Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen

Der Thron des Riesenkaisers - Lena Klassen


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sie jetzt am frühen Morgen gerade erst mit der Arbeit angefangen haben konnten, wirkten die Frauen an der Sandbank erschöpft. Eine von ihnen hätte vom Alter her seine Großmutter sein können, sie erinnerte den Prinzen an Liravah. Mit langsamen, gleichmäßigen Bewegungen schaufelte sie den Sand in einen Sack, den ein kleines Mädchen offen hielt.

      »Dich hat uns Rin geschickt«, sagte einer der zerlumpten Männer, der sich gerade einen frisch gefüllten Sack auf den Rücken lud. »Jetzt geht es hoffentlich etwas schneller.«

      Nicht alle waren Zintas. Einige von ihnen gehörten unzweifelhaft zum Ziehenden Volk; ihre braune Haut, ihre dunklen Augen und ihr schwarzes Haar wiesen sehr stark darauf hin. Falls diese Ähnlichkeit zufällig war, mussten sie jedenfalls trotzdem damit rechnen, als der letzte Abschaum behandelt zu werden. Andere Gefangene jedoch, wie die grauhaarige Frau und ihre blonde Enkelin, kamen wahrscheinlich aus dieser Gegend.

      »Warum seid ihr hier?«, fragte Sorayn, während er sich gleich zwei Säcke griff. »Was ist das für ein Fürst, dieser Pidor?«

      »Sehr hohe Steuern verlangt er«, antwortete die alte Frau und seufzte laut. »Nicht jeder kann sie zahlen.«

      »Sag ihm nichts«, rief die Arbeiterin neben ihr. »Vielleicht ist er geschickt worden, um uns auszuhorchen.«

      Sorayn trug die Säcke zu der langsam wachsenden Mauer und wuchtete sie obenauf. Er sah am Flussufer entlang. Der Rianang grub sich hier in einer langen Krümmung ins Land hinein. Man konnte sich gut vorstellen, dass es hier Überschwemmungen gab, sobald die Herbststürme begannen.

      »Ist das Dorf sehr nah?«, fragte er.

      Einer der Männer schnaubte durch die Nase. »Das Dorf? Welcher Idiot würde so nah am Fluss ein Dorf anlegen? Der Fürst hat dort hinter der Biegung sein Domizil. Die Dörfer liegen höher.«

      »Still«, warnte ein braunhäutiger, glutäugiger Bursche. »Nichts über den Fürsten, zu niemandem! Haben wir nicht schon genug Ärger?«

      »Von welcher Sippe bist du?«, erkundigte sich Sorayn.

      »Warum fragst du? Was kümmert dich das Ziehende Volk? Sie haben uns gesagt, sie würden einen Zinta bringen, aber du bist keiner von uns.«

      »Ich habe gesagt, sie würden uns aushorchen lassen«, warnte ein dritter Mann. »Lasst euch bloß zu nichts hinreißen.«

      Sorayn schüttelte besorgt den Kopf. Zintas waren normalerweise nicht ängstlich. Sie gaben nichts auf Könige und andere Würdenträger, hatten nur Spott übrig für ihre Gesetze und ihre Macht; normalerweise fürchteten sie sich nicht davor, alles auszusprechen, was ihnen in den Sinn kam. Auf den Märkten verhöhnten Puppenspieler und Liedermacher die Mächtigen, ohne sich darüber Sorgen zu machen, dass sie dafür im Kerker landen könnten. Welcher Landesherr hätte sich eine Blöße gegeben, indem er sie ernstnahm? »Wer dem Sänger auf den Mund schlägt, wird schon wissen, warum«, hieß es. Und wenn jemand doch seine Soldaten schickte, waren sie schon wieder weitergezogen.

      »Wie lange seid ihr schon hier?«, fragte der Riesenprinz. Er versuchte zu erkennen, wie weit die aus Sandsäcken aufgestapelte Mauer reichte.

      »Seit dem Frühling.«

      »Sag ihm nichts!«, fuhr der andere dazwischen, doch der Erste starrte Sorayn herausfordernd an.

      »Seit dem Frühling«, wiederholte er. »Aber für mich ist es, als wären meine Fußknöchel gebrochen und als würde die ganze Welt ohne mich weiterwandern. Wird es für dich auch so sein, wer auch immer du bist? Mein Rücken schmerzt und ich kann mich kaum aufrichten, aber es sind meine Füße, die wehtun, weil ich nicht fortgehen kann.«

      »Warum nicht?«, fragte Sorayn. »Warum bist du nicht geflohen? Deine Sippe ist längst weit fort und in Sicherheit. Keiner der Soldaten wird dich von dort zurückholen. Da ist der Fluss. Es wäre ein Leichtes, sich hineinzuwerfen und wegzuschwimmen. Warum bist du noch hier?«

      Die beiden Männer sahen sich an.

      »Er wüsste es, wenn Pidor ihn geschickt hätte«, sagte der Zinta.

      »Was wüsste ich?«

      »Wir können nicht fliehen. Für jeden, der es versucht, muss einer der anderen dran glauben.«

      »Was?« Er starrte seinen Mitgefangenen an, der Sandsack glitt ihm vom Rücken. »Da fehlen mir die Worte.«

      »So ist es«, sagte der junge Ziehende. »Was meinst du, weshalb wir keine Fesseln tragen? Dort hinten sind die Soldaten. Einer könnte möglicherweise an ihnen vorbei, vielleicht, wenn er viel Glück hat, sich sogar ein Pferd schnappen … Aber wer wird für ihn sterben? Die Frauen an der Sandbank tragen Fußfesseln.« Er schüttelte den Kopf. »Glaubst du immer noch, es wäre so einfach?«

      Der Aufseher stolzierte auf sie zu, in der Hand etwas, das wie eine Reitgerte aussah. »Weitermachen! Was starrst du in die Luft?«

      Sorayn hörte ihn gar nicht. Er sah zu den Frauen hinüber, von denen keine es wagte, aufzublicken und die Aufmerksamkeit des Hageren auf sich zu ziehen.

      »Nimm den Sack, schnell!«, zischte der Zinta hinter ihm. »Wenn du dir Ärger einhandelst, bekommen wir alle nichts zu essen.«

      Der junge Riese bückte sich und schleppte den schweren Sandsack zum Deich, und auch er vermied es, das dürre Männlein mit einem Blick aus seinen zornigen Augen herauszufordern. Die Wut begann bereits in ihm zu kochen, aber immer noch hatte er sich in der Gewalt.

      Gegen Mittag gab es einen dünnen Getreidebrei, dem weder Salz noch Honig beigefügt worden waren. Danach arbeiteten sie bis zum Abend. Bei Anbruch der Dunkelheit wurden sie in einem Schuppen eingeschlossen, in dem sie sich aus Haufen von Stroh ihre Nachtlager bereiten konnten.

      »Sag mir deinen Namen, Bruder«, forderte Sorayn den Zinta auf, neben dem er sich einen Platz im Stroh wählte.

      »Ich bin nicht dein Bruder. Schweig still. Wenn der Wachsoldat draußen hört, dass wir reden, bekommt jeder einen Schlag auf den Rücken.«

      »Jeder?«

      »Jeder. Hast du es noch nicht begriffen? Wir werden immer alle bestraft.«

      »Welches dunkle Herz hat sich dies alles ausgedacht«, flüsterte Sorayn. »Und doch bin ich dein Bruder. Ich suche Maja, meine Frau, eine Zinta.«

      Der andere sog scharf die Luft ein.

      »Der Name sagt dir etwas? Ich kann kaum glauben, dass ihr die Namen von allen aus den vielen Sippen kennt.«

      »Manche Namen«, flüsterte der Ziehende, »kennt jeder von uns. Jetzt weiß ich, wer du bist. Aber das ändert überhaupt nichts. Du gehörst nicht zu meinem Volk. Du hast gegen Remanaine gekämpft, und der ist einer von uns.«

      »Ich bin nicht sein Feind. Wenn du so vieles weißt, solltest du auch das wissen.«

      »Schweig endlich still! Wenn du nur ein Quäntchen Mitgefühl hast, sprich nicht so viel mit mir. Denn falls du doch daran denkst zu fliehen, möchte ich ungern derjenige sein, den sie umbringen.« Der Zinta drehte ihm demonstrativ den Rücken zu, doch vielleicht spürte er Sorayns bohrenden Blick, denn er seufzte leise und erzählte so leise, dass er kaum zu verstehen war, von der letzten Flucht.

      »Das war einer, der den Fürsten irgendwie beleidigt hatte. Hatte ihn einen Banditen genannt und wurde dafür hier zu uns geschickt. Der Mann hielt sich für besonders mutig, so wie du, und hat sich gewundert, warum wir gehorchen, warum keiner sich traut, wegzulaufen. Ihm waren die anderen gleichgültig, er hat mit kaum jemand geredet. Mit mir ein paar Mal, mit einem anderen Kerl zuweilen. Als er geflohen ist, haben die Soldaten den anderen Gefangenen ausgewählt. Sie hätten auch mich nehmen können, weißt du? Aber ich hatte Glück.«

      »Wie ist er gestorben?« Nur noch das eine wollte er wissen.

      »Zu Tode geprügelt haben sie ihn. Hier vor uns allen. Sogar das Kind musste zusehen.«

      Sorayn starrte in die Dunkelheit.

      »Frag mich nicht nach meinem


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