Augusta und ihr Dichter. Gerd Mjøen Brantenberg

Augusta und ihr Dichter - Gerd Mjøen Brantenberg


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hatte. Mit anderthalb Jahren bekam sie ein Brüderchen, das nach Großvater und Urgroßvater mütterlicherseits Hans Peter getauft wurde. Zwei Jahre später stellte sich ein weiterer Bruder ein. Der erhielt den Namen Frederik Trampe, nach dem Amtmann in Trondheim, den der Vater auf diese Weise ehren wollte. Die Halbschwester Tina wuchs bei ihrer Tante in Trondheim auf.

      Im Dorf gab es viele Kinder, auf dem Nachbarhof wohnten vier Vettern und Kusinen, zu Hause jedoch war Augustas liebster Spielkamerad ein zahmer Wolf, den der Vater einem armen Knaben abgekauft hatte. Der war im Frühjahr mit vier Wolfsjungen, die er im Gebirge gefangen hatte, zum Gericht gekommen. Er hoffte auf eine Prämie. Die gab es zwar nicht, aber der Lensmann kaufte zwei kleine Wölfe, ein Männchen und ein Weibchen, Gerichtsreferendar Richter und Kapitän Knudsen nahmen die beiden anderen.

      Der Wolf folgte Augusta überallhin, sie schliefen zusammen und redeten miteinander. Hektor hieß das Tier, und wenn der Lensmann ausritt, lief Hektor wie ein Hund hinterher. Die kleine Wölfin war gestorben, sie hatte die verdünnte Milch nicht vertragen. Das hatte der Vater Augusta erzählt, denn Hektor war älter als sie. Die Mutter wollte keinen Wolf im Haus haben und schlug immer wieder vor, ihn zu einem Pelz zu verarbeiten. Aber auf dem Ohr war der Vater taub.

      Auch Hühner zu haben machte Spaß. Sie verstanden nicht so viele Wörter wie Hektor, aber sie redeten ja untereinander. Wenige im Dorf hatten Hühner, sie fanden es seltsam, sich solches Getier zuzulegen. Aber der Vater wollte Neues ausprobieren. Besucher bekamen Eier geschenkt, die Augusta suchen mußte. Sie kannte die Verstecke der Hühner.

      Die Hühner liefen frei auf dem Hof umher und drängten sich um Augusta, wenn sie ihnen einen Leckerbissen mitbrachte. Und wenn das nicht der Fall war, begrüßten die Hühner sie trotzdem mit ihrem Gluck-Gluck. Dann scharrten sie im Boden, hin und her, hin und her, immer an derselben Stelle, und in dem so entstandenen Loch hielten sie dann Ausschau nach kleinem Viehzeug. Der Hahn hieß Napoleon.

      Eines Tages saß Augusta auf der Scheunentreppe und fütterte die Hühner. Die Magd Guri hatte ihr Brotkrumen zugesteckt, als die Mutter auf den Dachboden gegangen war. Als sie den Hühnern die Krümel hinwarf, hörte sie ein Pferd. Der Vater kam auf dem Hengst Raugubben angeritten, Hektor lief hinterher, sie hatten im Årkelsee Forellen geangelt. Augusta sprang vor Freude auf, sie war immer glücklich, wenn der Vater auftauchte, nachdem er unendlich lange fortgewesen war. In diesem Moment schoß Hektor wie ein Pfeil in die Hühnerschar und schnappte sich Napoleon. Die Hühner jagten nach allen Seiten auseinander, es schneite Federn, der Boden war ganz weiß, der Vater stürzte herbei und brüllte Hektor wütend an: „Loslassen, loslassen!“

      Hektor mit dem Hahn in der Schnauze sah ihn an und wollte wegrennen, aber der Vater packte ihn und entrang ihm das Tier. Napoleon war nicht mehr zu retten. Er schleppte sich mit gebrochenem Flügel davon und versteckte sich hinter einem Busch. Der Vater zog ihn hervor und ging mit ihm zum Hackklotz.

      Augusta weinte, die Mutter und das Gesinde kamen aus dem Haus gelaufen, um die Ursache des Spektakels zu erfahren. Der Vater hob das Töchterchen hoch und drückte es an sich. Dann erzählte er, daß sie beim Årkelsee auf eine Herde Schafe gestoßen waren. Hektor war hinter den Schafen hergerannt. Als der Vater ihn rief, kam er brav zurück. „Aber sicher steckte ihm der Jagdeifer noch in den Knochen – und dann hat er den Hahn gesehen“, sagte der Vater.

      Augusta beruhigte sich ein wenig, während ihr Vater das alles erzählte. Sie betrachtete die vielen Federn, die auf dem Hof lagen. Plötzlich merkte sie, daß die Hühner verschwunden waren. Alle machten sich auf die Suche, und damit waren sie für den Rest des Tages beschäftigt. Sie lockten und schmeichelten, und nach und nach entdeckten sie die Tiere in Ecken und Winkeln, draußen und drinnen, hinter Holzstapeln, unter Büschen, in hohlen Baumstämmen, jedes Huhn hatte der Öffnung den Schwanz zugekehrt und war zum Scharren bereit. „Und da redet man verächtlich von Hühnergehirnen“, meinte die Mutter. Die nächsten Tage legten sie keine Eier. Ihnen fehlte Napoleon. Aber als ein neuer Hahn auf den Hof geholt wurde, legten sie bald wieder. Und Hektor versuchte nie, Napoleon II. etwas zu tun. Augusta sagte ihm jeden Tag, daß er beim ersten Versuch zu Pelz gemacht werden würde. Sie war sicher, daß er das verstand.

      Der Lensmannshof lag östlich des alten Königsweges und des Flusses Driva, Reisende sahen sofort, daß hier genug Platz zum Einkehren war. Das Wohnhaus war ein langer, mit Brettern verschalter Holzbau mit drei Schornsteinen, er schaute nach Westen, kehrte dem Dorf die Breit- und Süden und Norden die Längsseiten zu. Hinter der Südwand lugte eine der beiden Scheunen hervor, davor stand ein hohes, schmales Seitengebäude, das als Gästehaus und Altenteil diente. Dicht beim Zaun schließlich befand sich ein halbfertiges Gerichtshaus. Es sollte in einem anderen Stil errichtet werden als die anderen Gebäude, der sogenannte Empire-Stil hatte Norwegen erreicht, alle vier Wände sollten gleich lang sein, dreieckige, flache Dachpartien sollten zu einer kleinen Pyramide aufeinandertreffen. Im Süden lagen die Ställe, hinter dem Haupthaus nach Osten hin gab es Feuerstube, Sauna und einen kleinen Schuppen. Hier schienen die Schieferblöcke aus dem Boden zu wachsen, von hier wanderten sie zum Haus und wurden zu Treppenstufen und Dächern oder zu Bänken und Tischen am Südhang, wo man im Sommer sitzen konnte. Dort befanden sich eine Balancierstange, eine Wippe und ein Sandkasten mit Eimerchen. Zwischen dem Lensmannshof und dem von Even floß der Mjøabach, es gab eine Mauer und ein Birkenwäldchen.

      Als Augusta ungefähr vier war, fuhren ein Breit- und ein Langschlitten mit einem Aufbau, der aussah wie ein kleines Haus, durch die Wälder von Oppdal auf den Mjøenhof zu. Es war kurz vor Ostern, die Schneebedingungen waren ideal. Der Pastor von Kvikne war zu seiner neuen Pfarrstelle im Romsdal unterwegs. Er wollte auf dem Lensmannshof Rast machen, denn dort hatte er Verwandte.

      Augusta sah die Schlitten, lange bevor sie den Hof erreicht hatten. Jetzt bogen sie unten bei der Posthalterei vom Königsweg ab und fuhren zu ihnen herauf. Schwarze Mähnen tanzten über den Rücken der beiden Pferde. Der Pastor und seine Frau saßen vorn, sie konnte ihre Gesichter noch nicht erkennen. aber wo waren die Kinder? „Haben die ihre Kinder nicht mitgebracht, Mutter?“ fragte sie. Sie hatte gehört, daß drei Kinder kommen würden, und am Vorabend bis zum Einschlafen daran gedacht. Jetzt war sie schrecklich enttäuscht, obwohl sie dieses Wort noch gar nicht kannte. „Die sind bestimmt in dem Häuschen, damit sie nicht frieren“, antwortete die Mutter, die mit Frederik Trampe auf dem Arm neben ihr stand. Augusta trug ein neues Kleid, ihre Zöpfe waren frisch geflochten, der zweijährige Hans Peter lief ebenfalls in neuen Kleidern herum. Vorn auf der Treppe stand der Lensmann in Uniform mit blankgeputzten Messingknöpfen und hohen gelben Stiefeln.

      Schließlich zogen die Pferde prustend die Schlitten auf den Hof, doch ehe irgendwer etwas sagen konnte, kam aus dem Aufbau auf dem Langschlitten ein Junge zum Vorschein, sprang in die Luft und landete vor den Füßen der Lensmannsfamilie. „Nein, nein, Junge!“ rief sein Vater und drehte sich auf dem Schlittensitz um. „Was habe ich dir beigebracht?“ Der Junge sah alle der Reihe nach an und streckte dann der Magd Guri seine Hand hin.

      „Guten Tag. Ich heiße Bjørnstjerne Bjørnson“, sagte er und verbeugte sich so tief, daß sein Kopf den Schnee berührte. Augusta lachte. Sofort drehte er sich zu ihr um, wurde rot, blickte unsicher zu seinem Vater, dann ging er zu ihr, gab ihr die Hand und verbeugte sich noch einmal bis in den Schnee.

      Jetzt lachten alle Erwachsenen. Augusta war erschrocken über dieses plötzliche Lachen. Was war denn so komisch? Sie musterte den Jungen mit ernster Miene. Aber der hatte sich schon wieder umgedreht. Seine Eltern, die beiden kleinen Schwestern Mathilde und Anine und das Kindermädchen stiegen vom Schlitten, alle tauschten Begrüßungen aus, beluden sich mit Gepäck, liefen im Haus ein und aus, vergaßen, worüber sie gelacht hatten, lachten über andere Dinge, das meiste davon verstand Augusta nicht, denn das meiste, was Erwachsene sagten, war nun mal unbegreiflich.

      Während der ganzen Zeit mußte Augusta immer wieder die Haare des Jungen anstarren. Sie umstanden seinen Kopf wie Sonnenstrahlen – sie waren feuerrot. Sicher hieß er deshalb Bjørnstjerne, nach dem Sternbild Großer Bär. Sie hatte noch nie einen Menschen mit solcher Haarfarbe gesehen. Er schien zur Hälfte aus Haaren zu bestehen. Jetzt rannte er zwischen den Erwachsenen, die Koffer und Taschen ins Haus trugen, hin und her, und als er zum vierten Mal im Haus verschwand, beschloß Augusta, verschwunden zu sein, wenn er wieder herauskam. Sie jagte um die Hausecke, von wo


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