Augusta und ihr Dichter. Gerd Mjøen Brantenberg
wirklich so vor? Sie sagte das mit so munterer Stimme.
Augusta vertiefte sich in den Anblick des Korns. Dieses Jahr stehe eine gute Ernte bevor, hatte Guri gesagt. Eine bessere als seit vielen Jahren. Es war ein warmer Sommer gewesen, sie hatten Mitte April mit Pflügen beginnen können, es war fast schade, das alles verlassen zu müssen. Aber sie freute sich auf Kristiania und stellte sich Schlösser mit hohen Türmen und Paraden von Soldaten in roten Uniformen und Damen in Seidenkleidern und einen König und eine Königin mit Goldkronen auf dem Kopf vor, die funkelten, während die Blasmusik erklang.
Der Lensmann fand für sich und seine Familie Unterkunft auf Jacobsens Koppel, in deren Nähe das neue Schloß gebaut wurde. Sie wohnten auf dem Plateau gegenüber von dem Haus, das Grotte genannt wurde, weil es dort im Felshang eine Grotte gab.
Jacobsens Koppel war ein wunderbarer Ort für Kinder. Es gab Felder und Wiesen, nirgendwo stand ein Lattenzaun, sie konnten überall herumtoben, und Augusta, die bald in die Schule kam, hatte nur einen kurzen Weg, den Hang hinab bis zu Fräulein Osterhaug in der Kongens gade. Es war ein schöner Spaziergang, sie konnte rechts weit, weit über den Fjord hinwegblicken, und vor ihr lag die ganze Stadt mit dem Tivoligarten und der Festung Akershus und dahinter dem dunkelgrünen Berg Ekebergåsen und den vielen Häusern unten an den geraden Straßen. Oben vor dem Schloß mußte sie an einer bestimmten Stelle immer stehenbleiben und schauen. Menschen hasteten vorüber. Niemand kannte sie. Niemand sagte guten Tag. Niemand wußte, daß hier Augusta Mjøen kam, oder fragte, wo sie denn hinwolle, wie das zu Hause gewesen war.
Weiter unten kam sie an großen Grundstücken und Gärten vorbei. Auf einem namens Rosenkrantzgarten befand sich eine Gärtnerei, wo auch Obst und Gemüse verkauft wurden. Gleich dahinter lag die Arche Noah, in der Tante Christense wohnte. Gerade das war übrigens eine Enttäuschung gewesen. Augusta hatte ihr Leben lang von der „Arche Noah“ gehört, in der ihre Mutter als Kind gewohnt hatte, und sie hatte sich ein Schiff vorgestellt. Aber es war nur ein ganz normales altes Haus mit zwei Stockwerken und Laubengängen, wie es hier in der Stadt viele gab. Es war zwar ziemlich groß und lag an einer Ecke, aber auch sein Inhalt entsprach nicht ihren Vorstellungen, es gab dort keine Giraffen oder Nashörner oder andere Tiere, auf die sie sich so sehr gefreut hatte. – „Aber warum heißt es denn Arche Noah?“ hatte sie ihre Mutter gefragt. Die lachte und sagte, weil Mikkelsens eben Zimmer vermieteten, an allerlei seltsame Menschen, Südländer mit auffälligen Kleidern, Betrüger und Barone. Augusta betrachtete einen Mann, der mit seinem Hund aus dem Haus kam, und der sah dermaßen aus wie ein Mann mit einem Hund, und sie begriff das alles nicht. Das war sicher eins der vielen Dinge, die sie erst als Erwachsene verstehen würde.
Der Arche Noah gegenüber lag ein gelbes Häuschen. Dort verkaufte eine Frau Obst und Zigarren und selbstgebackenen Kuchen. Sie saß mit ihren Waren vor dem Haus. Augusta bekam ab und zu ein paar kleine Münzen, um etwas einzukaufen. In der Stadt gab es immer viel zu sehen, immer war etwas los, elegant gekleidete Menschen gingen spazieren, mit Reitpeitschen in der Hand, obwohl weit und breit kein Pferd zu sehen war, ein Mädchen trieb Kühe über die Straße, Händler priesen ihre Waren an, Wagen schepperten. Und überall gab es schrecklich viel Dreck. Bisweilen wurden die weiten Röcke der Damen bespritzt, sie trugen viele Röcke übereinander und drohten, den Kutscher bei der Polizei anzuzeigen, und dann würde er ins Arbeitshaus gesteckt werden, bis er alle Kleider ersetzt hätte.
Fräulein Osterhaugs Schule lag in dem Haus, in dem Frau Bjørnsons Schwester ihren Laden hatte. Sie hieß Frau Jackwitz und verkaufte alle möglichen Gegenstände, die die Häftlinge in Arbeitshaus und Zuchthaus hergestellt hatten. Frau Jackwitz hatte zwei kleine Töchter, Thea und Mina, die mit Augusta die Schule besuchten. Die beiden waren munter und lachten fast immer. Sie lachten schon, wenn sie an einer Straßenecke einen Herrn entdeckten. Augusta lachte dann auch und fand die Stadt plötzlich wunderschön.
In der Schule erhielten sie Tafeln, auf die sie Zahlen und Buchstaben schreiben sollten. Das machte fast soviel Spaß wie Spielen, und Augusta lernte rasch. Daß A – zwei Schrägstriche mit einem kleinen geraden Strich wie ein Brett, damit sie nicht übereinanderpurzelten – dasselbe war wie der Laut, der entstand, wenn sie den Mund weit aufriß, war wirklich seltsam. Die Buchstaben erschienen ihr wie Figuren mit einer eigenen Seele. Und schon nach wenigen Tagen schrieb sie: A – U – G – U – S – T – A. Daß sie selber damit gemeint war, war ein Wunder.
Bald nach ihrem Eintreffen in Kristiania brachte Helene eine Tochter zur Welt. Das Kind wurde in der Arche Noah geboren, weil sie noch keine eigene Wohnung hatten, derweil lärmten die Zecher in der Schankstube, und Tante Mikkelsens drei lustige Töchter unterhielten die restliche Familie mit Klavierspiel und Gesang. Die Kleine war so schwarzhaarig und braunäugig wie ihre Großmutter und hatte eine so lange Nase, wie sie in dieser Familie noch nie gesehen worden war. Sie wurde Josefine Helene getauft, nach der geliebten Gemahlin Josefine des Kronprinzen Oscar, und – auf Wunsch des Gatten – nach ihrer Mutter.
Jon Mjøen war abends oft unterwegs. Er ging zum Bostonspielen in die Grotte oder machte Besuche. Helene wußte nicht immer, wo. Bemerkungen, die Tante Christense fallenließ, ließen jedoch keinen Zweifel daran, daß er sich mit den Damen aus der Arche Noah amüsierte. Dort hatte er im ersten Jahr gewohnt, hatte in fröhlicher Runde den Becher geschwungen und war danach in „Häusern“ gelandet. Er wollte sich über das neue Strafgesetz informieren, hatte er gesagt, aber daß er die Verhältnisse so sorgfältig untersuchen würde, hätte sie nicht erwartet. Das neue Gesetz sah vor, die öffentlichen Frauenzimmer zu kontrollieren. Helene war darüber durchaus orientiert. Es bedeutete, Staat und Polizei sorgten dafür, daß sie nicht an ansteckenden Krankheiten litten, so daß ihre Kunden sich sicher fühlen konnten. Es ging dabei nicht um das Wohl der armen Frauen. Diese neue Maßnahme wurde „Reglementierung“ genannt. Helene fand es abscheulich, aus einem so argen Mißstand eine gesetzestreue Handlung zu machen, aber ihr Mann war offenbar anderer Ansicht. Allerdings hatten sie nie über dieses Thema diskutiert. Andere taten das auch nicht. Die Reglementierung betraf einen Lebensbereich, über den nicht gesprochen wurde.
Helene schwieg und machte sich ihre Gedanken. Sie hatte geglaubt, ihm zu geben, was er brauchte. Aber Hurerei war offenbar ein Bestandteil der männlichen Natur. Die Männer brachen ein Gebot nach dem anderen und baten den Herrn um Vergebung. Aber ob sie wohl je die, an denen sie sich vergangen hatten, um Vergebung baten?
Jon Mjøen lernte konzentriert und informierte sich über die Hintergründe des neuen Strafgesetzes, das bald vom Parlament abgesegnet werden würde. Dieses Gesetz sollte in jeder Hinsicht liberaler sein als das bisherige, die Todesstrafe sollte nur noch in Fällen von Landesverrat ausgesprochen werden können. Er selbst hatte noch niemanden zum Tode verurteilt, und in Zukunft würde ihm das erspart bleiben. Noch waren viele Vergehen mit Todesstrafe belegt, sogar einfacher Diebstahl. Der sogenannte Konventikelerlaß, der öffentliche Ansammlungen verbot, sollte ebenfalls aufgehoben werden. Auch das war eine Erleichterung, er hatte sich schon oft geschämt und Gott für seinen Vater um Verzeihung angefleht, denn der Vater hatte zusammen mit dem alten Lensmann Gøttem im Jahre 1801 – dem Jahr, in dem Jon geboren worden war – den Prediger Hans Nielsen Hauge festgenommen. Der Vater und er selbst waren große Anhänger religiöser Erweckung und hielten den Erlaß deshalb für eine Schande, doch eingehalten werden mußte er nun mal. Und nachher bat man dann Gott um Vergebung. Gott tadelte ihn deshalb oft. Und das machte ihm dermaßen zu schaffen, daß er bisweilen auf die Knie fiel und den Herrn fragte, ob er sein Lensmannsamt nicht lieber aufgeben sollte. Gott antwortete darauf ganz klar, das solle er nicht, er solle sich an seinen gesunden Menschenverstand und sein frommes Gemüt halten, dann würde er auch weiterhin Seine Zeichen richtig deuten.
Aber nun sollte dieser seelische Zwiespalt endlich ein Ende nehmen. Und ein neuer sollte sich einstellen. Was die Reglementierung der Prostitution anging, hatte er doch arge Zweifel. Und darüber konnte er mit niemandem sprechen. Wie der Herr die Sache sah, wußte er. Dieses Gewerbe sollte jetzt wie auch vorher verboten sein, aber die Öffentlichkeit würde keine Anklage mehr erheben dürfen, wenn es nicht von einer empörten Ehefrau verlangt wurde. Wenn ein Mann ins Bordell ging, mußte seine Frau mit ihrer Beschwerde zum Lensmann gehen...
Napoleon hatte die gesundheitliche Kontrolle der öffentlichen Frauenzimmer eingeführt, um die Kampfkraft seiner Truppen und die Gesundheit seiner Soldaten zu schützen. Das war