Augusta und ihr Dichter. Gerd Mjøen Brantenberg
niederknien und ohne Schuld leben, ohne Versuchung. Und Gottes Liebe würde sein ganzes Herz erfreuen. Das verhieß das Lied – und seine Klänge enthielten eine Offenbarung.
Darum sehn ich mich nach dir,
eile, Jesu, komm zu mir;
nimm mein ganzes Herz für dich,
und besitz es ewiglich.
Sie würden über alles sprechen, was während des Lebens auf Erden geschehen war, sie würden einander alles anvertrauen. Wenn sie etwas genommen hatte, das ihr nicht zustand, dann würde sie es ihm sagen. Daß er sie in seinem Herzen betrogen, daß er gar Dirnen aufgesucht hatte, würde er zugeben. Alles würde dann so unwichtig sein.
Ach, o Herr, ich bin nicht rein,
daß du kehrest bei mir ein.
Nur ein Wort aus deinem Mund,
und die Seele ist gesund.
Komm, o Jesu, komm geschwind,
mache mich zu Gottes Kind!
Meine Seel bewahre dir,
ewig, ewig bleib bei mir!
Überall, wo er zu tun hatte – im Stall, zwischen den Häusern, auf den Feldern und im Wald, allein mitten im Gebirge – sang er mit schallender Stimme die sechs Strophen des neuen Liedes. Er brachte es auch den Kindern bei. Sie sangen es gemeinsam zu den Klängen des Monochords. Die Kinder, die Kinder, Gott segne die Kinder! Sie waren seine große Freude und seine Hoffnung im Diesseitigen, wenn sie ihm entgegenliefen und jeden Tag schöner wurden.
Im Dorf gab es nur eine Wanderschule, und Augusta hatte sie nach ihrer Rückkehr aus Kristiania besucht. Helene hätte sie gern nach Trondheim geschickt, wo sie feines Benehmen lernen konnte, wie ihre Halbschwester Tina das getan hatte. Aber Jon weigerte sich. Er wollte seine Tochter nicht aus dem Haus geben. Dann wolle er lieber selber eine Schule gründen, sagte er.
Er hatte im Dorf einen Verwandten, Iver Bjerkager, und in Klæbu war vor kurzer Zeit ein Seminar eingerichtet worden. Er versprach Iver, ihm die Ausbildung zu finanzieren, wenn er danach ins Dorf zurückkehren und die Kinder unterrichten würde. Für den jungen, begabten Bjerkager war das eine ungeheure Chance, und schon bald machte er sich auf den Weg nach Klæbu.
An Kindern fehlte es nicht. Zu Beginn des Jahrhunderts hatten in Oppdal um die tausend Seelen gelebt, inzwischen waren es an die dreitausendachthundert. Und während die Wanderschule weitermachte wie bisher, holte der Lensmann so viele Kinder zu sich, wie eine Klasse überhaupt haben durfte. Nämlich vierundzwanzig.
In Klæbu lernte Bjerkager, daß die Kinder Geschichte lernen sollten, indem sie das Gehörte nacherzählten, doch dazu mußte der Lehrer es zuerst drei- oder viermal vortragen. In Erdkunde sollten die Kinder an einer großen Tafel jedes Land mit Flüssen und Städten neu erschaffen, in Musik sollte der Lehrer die zweite Stimme singen, damit es schöner klang, jeder Schultag sollte mit Polka und Springer enden, damit die Kinder sich auch auf den nächsten Tag freuten. Jeden Morgen sollte natürlich ein Choral gesungen werden, doch auswendig sollten die Kinder nur Pontoppidans Glaubenssätze, die biblische Geschichte und den Katechismus lernen. Dieser Teil des Unterrichtsstoffes war nämlich der schwierigste, und gerade das, was man nicht versteht, sollte man auswendig wissen. Dann kann man es von Zeit zu Zeit hervorholen und überprüfen, ob man inzwischen vielleicht mehr versteht.
Geschichte, Erdkunde und Naturkunde sind nicht auf diese Weise unbegreiflich. Dieses Wissen sollten die Kinder sich auf eine Weise aneignen, die es zu einem natürlichen Teil ihrer selbst macht, zu ihren geistigen Armen und Beinen gewissermaßen.
Nach diesen Prinzipien also wurde die kleine Augusta unter Iver Bjerkagers mildem Blick unterrichtet. Er war ein hochgewachsener Mann, dunkel und mit Vollbart, ein lebendiger Erzähler, vielseitig und musikalisch, abends spielte er in der Küche zum Tanz auf.
Während der drei Wintermonate, die der Unterricht dauerte, wohnte Iver Bjerkager auf dem Hof, und abends saß er oft mit dem Lensmann zusammen und diskutierte über die allerwichtigsten Fragen. Ist Gott wirklich allgegenwärtig? Wo ist der Himmel? Wie sieht es dort aus? Was ist mit Sünden, die wir vor unserem Tod nicht mehr bereuen können – werden wir zur ewigen Pein verdammt, wenn uns zum Beispiel eine Lawine mitreißt? Und können wir auch nach dem Tod noch bereuen?
Probst Wexels hatte sich entsprechend geäußert. Er meinte, daß es durchaus möglich sein müsse, in der langen Zeit, die zwischen dem Tod eines Menschen und der Wiederkehr Christi verging, noch zu bereuen. Und Wergeland hatte vor kurzer Zeit erst behauptet, daß er zwar an eine Hölle glaube, aber nicht an eine ewige.
Alle anderen aktuellen Fragen – Straßenbau, der Konventikelerlaß und das neue Strafgesetz – waren Bagatellen im Vergleich zu diesen Dingen, man wußte schließlich, wie kurz das Leben im Vergleich zur endlosen Ewigkeit auf beiden Seiten doch ist.
Iver sagte: „Aber man kann nicht erwarten, daß ein Kind versteht, was Sünde ist und wie unendlich man im Jenseits bestraft oder belohnt wird. Wenn wir jung sind, kommt uns das Leben hier auf Erden ewig lang vor. Eine Unendlichkeit von Tagen und Jahren und Möglichkeiten liegt vor uns. Es kommt uns vor wie ein Meer, dessen anderes Ufer wir nicht sehen können. Ein Kind versteht deshalb nicht so leicht, was die Erwachsenen unter der Ewigkeit nach dem Tod verstehen. Die Ewigkeit ist doch hier! Eine Schulstunde bei einem übellaunigen Lehrer kann eine Ewigkeit voller Qualen sein – wozu braucht man dann noch eine Hölle? Ein Sommertag, an dem man im Sonnenschein Blumen und Beeren pflückt und die vielen Düfte wahrnimmt, kann ziemlich stillestehend wirken – wozu braucht man dann noch ein Paradies? Es steht geschrieben, daß vor Gott tausend Jahre wie ein Tag sind. Aber für ein Kind ist eine Stunde wie hundert Jahre. Das darf man als Schulmeister nicht vergessen.“
Der Eifer des jungen Iver gefiel dem Lensmann. Wenn er Zeit hatte, setzte er sich deshalb selbst mit ins Schulzimmer.
Augusta entdeckte bald, wie sehr ihr das Auswendiglernen lag. Vor allem, wenn es um Choräle und andere Lieder ging. Bjerkager brauchte ein Lied nur ein- oder zweimal zu singen, dann konnte sie es, denn die Wörter fügten sich so natürlich ineinander und paßten zur Melodie. So ähnlich war es mit den Ländern. Wenn man wußte, wo die Gebirge lagen, konnte man sich vorstellen, wo die Flüsse dahinströmten und wo sich in ihren Achselhöhlen und Ausbuchtungen Burgen und Städte gründen mußten. Wenn man dazu sah, wie sich an der Küste Ackerboden und Gebirge verteilten, dann konnte man das Land gleich zeichnen. Auch das war wie ein Lied. Und aus der Tatsache, daß die Menschen die Äcker bestellten und am Fuß der Berge ihre Häuser bauten, daß sie sich den Verhältnissen fügten oder dagegen aufbegehrten, daß sie Lieder über Trauer und Tod sangen und Jubelgedichte auf Geburt und Liebe verfaßten, folgte die Geschichte.
Es war wie ein Rundtanz: Lied – Land – Menschen – Lied. Lied – Land – Menschen – Lied.
Sie war zehn Jahre alt, als an einem Tag im Spätherbst Pastor Bjørnson mit seinem ältesten Sohn vor der Tür stand. Der Pastor hatte im Dorf etwas zu erledigen und wollte den Jungen solange auf dem Hof lassen. Er sei zu unruhig, um den Vater zu begleiten. Bjørnstjerne durfte an Bjerkagers Unterricht teilnehmen. Danach liefen sie zum Spielen in die Geröllhalde hinauf. Bjørnstjerne war seit ihrem Umzug nach Romsdalen mehrere Male mit seinem Vater nach Oppdal gekommen, aber sein letzter Besuch lag schon lange zurück, und jetzt wollte er alles über Kristiania hören. Augusta erzählte von ihrer Wohnung.
„Und Wergeland? Hast du Henrik Wergeland gesehen?“
„Ja, jeden Tag. Er wohnte doch gleich neben uns.“
Sie merkte, wie sie deshalb in seinen Augen wuchs. Sie kletterten immer wieder auf einen hohen, flachen Stein im Birkenwäldchen und sprangen herunter. „Er hatte Totenschädel auf dem Söller“, rief sie einmal im Sprung. „Totenschädel? Du lügst!“ Er sprang hinterher. Aber es stimmte. Bei Wergeland hatte in der Mansarde ein Student gewohnt. Der hatte Arme und Beine, einzelne Knochen und ein ganzes, grinsendes Totengerippe. Er studierte nämlich Medizin.
Hansemann und Augusta waren oft oben gewesen, um das Skelett zu bestaunen. Sie erzählte von den Knochen. Bjørnstjerne wurde nachdenklich, er schien mit seinen Gedanken weit