Augusta und ihr Dichter. Gerd Mjøen Brantenberg
Jentine Janette in deren erstem Lebensjahr liebevoll an.
Von ihrem Fenster im Pfarrhof konnte das junge Fräulein Helene Skøyen die beiden da unten beobachten. Sie war ein Jahr zuvor als Gouvernante für Probst Hagerups Kinder nach Oppdal gekommen und hatte schon seit längerem ein Auge auf den Lensmann geworfen, wenn der den Pastor besuchte.
Helene Pederstochter Skøyen kam von einem großen Hof am Randsfjord. Sie stammte von Großbauern ab und hatte früh gelernt, daß auf dieser Welt nur eins entscheidet: Geld. Und in sehr jungen Jahren war ihr auch aufgegangen, daß es für eine Frau fast unmöglich war, zu Vermögen zu gelangen.
Früher war das anders gewesen. Früher hatte der Boden Brot bedeutet, und Mann und Frau waren in guten und in schlechten Jahren ebenbürtig gewesen. Aber seit das Land vom Handel abhängig geworden war, konnte alles innerhalb kürzester Zeit zu Schutt und Asche zerfallen. Heute war man reich, morgen arm, und die Frauen sahen nie etwas von dem Geld, das hin und her wanderte und an allem schuld war.
Ihr Vater war durch die große Krise um 1820 bankrott gegangen. Sein Hof wurde zwangsversteigert, als Helene zehn Jahre alt war, seither hatte die Familie ein unsicheres Dasein von Gnaden wohlhabenderer Verwandter gefristet. Zu diesen Verwandten gehörte Tante Christense in Kristiania, die mit Torstein Mikkelsen, dem Wirt des Gasthauses „Arche Noah“, verheiratet war. Er galt als einer der reichsten Männer Kristianias, er hatte früher mit Holz und Kohle gehandelt. Tante Mikkelsen war groß und üppig und hatte muntere Rosenwangen, Mikkelsen selber war häßlich wie die Nacht. Er trug immer eine Zipfelmütze und sah aus wie ein Gnom. Männer mit Geld konnten sich das eben leisten.
Helene hatte aus all diesen Gründen niemals die Schulbildung erhalten, zu der ihr kluger Kopf sie befähigte, hielt sich aber durch Zeitschriften und Bücher auf dem Laufenden und wußte, was auf der Welt passierte. Bei Tante Mikkelsen beteiligte sie sich oft an Liederabenden und anderen Aufführungen, und sie hatte eine Nummer einstudiert, in der sie als Wahrsagerin auftrat. Das war ein so großer Erfolg, daß sie es schließlich wagte, im Gasthaus aufzutreten. Damit verdiente sie einige Schillinge.
Ihr Onkel, Peder Bjørnson, der Theologie studierte, wohnte ebenfalls im Haus der Mikkelsens. Nach seinem Examen beschloß die Familie, daß Helene ihn und seine junge Frau auf seinen ersten Pfarrhof in Kvikne begleiten sollte. Sie war damals einundzwanzig, und ihr neuer Wohnort erfüllte keine ihrer Erwartungen an das Leben. Die Pfarrstelle war jahrelang nicht besetzt gewesen, aber das war auch kein Wunder. Sie lag in der Einöde, nur selten kam ein Gast vorbei. Die nächsten Nachbarn waren Wolfsrudel und Lappen.
Es war ein arger Kontrast zum Leben in der Hauptstadt. Der Onkel war ein schwieriger Hausgenosse, manchmal stritten sie sich um die Finanzen der Familie, und Helene rutschten Worte heraus, die ihrem Onkel durchaus nicht paßten. Nach einem Jahr besorgte er ihr die Stelle beim Probst in Oppdal, alles wurde brieflich verabredet.
Probst Hagerup und seine Frau waren angenehme und freundliche Menschen, hier wurde Geige gespielt und gesungen, und Helene durfte an allen Festen, im Haus oder bei anderen, teilnehmen. Zu den häufigsten Gästen zählte der junge Lensmann. Er hatte das Amt von seinem Vater übernommen und besprach sich mit Probst Hagerup in allen Fragen, die das Wohl der Gemeinde betrafen. Volksbücherei und Sonntagsschule, Holzdiebstahl und Wolfsjagd. Sie sprachen auch über die Lage im Land und waren oft nicht einer Ansicht. Das Dorf wollte einen jungen Bauern, Emret Sæther, ins Parlament wählen, was dem Probst überhaupt nicht gefiel. Mjøen dagegen hielt es für unerläßlich, daß der Bauernstand nach oben kam und mehr Einfluß gewann.
In dieser Zeit streifte sein brauner Blick oft Helene, und immer wieder mußte sie an ihn denken. Er war ein gutaussehender Mann – mittelgroß mit sorgfältig gestutztem Vollbart und goldbraunem Schopf, der sich wie ein Fragezeichen wellte, als habe die Natur ihn gekrönt, um ihn aus der Menge herauszuheben. Von Frau Hagerup wußte sie, daß er sich hohe Ziele setzte. Er war als Kätnerssohn geboren, aber er hatte Ehrgeiz, sicher würde er irgendwann in die Hauptstadt übersiedeln. Vielleicht könnte er in einem Ministerium oder sogar bei Hof eine Anstellung finden? Oder als Minister enden? Helene versteckte ihre füllige Gestalt hinter dem Vorhang, ließ den jungen Mann aber nicht aus den Augen. Ein Witwer konnte doch nicht so schwer zu erlegen sein!
Aber dann lenkte ein schreckliches Ereignis alle Gedanken von der eigenen Person und ihrer Zukunft ab. Auf Østråt sollte die Verlobung des Neffen der Pastorin mit Fräulein Hornemann aus Trondheim gefeiert werden. Helene und Frau Hagerup machten sich munter auf den Weg. Fräulein Hornemann war lustig und lebhaft, sie lief überall umher und war plötzlich auf den Burgturm gestiegen. Von dort winkte sie den Gästen zu und kletterte dann weiter, so hoch es ging. „Seht mich an!“ rief sie und klatschte in die Hände. Dabei verlor sie die Balance und stürzte auf den gepflasterten Burghof. Sie lebte noch einen Tag. Helene saß die ganze Zeit bei ihr. Ihr Schreien verstummte erst mit ihrem Tod.
Helene und Frau Hagerup standen noch lange unter dem Einfluß dieses Erlebnisses. Zu den Menschen, die ihre Teilnahme zum Ausdruck brachten, gehörte auch der junge Lensmann. Der Fingerzeig Gottes sei sehr deutlich gewesen, meinte er. Jugendlicher Übermut wurde streng bestraft. Und eines Tages stand er vor ihr und machte ihr einen Antrag. Helene fand, daß das Leben endlich einen Sinn hatte.
Am 29. August 1833 traf wieder eine junge Braut auf Mjøen ein. Die Braut glaubte, die Sache mit den Witwern richtig eingeschätzt zu haben. Nur schien der Lensmann nicht glücklich zu sein. Er sang Kirchenlieder, wenn er über die Äcker wanderte, wenn er pflügte, Steine aufklaubte, im Stall arbeitete, überall sang er, und er hatte eine schöne Stimme, aber zu ihr kam er nicht. Helene ging ihrer Arbeit nach und sehnte sich nach ihrem Mann. Hatte er denn nur eine Magd gebraucht? Sie hatte wirklich keine Sekunde damit gerechnet, nicht arbeiten zu müssen. Aber sie hatte doch noch etwas anderes erwartet – von dem sie allerdings nur vage Vorstellungen hatte.
Zwei Monate nach der Hochzeit kam er im Dunkeln zu ihr. Zuerst begriff sie nicht, was passierte. Dann begriff sie und hatte Angst. Und innerhalb weniger Augenblicke kam ihr dann die Erkenntnis: Die Menschen waren wie die Tiere. Sie besaßen die gleiche Wildheit, den gleichen Trieb, der sie nur an eins denken ließ, und war es erst soweit, dann galt sonst nichts mehr, alle Rücksichten waren vergessen, nichts hielt sie auf, wenn sie nur dieses eine tun konnten. Doch ehe sie soweit gedacht hatte, hatte ihr Mann sie schon in das wilde Treiben mitgerissen.
Endlich fand ihr üppiger Leib zu seiner natürlichen Bestimmung, sie merkte, daß ihr Mann sich mehr um sie kümmerte als bisher. Als sie ihm erzählte, wie es um sie stand, verschwanden die düsteren Wolken von seiner Stirn.
Der Lensmann sang wieder seine alten lustigen Lieder, bis er dann an einem frühen Morgen im August voller Angst in den Wald floh. Als er spätnachmittags zurückkehrte, ging er geradewegs in den Stall. Doch die Magd Guri hatte ihn gehört und lief hinterher. Er hatte ein Töchterchen bekommen, und Mutter und Kind ging es gut.
Jon Mjøen weinte vor Freude und segnete den Monat, in dem das Kind geboren war: „Sie soll Augusta heißen!“ In diesem Moment vergoldete die Sonne den Almannberg, und Jon fiel auf die Knie und pries seinen Gott.
Keine in der Gemeinde hieß Augusta. So hieß die Gemahlin des Prinzen Wilhelm von Preußen, wenn die Ehe seines Bruders, des Königs, kinderlos blieb, konnte sie eines Tages dort sogar Königin sein.
„Aber müßte ich sie nicht eigentlich nach meiner Mutter nennen?“ fiel dem Lensmann dann ein.
„Ja, sie soll Ingeborg heißen“, sagte Helene.
Alle hatten damit ihren Willen erhalten, und das Kind wurde Ingeborg Augusta getauft. Das war im Jahre 1834.
2. Kapitel
Das Kind zeigte früh ein freundliches, fügsames Wesen und lernte ungewöhnlich schnell erwachsene Wörter. Schon mit zwei Jahren sagte sie Dinge wie „dementsprechend“ und „vorübergehend“. Ihr Vater fand das sehr witzig und brachte ihr bei, „Amor vincit omnia“ zu sagen. Die Liebe überwindet alles, übersetzte er. Augusta war dunkel und braunäugig wie ihr Vater, sie war mollig und hatte Apfelbäckchen, und schon bald trottete sie hinter ihm her über die Felder, sammelte in ihrer kleinen Schürze Steine und legte sie aufeinander, damit sie weggefahren werden konnten.