Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen
bin nicht hergekommen, um zu bleiben.«
Der Zinta antwortete ihm nicht. Und der Riesenprinz lag lange Zeit da und spürte die schwere Müdigkeit in seinen Knochen, das ungeduldige Knurren seines Magens, und die Wut, die in seinem Herzen aufbrannte und seinen ganzen Körper in Flammen stehen ließ.
Mehrere Tage, während er Sandsäcke schleppte, sich mit dem schlechten Essen zufriedengeben musste und sein Hunger immer größer wurde, grübelte er darüber nach, wie er der ganzen Gruppe zur Freiheit verhelfen konnte. Der junge Zinta versuchte eine Weile, den Neuen mit ausdauerndem Schweigen dazu zu bewegen, seine Gedanken für sich zu behalten, aber schließlich zermürbten ihn die hartnäckigen Fragen und er wandte sich seinem unbelehrbaren Mitgefangenen ärgerlich zu.
»Was glaubst du, wie es für den Aufseher aussieht, wenn du pausenlos auf mich einredest? Als würdest du versuchen, mich zu etwas zu bringen, was ich nicht will. Was das wohl sein könnte?«
»Und er hätte recht«, sagte Sorayn. »Natürlich möchte ich, dass du fliehst. Ich will, dass wir alle gemeinsam die Flucht wagen.«
»Vergiss es.«
»Warum? Nur so können wir verhindern, dass jemand stirbt.«
»Sie werden nicht mitkommen. Wohin auch? Wohin würdest du sie führen?«
»Wo es besser ist.«
»Ach, und wo soll das sein?«
»Ich weiß nicht. Auf meinem Weg mit der Sippe sind wir durch viele schöne Gegenden gekommen.«
Sie waren beide lauter geworden. Hastig senkte der erfahrenere Arbeiter die Stimme. »Und dort willst du diese Leute hinbringen? Von denen einige so alt sind, dass sie kaum gehen können? Während uns vierzig Soldaten auf den Fersen sind, beritten und bewaffnet?«
»Wir nehmen die Pferde.«
»Ach, dass ich darauf nicht gekommen bin! Natürlich, wir nehmen die Pferde. Abgesehen davon, dass manche von diesen armen Leuten noch nie geritten sind, ist das ja kein Problem. Wir reiten einfach fort. Falls wir an der Landesgrenze aufgehalten werden, lässt man uns bestimmt einfach durch, wenn wir erklären, was wir wollen. Und irgendwann kommen wir in einem Land an, in dem alle freundlich sind und wo es nichts ausmacht, dass wir nichts besitzen und manche alt und krank sind. Wo man uns Häuser zur Verfügung stellt und wir Brot satt zu essen haben. Vielleicht auch noch Braten und Wein?« Er stieß die Silben hervor, kaum fähig zu sprechen, den schweren Sack auf dem Rücken, aber er war jetzt in Fahrt und hörte nicht auf.
»Willst du nicht zu deiner Sippe?«
»Fragt der Kerl mich doch glatt, ob ich zu meiner Familie will! Du bist ein wahrer Familienmensch, wie?« Der Zinta funkelte ihn an. Er warf seine Last mühsam ab und bohrte dem großen, starken Neuen den Zeigefinger in die Brust. »Ich werde dir sagen, was du bist. Du bist ein Idiot. Du bist der dümmste Mensch, der mir je begegnet ist. Und jetzt tu deine Arbeit und lass mich in Ruhe.«
Sorayn hatte gedacht, dass der Schmerz ihn verlassen hatte, doch er war da, ein Schmerz, der immer zu ihm gehören würde. Du Idiot … Seht her, den Idioten, was für ein Schauspiel!
Warum hatte er nicht jemand anders in die Gefangenschaft gehen lassen? Einen dieser heißblütigen Burschen, die für Stolz und Ehre lebten? Sie hätten, sobald sie durchschaut hatten, wie es hier zuging, die gleiche Wahl getroffen wie sein Mitgefangener. Man ließ andere nicht für sich sterben. Selbst wenn man in den Staub gedrückt wurde, konnte man den Kopf hoch erhoben tragen, solange man sich nur als Beschützer der Schwachen verstand. Aber er konnte nicht bleiben. Und es stimmte, er konnte alle diese Menschen nicht mitnehmen. Trotzdem musste er es wenigstens versuchen. Er konnte doch nicht zulassen, dass sie hier lebten und unter der Last ihrer Arbeit wankten, er konnte doch nicht …
Sorayn schuftete wie ein Tier. Er schleppte die Säcke so eilig, dass die Frauen kaum hinterherkamen damit, sie zu füllen. Der Deich wuchs in die Höhe und in die Länge wie eine mächtige Schlange, die sich neben den Fluss legte. Manchmal sah er hinaus auf das Wasser und sehnte sich danach, den Schmerz zu kühlen, so wie früher. Sich den Staub abzuwaschen von der Haut, den Sand aus den Augen zu reiben, und darauf zu warten, dass alles, was ihn quälte, weggespült wurde.
Oft sah er den Frachtkähnen zu, die an ihm vorbeizogen, flussabwärts zum Meer, zur Laringer Bucht, flussaufwärts nach Torn und Aifa. Vielleicht war das eine Möglichkeit. Alle Gefangenen auf ein solches Schiff zu bringen und aus der Reichweite der Soldaten zu entkommen. Aber die meisten konnten nicht schwimmen. Sie konnten gar nichts – nicht reiten und nicht schwimmen und sich nicht wehren. Niemand gab dem lächerlichen kleinen Aufseher Widerworte, und Sorayn, der ein einziges Mal seine Zunge nicht im Zaum halten konnte, war mit einem Hungertag für sie alle bestraft worden, genau wie der Zinta gesagt hatte. Das Kind, ein Mädchen von acht oder neun Jahren, hatte sich weinend an seine Großmutter gekuschelt, und er hatte sich geschämt.
»Auf die Knie!« Ein paar Soldaten preschten auf ihren Pferden am Flussufer entlang und trieben die erschrockenen Arbeiter zusammen. »Der Fürst kommt, um den Deich zu besichtigen.«
Pidor, ein schon älterer Mann mit grauem Haar, kam sehr langsam und sehr hochnäsig angeritten, ohne die Gefangenen überhaupt zu beachten. Seine Aufmerksamkeit galt dem Rianang.
»Schon fast fertig!«, rief er erfreut aus, während er den Deich in Augenschein nahm. »Dann können die Stürme kommen, wir fürchten sie nicht.«
»Es ehrt uns, dass alles zu Eurer Zufriedenheit ist«, sagte einer seiner Begleiter.
Der Adlige musterte die Gefangenen. Sorayn hätte sich dazu zwingen müssen, demütig den Kopf zu senken, aber er konnte nicht, und so trafen sich ihre Blicke, und Fürst Pidor zuckte zurück.
»Ein Neuer?«, bemerkte er leichthin.
»Und der Grund, warum wir so schnell fertig wurden.« Der hagere Aufseher drängte sich nach vorne, um auch etwas vom Lob abzubekommen. »Der arbeitet für drei, aber es ist hartes Brot, ihn zu beaufsichtigen.«
»Dann achtet gut auf ihn, dass er nicht abhanden kommt. Den will ich für meine Mühle. Und wenn er einen Fluchtversuch macht, sterben drei. Hört ihr? Zwei von dem Lumpenpack und einer von euch Soldaten. Also bewacht ihn gut.«
»Ja, Herr.«
Der junge Riese merkte, wie die Wachen näher an ihn heranrückten.
»Drei«, wiederholte der Fürst mit leisem Lachen, und der Schmerz in Sorayns Brust schien förmlich zu explodieren.
Er stand auf. »Weiß der Kaiser eigentlich, was hier läuft?«
»Wie?« Pidor hob pikiert die Brauen und wandte sich an den Mann mit der Gerte. »Wissen deine Leute nicht, dass sie mich nicht anzusprechen haben?«
»Runter!«, bellte dieser und versetzte dem aufsässigen Neuen einen Schlag auf den Rücken, der jeden Menschen in den Staub gezwungen hätte.
»Was würde Zukata sagen, wenn er wüsste, was hier geschieht?«, fragte Sorayn, ohne auf die Prügel zu achten. »Und er wird es erfahren, dafür werde ich sorgen.«
Der Fürst beugte den Oberkörper zurück, als der unverschämte Gefangene die Zügel seines Pferdes ergriff. »Wachen!«, kreischte er.
Sorayn griff hinter sich und entriss dem Aufseher die Peitsche. Er zog sie dem Fürsten übers Gesicht, während die Soldaten schon heranstürmten.
»Die Fürsten unterstehen den Königen«, sagte er. »Und die Könige dem Kaiser. Wie kannst du dir erlauben, deine Untertanen so zu behandeln?« Doch schon richtete sich ein Dickicht von Schwertern und Speeren auf ihn und grobe Hände fassten nach ihm.
»Bringt ihn nicht um!«, rief Pidor und befühlte seine Wange, auf der ein roter Streifen aufbrannte. »Den will ich lebend. Den brauche ich für die Mühle.« Er schnaufte. »Habe ich nicht gesagt, ihr sollt auf ihn aufpassen? Bringt ihn in die Mühle. Schmiedet ihn ans Rad. – Du dachtest wohl, du könntest deinem Schicksal entgehen? Dachtest, ich würde es gleich hier und jetzt beenden, wenn du mich reizt? Das haben schon andere versucht. Du wirst nicht sterben.