Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen

Der Thron des Riesenkaisers - Lena Klassen


Скачать книгу
versteckte sich hinter seinem Rücken. »Später«, versprach der Prinz, wenn die Zintas nach ihr fragten. Viel erzählte er nicht. Wie hätte er davon sprechen können: dass nun, da er geflohen war, drei Menschen für ihn umgebracht wurden. Sogar für das Kind würde ein anderer sein Leben lassen müssen. So sehr hoffte Sorayn, dass die anderen Gefangenen die Gelegenheit genutzt und das Weite gesucht hatten, aber so mutlos, wie er sie erlebt hatte, bezweifelte er das.

      »Seid ihr gut über die Grenze gekommen?« Es war ihm lieber, sich über die Erlebnisse der Sippe zu unterhalten.

      Toris nickte. »Als du mit den Soldaten mitgegangen bist, gaben sie uns ein Siegel für freies Geleit. Das haben wir vorgezeigt und wurden ungehindert durchgelassen. – Danke, Sorayn.« Und dann sagte er auf einmal: »Maja ist auch in Laring. Gar nicht weit von hier.«

      Sein Herz schlug hoch auf. »Tatsächlich? Sie ist hier?«

      »Du bist ein guter Junge.« Im Blick des dunkelhaarigen Mannes lag sehr viel Wärme. »Du hast es verdient, dass sie dir noch eine Chance gibt. – Bei Rin, bis heute wusste ich nicht, dass ich es dir sagen würde. Aber ich will erleben, dass diese Geschichte ein gutes Ende nimmt. Geh zu ihr und bring es in Ordnung.«

      Sorayn nickte. »Das werde ich tun.«

      Am nächsten Morgen gackerten die Hühner besonders laut. Der Prinz, der Toris’ Angebot angenommen hatte, in seinem Wagen zu schlafen, schreckte hoch und blickte aus dem Fenster. »Das kann nicht wahr sein!«

      »Was ist los?«, fragte sein Schwiegervater verschlafen.

      Der junge Riese nahm sich nicht die Zeit zu antworten. Er stürmte nach draußen.

      Schwer bewaffnete Soldaten hatten das Lager umstellt. Ihre Gesichter verrieten viel zu wenig, als warteten sie noch auf die Erlaubnis, sich ungeniert darüber zu freuen, dass sie die Zintas überrumpelt hatten.

      »Was fordert der Herr des Landes von uns?«, fragte einer der älteren Brüder. Er trug den gleichen Ausdruck auf dem Gesicht wie Sorayns Mitgefangene, dieselbe resignierte Traurigkeit wie Ori.

      »Oh nein«, murmelte Toris. »Nicht schon wieder! Wie sollen wir jemals in den Süden kommen, wenn sie ständig alle etwas von uns wollen?«

      »Ich bin da«, beruhigte Sorayn ihn. Und laut sagte er: »Der Fürst kann sich gerne unsere Aufführung am nächsten Markttag ansehen. Sicher besteht kein Bedarf daran, jetzt schon ein Schauspiel zu erleben.«

      »Das ist der Kerl, ohne Zweifel«, sagte einer der Soldaten. »Sehr groß, schwarze Haare, blaue Augen. Fürst Pidor wird zufrieden sein.«

      »Das hier ist nicht sein Gebiet!«, rief der Riesenprinz empört. Er hatte es bis hierher geschafft – es konnte doch nicht möglich sein, dass es selbst hinter der Grenze kein Entkommen vor diesen Leuten gab!

      »Das Land gehört ihm nicht, aber du schon.« Der Sprecher gestattete sich endlich ein Grinsen. »Wirel, der Fürst dieses Landes, ist ganz und gar nicht zufrieden damit, dass sich hier Diebesgesindel niedergelassen hat, das versucht, die Edlen des Königreiches Laring um seinen Tribut zu betrügen. Du wirst uns unverzüglich folgen. Des Weiteren verlangt Fürst Wirel den üblichen Wegzoll von diesem Pack.«

      Er hatte sich umsonst geopfert, hatte umsonst tagelang in der Knechtschaft ausgeharrt. Es hörte nicht auf. Es hörte einfach nicht auf!

      »Wie lange soll das noch so gehen?«, fragte Sorayn. »An der nächsten Grenze wieder? Und dann wieder? Wird jeder Landesherr sich einen Leibeigenen aus unserer Mitte nehmen? Wie sollen wir so je in den Süden kommen?«

      »Sei ruhig«, bat Toris. »Reize sie nicht noch mehr. Siehst du nicht, wie viele es sind? Das ist eine halbe Armee. Dagegen hast selbst du keine Chance.«

      »Wir können keinen von uns opfern«, sagte eine der Zinta-Frauen gequält. »Haben wir nicht beim letzten Rat beschlossen, dass wir uns nicht trennen wollen? Wir werden für den Fürsten arbeiten, wenn es nicht anders geht, aber wir bleiben zusammen.« Tränen füllten die feinen Gräben in ihrer braunen Haut.

      »Eine kluge Entscheidung.« Der Soldat nickte. »Aber der Große dort wird bestimmt wieder Schwierigkeiten machen. Kreist ihn ein.«

      Die Männer schienen nur auf diesen Befehl gewartet zu haben; sofort ritten sie auf ihn zu. Ihre Pferde trampelten über alles hinweg; eins der erhobenen Schwerter durchtrennte eine Wäscheleine.

      »Rasch!«, riefen ein paar Zintas. »Lauf, Sorayn! Du kannst uns doch nicht mehr helfen! Lauf, bevor alles noch schlimmer wird!«

      Er hatte nicht die Absicht, wegzulaufen. »Bringt die Kinder in den Wagen. Lasst sie nicht zusehen.« Die Soldaten versuchten, ihn zu umkreisen. Er blieb stehen und wartete, bis sie Stellung bezogen hatten. »Ergib dich!«, brüllte einer, der wohl ihr Anführer war.

      »Es wird nur schlimmer«, rief Toris. »Immer nur noch schlimmer! Kämpf nicht für uns, das bringt nichts. Denk an Maja. Lauf! Lauf!«

      Aber Sorayn konnte diese erneute Androhung von Gewalt nicht hinnehmen. »Versucht es«, sagte er. »Ihr werdet sehen, was ihr davon habt.«

      »Glaubst du, du hast auch nur den Hauch einer Chance? Wenn sie dich an die Mühle geschmiedet haben«, kündigte der Hauptmann an, »werden sie dich blenden. Man braucht keine Augen, um das Rad zu drehen.«

      Der Schmerz brach aus ihm heraus. Der junge Riese brüllte auf, griff nach einem der Speere, die auf ihn gerichtet waren, und wirbelte herum. Die Soldaten, die um ihn herumstanden, fegte er zusammen wie Unrat. Der Rappe des Offiziers stieg; Sorayn pflückte den Mann herunter und schleuderte ihn gegen die Angreifer, mitten hinein in die scheuenden, wiehernden Pferde. Irgendwo kreischten ein paar Frauen, während Sorayn wie ein Sturm über die Feinde kam, ein Herbststurm, wie ihn noch keiner erlebt hatte. Seine Wut entlud sich über ihnen. Er merkte nicht einmal mehr, ob sie schrien, ob sie schnell starben oder nicht und ob sie ihn um Gnade anbettelten. Blitze zuckten durch seine Adern, seine Faust krachte wie der Donner in sie hinein, ein Unwetter, das nicht enden wollte. Den Flüchtigen setzte er nach, riss sie von den Pferden, stampfte sie in den Boden.

      »Oh bitte! Oh bitte, bitte, bitte!«

      Aber er musste tun, was der Schmerz ihm befahl.

      Irgendwann erreichte die Stimme sein Ohr.

      »Oh bitte!«

      Da standen die Ziehenden und schauten ihn an. Männer und Frauen und Kinder.

      Nun würde man auch sie jagen wie tollwütige Füchse … Nun gab es erst recht keinen Ausweg mehr. »Es wird immer nur noch schlimmer«, flüsterte er. »Du hattest recht, Toris.« Er starrte auf seine blutigen Hände.

      »Du musst damit aufhören«, sagte sein Schwiegervater leise. Der Einzige, der noch neben ihm stand, der sich traute, in seine Nähe zu kommen, ins Zentrum des Sturms. »Du musst aufhören, Sorayn.«

      Er blickte in die dunklen Augen des Zintas und las das gleiche Entsetzen darin, das er selbst empfand.

      »Was bin ich?«, fragte er. »Ein Ungeheuer?«

      »Du kannst nicht jeden töten«, sagte Toris. »Auch wenn sie uns gefangen nehmen wollen, auch wenn sie uns quälen und umbringen … Du kannst sie nicht alle töten. Was willst du tun? Gegen ganz Deret-Aif kämpfen?«

      »Nein. Nur gegen einen. Ich werde nach Kirifas gehen und Zukata vom Thron stürzen.«

      Toris sah ihn an und schüttelte besorgt den Kopf.

      »Grüß Maja«, sagte Sorayn. »Bitte sie in meinem Namen um Verzeihung für alles. Aber ich kann jetzt nicht zu ihr, ich kann unser Glück nicht über die furchtbaren Dinge stellen, die in diesem Land geschehen.«

      Toris nickte.

      »Vertrau mir. Ich bringe alles wieder in Ordnung. Das verspreche ich dir.«

      »Versprich nicht zu viel«, sagte Toris und ging zurück zu den anderen, und Sorayn wandte sich ab von dem, was er getan hatte, und verschwand im Wald.

      Конец


Скачать книгу