Augusta und ihr Dichter. Gerd Mjøen Brantenberg

Augusta und ihr Dichter - Gerd Mjøen Brantenberg


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Das meine ich“, sagte Helene.

      „Das war mein Recht!“ rief Peder. Er war aufgesprungen.

      „Wenn du den Hof übernommen hättest, ja. Aber du bist für das Geld zum Studium nach Kristiania gegangen, während Mutter und meine Schwestern und ich von Tante Mikkelsens Gnade leben mußten.“

      „Ich habe dir doch reichlich abgegeben, soviel ich weiß, Helene. Dir und deiner Mutter. Und du siehst durchaus wohlgenährt aus.“ Bjørnson beugte sich über den Tisch zu seiner Nichte, sein Gesicht war rot angelaufen, er ballte die Fäuste.

      „Ja, aber das ist wahrlich nicht dein Verdienst!“

      „Habe ich vielleicht nicht...“

      „Aa!“ Elise Bjørnson stieß ein lautes Stöhnen aus. Alle schauten zu ihr hinüber. Sie rutschte auf dem Sofa hin und her, faßte sich an den Bauch. Helene beugte sich über sie. „Ich glaube, das waren die ersten Wehen“, sagte Elise.

      Jetzt hatten es alle sehr eilig, rannten hin und her, halfen Frau Bjørnson ins Bett, ihre Unterhaltung löste sich ganz einfach auf. Die Kinder wurden hinausgeschickt, und Mjøen und Bjørnson gingen in den Stall.

      Die Kinder krabbelten durch den trockenen Schnee in der Geröllhalde. Bjørnstjerne hatte rote Augen. „Weinst du?“ fragte Augusta. „Nein“, sagte er. „Doch, du weinst. Das sehe ich“, sagte sie. „Mein Vater war so wütend!“ sagte er. „Ja, aber meine Mutter auch“, sagte sie.

      Augusta erklärte, daß sie im Sommer ihr ganzes Spielzeug herschaffen würden. Ihr Vater hatte kleine Schüsseln und Näpfe aus Holz geschnitzt, darin wollten sie ihr Essen aufbewahren. Und sie bekamen wirklich gut zu essen, sonntags jedenfalls, süße Fladen und Honigkuchen und frischgeseihte Milch, und sie würden die Erwachsenen zum Essen einladen und singen „Des Nordens Berge mit den blauen Gletschern, der Urzeit dunkle Minne“. Und dann müßte er sie wieder besuchen. „Das Lied können wir doch auch jetzt singen?“ meinte Bjørnstjerne.

      Und nun setzten sie sich alle hin, die vier Evenkinder, die drei Bjørnsonkinder und Hansemann und Augusta – insgesamt neun Kinder im Alter zwischen zwei und dreizehn Jahren, und ihr Lied konnten alle Kinder auswendig, denn der Lensmann glaubte, es werde einmal „Norwegen, Vaterland der Reisen“ als Nationalhymne ablösen. Er fand es viel würdevoller, sowohl den Text als auch die Melodie. Jetzt erklang es in seiner himmelstrebenden Hochstimmung, gesungen von einem gemischten Kinderchor im Aprilschnee.

      Des Nordens Berge mit den blauen Gletschern,

      der Urzeit dunkle Minne,

      über der Wolken hohem Dach ragt deine hohe Zinne,

      in deiner reinen Ätherluft funkelt der Zeiten Blick,

      an deinem Fuß im Blumenduft erwächst dir neues Glück.

      Sie sangen die fünf Strophen in tiefem Ernst, und obwohl sie nur wenig vom Text verstanden, wußten sie immerhin, daß das Land grün war, die Zinne hoch, und daß sie eines Tages für ihr Land kämpfen und vielleicht sterben müßten. Und dann würde das Blut aus ihnen herausströmen.

      Als der Lensmann abends mit seiner Frau im Bett lag, sagte er: „Ab und zu solltest du deine Zunge hüten.“ – „Ich brauche keinen Zungenhüter“, erwiderte sie, und sie habe wirklich keine Lust, zuzuhören, wie die Söhne des Landes sich rosenrote Geschichten aus den Fingern saugten. Und er als Mann und noch dazu als Lensmann sollte sich endlich für eine Änderung des Gesetzes engagieren, das Töchtern nur einen halben Erbteil zubilligte.

      „Schon möglich, aber das Gesetz gilt seit den Zeiten Magnus Lagabøters“, sagte Jon. „Ja, der hat sich vermutlich auch auf Kosten seiner Schwestern bereichert“, meinte sie. „Aber du hättest seinen Zorn nicht so anstacheln dürfen.“ – „Wessen Zorn? Den von Magnus Lagabøter?“ Jon mußte lachen. „Nein, den von Bjørnson natürlich.“ – „Ich wüßte ja gern, wie man sich verhalten soll, um seinen Zorn nicht anzustacheln“, sagte sie. „‚Die Wahrheit!‘ sagt er. Aber die will er doch selber gar nicht hören!“ Wieder mußte Jon in die Dunkelheit hineinlächeln. „Nein, wer will das schon?“ seufzte er und streckte die Hand nach ihr aus. Er war müde, und sie war behaglich und warm. Und jetzt wollte er sie, trotz ihrer scharfen Zunge. Oder vielleicht wegen ihrer scharfen Zunge. „Aber den Hof hat er verkauft, weil er sich in eine verliebt hatte, die nur einen Pastor heiraten wollte, und danach hat sie ihn verlassen.“ – „Sie hat ihn verlassen? Ich dachte, sie sei gestorben!“ – „Nein, das war eine andere. Er hat sich doch bei jedem Vollmond verlobt.“ – „Jetzt übertreibst du aber ein bißchen.“ – „Ich übertreibe? Dann frag ihn doch selber!“

      Damit endete das Gespräch und ging über in ein wortloses körperliches Beisammensein, in dem keine Mißstimmung zu spüren war.

      Frau Bjørnsons Wehen legten sich bald wieder. Deshalb konnten sie unbesorgt ihre Reise nach Nesset wie geplant fortsetzen. Niemand kam noch einmal auf das am Palmsonntag geführte Gespräch zurück, und als die Pastorenfamilie sich am Kardienstag auf den Weg machte, waren alle in bester Laune.

      „Das war der Pastor!“ sagte der Schmied unten im Laden, wo er mit einigen anderen Dorfbewohnern stand, obwohl der Laden in der Karwoche geschlossen war. Aber hier, mitten im Ort und an der Wegkreuzung, hatten sie sich immer getroffen, auch ehe es den Laden gegeben hatte, um Neuigkeiten auszutauschen. „Die war ja schon ganz schön weit gediehen, die Pastorin – gut, daß es bergab geht“, sagten sie und grinsten. Aber der Schmied sagte, vorn neben dem Pastor habe nicht die Pastorin gesessen, sondern die Magd.

      Darüber mußten sie erst einmal nachdenken. Aber schön rund war sie wirklich, die Magd, das hatten sie gesehen, als sie mit dem Pastor und dem ältesten Sohn im Langschlitten gesessen hatte. „Ja, die kriegen eben immer ihren Willen, die großen Herren“, erklärte der Schmied. Er trank einen kleinen Schluck aus einem Krug, den er mitgebracht hatte, und ließ den Schnaps weiterwandern.

      3. Kapitel

      Kurz nach diesem Besuch passierte etwas sehr Trauriges. Der kleine Frederik Trampe war abends eingeschlafen, und nichts deutete an, daß ihm etwas fehlen könnte. Sein ganzes kurzes Leben lang war er ein gesunder, munterer Junge gewesen. Aber am nächsten Morgen lag er leblos in seiner Wiege. Marithe Bryggjom wurde geholt. Die Hebamme wußte in solchen Fällen normalerweise Rat. Marithe hob ihn hoch und untersuchte ihn, sie versuchte, seinen kleinen Körper zu massieren, hauchte Atem in seinen Mund, aber alles half nichts. Schließlich mußte sie aufgeben. Aber wie hatte das passieren können? Die anderen konnten es nicht glauben, die Trauer kam erst später.

      Doch, das komme vor, erklärte Marithe, auch wenn sie noch nie einen solchen Fall erlebt hatte. Manchmal starben kleine Kinder ohne irgendeine erkennbare Ursache einfach so in der Wiege. Manche meinten, sie hätten vielleicht falsch gelegen und wären dabei erstickt. Andere glaubten, Gott habe sie zu sich geholt – und es handele sich um besonders begünstigte Kinder. Es sei auf jeden Fall ein Zeichen, da war Marithe ganz sicher.

      Die anderen konnten das nur schwer hinnehmen. Es war ein Todesfall, der auf irgendeine Weise gar nicht eingetreten war. Und alle machten sich Vorwürfe, weil sie nachts nicht über ihn gewacht hatten. Hatte Gott ein Zeichen gegeben, um sie zu warnen, daß der Kleine in Gefahr schwebte? Sie gingen die vergangenen Tage durch und fanden Omen, die sie nicht gedeutet hatten – einen plötzlichen Windstoß, einen besonders leuchtenden Sonnenuntergang, zwei Raben, die schreiend gen Norden flogen. Die Magd Guri war außer sich. Die Kuh Gullrosa war am Vorabend im Stall so unruhig gewesen. Warum hatte Guri nicht begriffen, daß der Herrgott durch das Tier gesprochen hatte? Alle auf dem Hof weinten. Sogar die Tiere schienen zu trauern, und Hektor fiepte und wollte zu dem Kleinen ins Zimmer.

      Augusta stand vor der Wiege und staunte. Sie konnte nicht begreifen, warum er nicht aufwachte, wenn jemand sein Händchen anfaßte. Aber sie sah ja, daß er leblos vor ihr lag. Und dann spürte sie die Arme ihres Vaters. er hob sie hoch und trug sie in die Stube, und dabei sang er langsam und ohne Worte.

      „Unser Kleiner kommt jetzt in den Himmel“, flüsterte er. „Wie macht er das?“ fragte sie leise. „Er bekommt kleine Engelsflügel“, erklärte


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