Augusta und ihr Dichter. Gerd Mjøen Brantenberg

Augusta und ihr Dichter - Gerd Mjøen Brantenberg


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doch immer noch in seiner Wiege?“ fragte sie dann und wollte vom Schoß ihres Vaters springen und wieder nach ihrem Brüderchen sehen. Der Vater hielt sie zurück. „Ja, er liegt noch immer in der Wiege. Aber das ist nur sein Körper. Seine Seele hat den Körper schon verlassen. Und sie hat jetzt Flügel.“ – „Ach!“, sagte Augusta. „Kann er sich deshalb nicht bewegen?“ – „Ja“, antwortete der Vater.

      Er wärmte ihre Füßchen in seinen breiten Händen. Ihre Strümpfe waren feucht, er zog sie ihr aus und rieb ihre bloßen Füße. Dann nahm er ihren großen Zeh und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger fest. „Zeh-Zehe“, sagte er. Es kitzelte. Sie keuchte vor Entzücken, zog den Fuß zurück und streckte ihn dann wieder vor. Ihr Vater wandte sich dem nächsten Zeh zu. „Zehzille“, sagte er und kniff hinein. Sie lachte. Wollte seine Hand wegschieben, es kitzelte so, aber es war auch witzig, und deshalb ließ sie ihn weitermachen. „Zählerosa“, sagte er und hatte schon den mittleren Zeh erwischt. Augusta schaute ihre Zehen an. Die sahen aus wie kleine Menschen. So seltsam und unterschiedlich – jeder mit seinen kleinen Gedanken über das, was jetzt passieren würde. Jetzt wartete der Zweitkleinste. Er krümmte sich und freute und gruselte sich zugleich, als der Vater danach griff. „Knöpferosa“, sagte der Vater und schüttelte den Zeh so lange, bis der begriffen hatte, daß er Knöpferosa hieß. Und schon hatte der Vater den kleinen Zeh erwischt und schüttelte ihn herzlich. „Und das kleine Knöpfelchen“, sagte er.

      Jetzt lachten sie beide laut. Das war wirklich das Allerwitzigste. Daß der Vater beim kleinen Knöpfelchen ankam. Sie legte ihm die Arme um den Hals und streichelte immer wieder seinen kurzen Kinnbart. Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke. „Darf ich das mal bei dir probieren, Vater?“

      Der Lensmann zog Stiefel und Strumpf aus und legte sich aufs Sofa. Seine Zehen waren so groß und viel dicker als ihre Finger, aber energisch packte sie den größten, schüttelte ihn gründlich und sagte: „Zeh-Zehe.“ – „Ooooo! Ho, ho, ho“, der Lensmann lachte laut. „Zehzille“, sagte Augusta. „Runter mit dir, Fuß“, befahl sie dann. Der Fuß gehorchte. „Zählerosa“, sagte sie glücklich und streng und schnappte sich den mittleren Zeh. „Knöpferosa! Und das kleine Knöpfelchen!“ rief sie und schüttelte den riesigen kleinen Zeh ihres Vaters aus Leibeskräften. Gleich darauf lag sie in seinen Armen auf dem Sofa, und sie lachten und lachten, weil es so schrecklich gekitzelt hatte. Doch dann trat die Mutter in die Tür. Sie blieb dort stehen und musterte die beiden.

      „Ihr lacht?“ fragte sie.

      Der Lensmann stellte Augusta auf den Boden und setzte sich auf. Er gab keine Antwort. Die Mutter blieb stehen. Wartete auf Antwort. Augusta wagte nicht, sich zu bewegen.

      „So ist die Trauer eben“, sagte der Lensmann leise.

      Die Mutter rief: „Erzähl mir bloß nichts über Trauer!“ Dann stürzte sie weinend hinaus und knallte mit der Küchentür.

      Verängstigt starrte Augusta die geschlossene Tür an. Dann schaute sie zu ihrem Vater hinüber. Und sah, daß der hinter seinen großen Händen weinte.

      Augusta dachte an die Seele des Kleinen. Sie stellte sich diese Seele als eine Art flaches Wölkchen vor, ungefähr von der Form einer Schuhsohle. Alle Menschen hätten eine Seele, hatte ihr Vater gesagt. Nicht nur der kleine Bruder.

      Es war nicht so schwer, sich vorzustellen, wie die Seele zum Himmel flog. Das Problem war die Frage, wo die Seele steckte, solange sie noch im Körper war. Saß sie im Kopf oder im Bauch? Augusta überlegte, daß sie vielleicht ein wenig herumschwamm. Sie war bestimmt sehr weich und konnte sich überall hineinstehlen, um das Herz herum und vielleicht auch in den Magen. Aber bis zum Po kam sie sicher nie. Dazu war eine Seele bestimmt zu vornehm.

      Es tat gut, über die Seele nachzudenken.

      Ein Zeichen? dachte Jon Mjøen. Ein Zeichen, sagte die Hebamme Marithe. Aber was wollte Gott ihnen dadurch mitteilen, daß Er ihnen den Kleinen weggenommen hatte? Ein Kind, das noch nichts Böses getan hatte.

      Wenn der Herr als Strafe für unsere Sünden solche Zeichen gab, dann bestrafte er damit doch den Falschen. Ich habe vielleicht den Zorn des Herrn verdient, dachte Jon Mjøen. Ich habe gesündigt. Warum sollte der Kleine an meiner Stelle bestraft werden?

      Ja. Vielleicht ist die Trauer so. Die Trauer hat viele Gesichter, dachte Helene. Niemand ahnte, welche Trauer sich hinter dem Gesicht versteckte, das sie in diesen Tagen zeigte. Niemand fragte.

      Ach, nein. Sie hatte sich gründlich getäuscht, damals, als sie glaubte, etwas an ihrem Wesen habe ihn gerührt. Und ein Zorn loderte in ihr auf – ein Zorn, den sie während ihrer Kindheit verspürt hatte, seit dem Tag, als sie zehn Jahre alt war und ihr väterlicher Hof zwangsversteigert wurde – manchmal kam es ihr vor, als sei sie mit diesem Zorn geboren worden, und der Zorn liege in ihr auf der Lauer und warte nur darauf, auszubrechen, wenn sie traurig war – die Trauer mochte groß oder klein sein, es reichte schon, wenn ihr irgend etwas wehtat – sie konnte vor Zorn hochgehen – und sie brauchte jemanden, auf den sie diesen Zorn richten konnte, damit der sich beruhigte – und damals hatte sie in den Augen des Lensmanns etwas gesehen und geglaubt...

      Augusta schaute sich immer wieder um. Da waren die Häuser und der Hof und dahinter der Berg und der Fluß, da waren die Zimmer und die Möbel mit ihren schönen Mustern und die großen Bilder an der Wand und eine Uhr, da waren Mutter und Vater und Hansemann und der Stallbursche Ivar und die Magd Guri und alle anderen, der Wolf Hektor und die Miezekatze Molly, im Stall die Kühe Børstaros und Lilja und noch vierzehn andere, die mit tiefer Stimme Muh sagten und vor sich hin glotzten, da waren die Pferde Storegut und Raugubben, Perla und Svarten, die vielen Ziegen, manchmal auch Schafe und das mit der Flasche aufgezogene Lamm Alfhilde, die Hühner auf dem Hof und Napoleon II. Sie sah Børstaros mit ihren Hörnern und dem weißen Flecken auf der Stirn, sie sah die ersten Sonnenstrahlen über dem Almannberg, sah ihren großen Vater weinen und die Mutter mit den Türen schlagen und schimpfen. So war das eben.

      Doch um alle Dinge gab es noch etwas anderes. Sie waren sie selber, und dann gab es noch etwas anderes. Das, was die Menschen und die Dinge und das Gefühl umgab, sie selber zu sein und alles zu sehen, das war einfach die Welt. Und das wußte nur sie allein.

      Und sie wußte, daß der kleine Frederik gestorben war, weil die Eltern sich zerstritten hatten, und sie hätte die ganze Nacht bei ihm sitzen müssen, dann hätte er nicht daran zu sterben brauchen.

      Augusta ging mit Guri in den Stall. Sie lernte melken und den Kühen gut zureden und ihnen kleine Geschichten erzählen. Und dann kam in der Regel noch die Miezekatze Molly und hörte ebenfalls zu. Aber wenn sie sich an die Katze wandte und fragte: „Hörst du zu, Molly?“ dann hob die Katze die linke Hinterpfote, kratzte sich heftig hinter dem Ohr und tat, als habe sie kein Wort gehört. Die Tiere waren wie Menschen. Sie sahen nur ein bißchen anders aus.

      Als der Lensmann und die Kinder eines Sonntags im Eßzimmer saßen und auf das Essen warteten, hörten sie aus der Küche schrilles Geschrei. Holzgefäße gingen zu Boden, Stühle kippten um, dann ein leises Knurren und blitzschnelle tapsende Schritte. Der Lensmann stürzte, gefolgt von den Kindern, in die Küche, und dort lag die Mutter auf dem Boden.

      „Er hat den Braten geholt! Dieses Teufelsbiest!“

      Sie liefen durch die Küche und den Flur, die Treppe hinunter und um das Haus herum, und dort sahen sie Hektor, der mit dem sonntäglichen Hammelbraten in der Schnauze davonjagte. Der Lensmann rief. Der Wolf blieb stehen und sah zurück. „Loslassen, Hektor!“

      Aber diesmal ließ Hektor sich nicht so leicht zum Gehorsam überreden. Er hatte das saftige Fleisch ja schon probiert. Der Lensmann ging langsam auf ihn zu und redete freundlich auf ihn ein, der Wolf blieb stehen, er gehorchte nicht, lief aber auch nicht weg. Schließlich konnte der Lensmann Hektor im Nackenfell packen und ihm den Sonntagsbraten entreißen. Das Tier jammerte und fiepte, der Lensmann schimpfte. Dann ging er mit einem übel mißhandelten Hammelbraten zurück zu seiner Familie.

      Helene bebte vor Aufregung. Sie hatte den Braten zwischen den Händen gehabt, und Hektor war einfach hochgesprungen, sie hatte seinen riesigen Wolfsrachen dicht vor dem Gesicht gehabt. „Oooo! Ich werde den Anblick dieses entsetzliches


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