Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen

Der Thron des Riesenkaisers - Lena Klassen


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König beschweren? Vielleicht gar beim Kaiser? Ha! Versucht das doch! Ich bin der Herr dieses Landes. Und wie überall in ganz Deret-Aif werden hier die Gesetze des Kaisers aufs Sorgfältigste befolgt.«

      »Das kann nicht sein.« Der Riesenprinz hatte das Gesicht des Fürsten die ganze Zeit über beobachtet. Er wollte die Zeichen von Angst und Unsicherheit nicht verpassen, wenn er den Tyrannen daran erinnerte, dass der Kaiser Rechenschaft von ihm fordern könnte. Doch entgegen seiner Erwartung bekam er weder ein Erbleichen zu sehen noch hörte er das geringste Zittern in der Stimme des grausamen Fürsten. Dieser war sich einfach zu sicher, dass weder König noch Kaiser ihn bestrafen würden. »Das darf Zukata nicht zulassen!«

      Sorayn fühlte kaum die scharfen Spitzen der Schwerter, die sich ihm durch seine schäbige Kleidung hindurch in die Haut bohrten. Das Beben, das ihn durchfuhr, das ihm den Schmerz zurückbrachte, fühlte sich an, als würde es ihn auseinanderreißen. Er war kurz davor, sich auf seinen Gegner zu stürzen und die Hände um seinen Hals zu legen – und ihm zu zeigen, was es hieß, in einer Welt des Schmerzes zu leben.

      Aber seine Wut galt nicht nur Pidor. Zukata war es, der den kleinen Fürsten solche Macht gegeben hatte, der Schrecken und Leid über die einfachen Menschen gebracht hatte. Zukata hatte dies zu verantworten. Zukata – und Sorayn selber. Wie hatte er einem Räuber und Entführer nur den Thron überlassen können, ihm gestatten, ungehindert nach Kirifas zu ziehen! Gerecht und weise wie Kanuna – hatte er wirklich geglaubt, der böse Riese könnte diesen Anspruch erfüllen?

      Er musste nach Kirifas. Sofort. So konnte es nicht weitergehen. Er hatte vermeiden wollen, dass einer seiner Mitgefangenen getötet wurde, und war deshalb zu lange geblieben. Nun waren es schon drei, die für ihn sterben würden. Aber hatte er eine Wahl? Wenn er Zukata nicht aufhielt, würden noch viel mehr Menschen sterben.

      »Sehe ich Mord in deinen Augen?«, fragte Pidor munter. »Der Kaiser darf tun, was ihm beliebt. Und wenn er der Ansicht ist, dass ihr dreckigen Zintas die Flöhe im Pelz seiner Untertanen seid, dann gebe ich ihm recht. Genau das seid ihr. Und jetzt schafft ihn fort.«

      Vierzig Soldaten. Der Prinz hatte in den vergangenen Tagen darüber nachgedacht, sie alle zu töten. Vierzig Mann. Dann konnten die Arbeiter fliehen, ohne verfolgt zu werden, jedenfalls eine Zeitlang, bevor König Settan von Laring davon erfuhr und seine eigenen Truppen schickte. Aber die Flüchtlinge konnten nur sicher sein, solange Sorayn bei ihnen war. Und wie hätte er sie mitnehmen können, auf dem Weg, den er gehen würde, rasch, mit den ausgreifenden Schritten eines Riesen?

      Vierzig Mann. War es nicht entsetzlich, alle umzubringen? Nicht nur vierzig Mann, sondern vierzig Männer, vierzig Menschen … Er mochte gar nicht daran denken, dass er im Krieg über seine Feinde geweint hatte, über jeden, der starb. Vielleicht war er gar nicht in der Lage dazu, mit irgendjemandem zu kämpfen. Hatte der Segen ihn in einen Schwächling verwandelt? Ein wenig fürchtete er sich davor, zu erfahren, ob er tun konnte, was getan werden musste, oder nicht.

      Vierzig Mann. Er hatte gehofft, dass es einen anderen Weg gab, dass ihm eine andere Möglichkeit einfiel, nicht nur selbst zu fliehen, sondern den Tod der Zurückbleibenden zu verhindern. Er wollte gar nicht feststellen müssen, ob er zu einem solchen Gemetzel fähig war. Vierzig Mann! Gegen drei.

      Sorayn senkte den Kopf.

      Drei. Drei werden sterben. Nur drei, wenn du ruhig bist, wenn du dich zusammenreißt. Du kannst es. Du kannst dich beherrschen …

      Sie führten ihn ab. Er ging in ihrer Mitte, gebeugt, wie einer, der besiegt war, und besiegte doch nur sich selbst. Drei. Es werden nur drei sein …

      Die Blicke der anderen waren feindselig. Er hatte damit gerechnet. Auch damit, dass es kaum zu ertragen sein würde, ihren Schmerz und ihren Zorn zu fühlen und zu wissen, dass er ihn verdiente.

      »Musstest du das Maul so aufreißen?«, hielt ihm eine der Frauen entgegen. »Und was hast du nun davon?«

      Hunger. Ständig. In den vergangenen Tagen hatte Sorayn erlebt, was es bedeutete, nie richtig satt zu sein und dabei noch hart arbeiten zu müssen. Doch die anderen litten darunter noch weit mehr als er. Dass es jetzt zur Strafe gar nichts gab, tat ihm für seine Mitgefangenen leid. Für sich selbst hatte er längst mit allem hier abgeschlossen.

      »Na, siehst du.« Der Zinta setzte sich neben ihn ins Stroh. »Genau das habe ich gemeint.«

      Das Kind weinte. Diesen Laut zu hören, dieses untröstliche Jammern und Schluchzen, war schlimmer als alles andere.

      »Ich werde gehen«, sagte der Riesenprinz laut.

      Ein paar lachten ungläubig. Er war gefesselt; die Soldaten hatten ihm, damit er auf gar keinen Fall entkam, Arme und Beine mit einer Eisenkette gefesselt und diese um einen der dicken Balken der Scheune geschlungen.

      »Du wirst nirgendwohin gehen.« Bis jetzt hatte keiner mit ihm reden wollen, doch der heutige Tag hatte sie alle so aufgewühlt, dass sie ihre Vorsicht vergaßen. Die Wut auf ihn funkelte in ihren Augen. »Morgen bringen sie dich in die Mühle.«

      »Und wir dachten«, sagte die alte Frau, »wir dachten, dass Rin dich geschickt hat, um einen Teil der Last von uns zu nehmen.«

      Sorayn bewegte vorsichtig die Handgelenke und horchte auf das Klirren der metallenen Fesseln.

      »Ihr dachtet, Rin schickt euch jemanden, der eure Gefangenschaft teilt? Glaubt ihr wirklich, dass er so handeln würde? Würde er euch nicht vielmehr jemanden schicken, der euch befreit?«

      Er zog etwas stärker an der Kette und durch das hohe Gewölbe der Scheune lief ein Seufzen.

      Fingerdickes Eisen. Es ließ ihn an den goldenen Halsschmuck vornehmer Damen denken, so zart und fein. Das war nichts gegen die riesigen Schlingen der Ankerkette, an der er seine wahre Kraft erprobt hatte. Das knirschende Geräusch von Metall auf Metall klang wie Musik in seinen Ohren.

      »Ich habe dir gesagt, dass wir nicht fliehen können«, sagte der Zinta.

      »Und du, Großer«, höhnte ein anderer, »wirst auch nirgendwohin gehen.« Warum klangen ihre Stimmen so hasserfüllt? War es die Angst um ihr eigenes Leben oder der Neid auf einen, der es wagte, den Kopf zu heben und dem Fürsten ins Gesicht zu schlagen?

      »Kommt mit mir«, forderte er sie auf. Die Balken stöhnten auf, als er die Eisenkette prüfend straffte. Trauriger und bedrängter schienen sie zu sein als die Menschen.

      Sorayn fühlte die ganze Last des Mitleids mit ihnen und ihrer Schwäche und ihrer Verzweiflung. Wie viele würden sterben, wenn er floh? Und trotzdem konnte er nicht bleiben. Er konnte sich nicht selbst zum Gefangenen machen. Wie hätte er sein eigenes Leben dafür opfern können – für Menschen, die weiterhin in Knechtschaft lebten? Leiden, damit sie weiterhin leiden konnten? Er horchte in sich hinein, ob der Segen, der ihm schon einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, ihm befahl, alles aufzugeben und hier zu bleiben, aber er fühlte nur das unwiderstehliche Bedürfnis in sich, aufzustehen und in der Dunkelheit zu verschwinden. All das und alle diese Menschen hinter sich zu lassen.

      Er konnte sich nicht für sie opfern.

      »Ich nehme jeden von euch mit, der mich darum bittet«, zwang er sich zu sagen, obwohl er davon träumte, allein zu gehen, obwohl er mit raschen Schritten Toris und seiner Sippe nacheilen wollte. Aber wenigstens das konnte er noch für diese Arbeiter tun. Vielleicht hatte ja tatsächlich Rin ihn zu ihnen geführt, um ihnen den Weg in die Freiheit zu bahnen. »Auch wenn ich befürchte, dass die meisten von euch zu feige sind, um die Gelegenheit zu nutzen, wenn sie sich bietet.«

      »Nicht alle sind so stark wie du«, flüsterte der Zinta.

      »Wie stellst du dir das vor?«, rief einer, und zwei Frauen schrien erschrocken auf, als auf einmal Staub und Spinnweben von der Decke auf sie herabregneten.

      »Er darf nicht fliehen! Wachen!« Sie drängten sich doch tatsächlich an den Ausgang und riefen verzweifelt. »Wachen!«

      Als Sorayn aufstand und die Arme auseinanderriss, fiel die Kette rasselnd von ihm ab. Im nächsten Moment schon öffneten einige Soldaten die Tür, um zu sehen, was der Lärm sollte.


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