lachte. „Mir ist noch nie eine wie du begegnet“, sagte er. Sie sah ihn an. Sie war doch nichts Besonderes? „Aber mir ist überhaupt noch nie ein Mädchen begegnet, da, wo ich herkomme, gab es keine“, fügte er hinzu. „Und auch keine Jungen. Da gab’s nur mich.“ – „Wie heißt du eigentlich richtig?“ – „Das habe ich doch gestern schon gesagt!“ – „Nein, du hast nur Bjørnstjerne gesagt.“ – „Ich heiße Bjørnstjerne“, erklärte er. „Ich bin am 8. Dezember unter dem Sternbild Großer Bär geboren. Aber ich heiße auch noch Martinius.“ – „Ach so“, sagte sie beruhigt. „Ich heiße Ingeborg Augusta. Nach meiner Großmutter auf Waslæggen und einer Prinzessin in einem Land, das Preußen heißt.“ – „Es gibt kein Land, das Preußen heißt“, sagte er. „Doch.“ – „Nein.“ – „Doch.“ – „Naja, vielleicht.“ – „Warum hast du einen Strich auf der Stirn?“ – „Das heißt nicht Strich, das heißt Narbe“, erklärte er stolz. Und dann erzählte er eine lange Geschichte von dem Pferd, das ihn mit dem Huf an der Stirn getroffen hatte, und er hatte so geblutet, daß er am Ende überall rot gewesen war. „Hast du deshalb rote Haare?“ fragte Augusta. Nein, die hatte er immer schon gehabt, meinte er, aber ein bißchen röter waren sie wohl doch geworden.
Gleich darauf hingen beide an einem Balken.
„Ich habe solche Angst vorm Sterben“, sagte er.
Augusta blickte ihn erschrocken an. Sie fühlte sich ganz seltsam und leer. Wie er so mit dem Kopf nach unten neben ihr hing, den Mund verkehrt herum, sah er plötzlich sehr krank aus. Der ganze helle Junge schien erloschen zu sein. „Mußt du sterben?“ fragte sie. „Ja“, sagte er. „Du nicht?“
Der Lensmann stand auf der Treppe und schaute über die verschneiten