Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen
nach draußen. Er fühlte sich dabei nicht froh. Kummer hing an ihm wie ein weinendes Kind, das sich an seinen Rücken klammerte.
Das Mädchen! Er wandte sich noch einmal um. »Gib mir deine Enkelin«, sagte er zu der Alten, die mit den anderen an die Rückseite der Scheune gewichen war und mit schreckensgeweiteten Augen seinen Ausbruch beobachtete. »Man soll mir nicht nachsagen, ich ließe Kinder für mich sterben.«
»Geh«, flüsterte die alte Frau.
»Nein!« Ein paar hysterische Arbeiterinnen hielten die Kleine fest. »Nein! Wenn sie geht, muss noch jemand sterben! Dann bringen sie noch einen um!«
Sorayn schüttelte den Kopf. Die Traurigkeit kroch ihm in den Nacken und krümmte ihn, schwerer als jeder Sandsack, den er geschleppt hatte. Mit einigen raschen Schritten war er bei den Gefangenen, die sich an das Mädchen klammerten, die Hände in seine Arme krallten, in sein Haar, als wollten sie es nie wieder loslassen. Musste er jetzt schon gegen Frauen kämpfen, gegen hungrige, geschwächte, versklavte Frauen, um ein Kind zu retten? Seine Wut verlieh ihm sonst eine rauschhafte Sicherheit im Kampf, doch jetzt, während er nichts als diese dumpfe Bedrücktheit fühlte, kam ihm jede seiner Bewegungen ungelenk vor. »Gebt sie mir«, befahl er.
»Nein!« Ihre Augen weit aufgerissen, hasserfüllt, fast wahnsinnig vor Angst und Verzweiflung. Hatte Fria, die Riesin, ihm nicht beigebracht, eine Frau zu schlagen? Und doch fiel es ihm schwer, er zögerte, er wünschte sich, sie würden ihm einfach gehorchen, so wie sie dem Aufseher gehorchten und den Wünschen des Fürsten Folge leisteten.
Er verlor zu viel Zeit. Die Soldaten, die er in die Flucht geschlagen hatte, würden in Kürze mit Verstärkung wiederkommen. Wenn er nicht wollte, dass alle vierzig für ihn starben, musste er jetzt verschwinden.
Die Augen des Kindes. Ohne Hass. Erschrocken, ja, aber ohne jene panische Angst, welche die anderen dazu gebracht hatte, sich auf es zu stürzen.
Er wandte sich um. Hinter ihm rief die Großmutter: »Bitte, bitte, nimm sie mit!«
»Soldaten!«, schrie jemand. »Wo bleiben die Soldaten?«
Sorayn trat vor den Balken, der die Scheune trug, umarmte ihn wie einen langvermissten Freund, wie einen zweiten Riesen. Nein, Maja würde er so nicht umarmen, mit einer Kraft, die ihr die Rippen gebrochen hätte. Staub und Heu rieselten von oben herab, ein Ächzen und Wimmern tönte aus allen Winkeln, das Holz kreischte auf …
Die Frauen ließen das Mädchen endlich los und rannten um ihr Leben. Sämtliche Gefangenen strebten kreischend zum Ausgang. Nur die Alte und ihre Enkelin blieben in der hintersten Ecke, als hätte er ihnen befohlen, dort zu warten.
Die hohen Holzwände wankten und wackelten … Er gab dem Balken einen letzten Stoß, lief zu den beiden, die auf ihn warteten – hatte er dieses Vertrauen verdient, dass sie dazu brachte, nicht mit den anderen zu fliehen? –, und warf sich gegen die Bretter. Er zog seine Schützlinge durch die entstandene Öffnung, bevor die ganze Scheune mit einem tiefen Seufzer zusammenfiel.
»Geh mit ihm, Kind«, sagte die Alte. »Ich würde euch nur aufhalten. Kümmert euch nicht um mich! Flieht!«
»Großmutter! Nein!«
Er wartete nicht länger, hob das Mädchen hoch und verschwand in die Nacht hinein.
Er war es nicht gewohnt, Rücksicht zu nehmen. Sie kamen viel zu langsam vorwärts und die Kleine weinte viel. Sorayn war gezwungen, ständig darauf zu achten, dass er sie nicht irgendwo hinter sich verlor. Sie rief nicht, wenn er aus ihrem Blickfeld verschwand, und einmal musste er sie suchen, nachdem er sich länger nicht nach ihr umgedreht hatte.
»So geht das nicht«, sagte der Riesenprinz. »Du musst etwas sagen, wenn du nicht so schnell kannst. Bei Rin, kannst du nicht sprechen?«
Sie sah ihn nur an und Tränen quollen aus ihren Augen.
»Soll ich dich tragen?«
Aber als er die Hände nach ihr ausstreckte, wich sie vor Schreck wimmernd zurück. Auf keinen Fall wollte sie getragen werden.
Es dauerte mehrere Tage, bis er aus ihr herausbekam, wie sie hieß.
»Ori.«
»Was? O-ri?« Er fragte mehrmals nach, denn dieser Name kam ihm merkwürdig vor, aber er war, wie sie ihm versicherte, durchaus üblich.
»Zwei meiner Freundinnen heißen auch so«, sagte sie und dachte dabei vielleicht an die Zeit, in der sie in einem Dorf gelebt hatte, ohne irgendetwas von Fürst Pidor zu wissen, eine Zeit, bevor sie mit ihrer Großmutter in der Knechtschaft gelandet war, denn sie versank wieder in ihr Schweigen, aus dem er sie lange Zeit nicht befreien konnte.
Eine Weile gingen sie auf der Straße, denn Ori fiel es schwer, über Gestrüpp und Dornenranken zu steigen, doch immer wieder ritten Soldaten vorbei. Sorayn hoffte, einen Kampf vermeiden zu können. Er musste sich darauf konzentrieren, für die Verpflegung zu sorgen. Da ihre Verfolger immer noch in der Nähe waren, durfte er kein Feuer anzünden. Jetzt im Herbst bot der Wald Nahrung im Überfluss, Beeren, Pilze, Nüsse, Wurzeln. Sorayn brachte Ori Hände voll schwarzer, süßer Beeren, überreif und köstlich. Gemeinsam sammelten sie Bucheckern und knackten Nüsse. Obwohl die Nächte jetzt schon empfindlich kalt wurden, konnte er dem Mädchen nichts anderes anbieten als eine Kuhle im Waldboden, zugedeckt mit Blättern und Zweigen, und weiches Moos als Kopfkissen. Manchmal weinte sie stundenlang, bis sie vor Erschöpfung einschlief, und am Morgen waren ihre Augen tränennass. Der Prinz hatte nicht das Gefühl, sie gerettet zu haben. Sie schien von einer Gefangenschaft in die nächste geraten zu sein, ausgeliefert einem dunklen Schicksal, dem sie nicht entrinnen konnte, und mehr als alles andere wünschte er sich, endlich die bunten Wagen des Ziehenden Volks vor sich zu sehen, wo sie sich am Feuer aufwärmen konnten, wo Gesang und Gelächter hoffentlich selbst dieses verschlossene, traurige Kind davon überzeugen konnten, dass es in dieser Welt mehr gab als Hunger, Müdigkeit und Kälte. Mit Maja zusammen, so träumte er manchmal, wäre diese Reise herrlich gewesen. Ori dagegen war wie ein Sack Sand, wie etwas, das er Tag und Nacht schleppen musste, ohne je das Ziel zu erreichen.
Obwohl sie so langsam vorwärtskamen, zweifelte er nicht daran, dass er die Sippe einholen würde. Toris und seine Brüder und Schwestern waren spät dran; in den Süden würden sie es vor dem Winter sowieso nicht mehr schaffen. Bald würden sie für längere Zeit das Lager aufschlagen, und dann war es nicht schwer, sie zu finden.
»Halte durch«, sagte er zu Ori. »Bald sind wir da.«
Die Grenze von Pidors Herrschaftsbereich überquerten er und das Mädchen nicht auf der Straße – wo man sie zweifellos an einem Schlagbaum aufgehalten hätte –, sondern im Dickicht, wo keine Soldaten lauerten. Und erst jetzt atmete er wirklich auf. Das Fürstentum ihres Peinigers lag hinter ihnen, weiter durfte er seine Wachen nicht schicken. Sie hatten es tatsächlich geschafft, ohne aufgehalten und in weitere Kämpfe verwickelt zu werden.
Sorayn wagte es auch wieder, den befestigten Weg zu benutzen. Unverkennbare Anzeichen wiesen darauf hin, dass die Zintas hier durchgekommen waren. Wagenspuren, die Hinterlassenschaften von Pferden und Vieh, die Stellen, an denen sie angehalten hatten – all das hatte ihn auch schon beim ersten Mal, als er nach der Sippe gesucht hatte, geleitet.
»Riechst du es?«, fragte er und führte seine kleine Begleiterin von der Straße weg in einen lichten Wald. »Den Geruch von Feuer und Gebratenem? Kinder spielen dort, und hörst du die Hühner und die Ziegen?«
»Ja«, rief das Mädchen aufgeregt.
Da leuchteten schon die bunt angestrichenen Wagen zwischen den Stämmen hervor, ein paar Frauen rührten in den Töpfen über ihren Feuerstellen, lang vermisste Düfte lockten ihn aus dem Wald heraus.
War er jemals irgendwohin gekommen und zu Hause gewesen – außer damals, als er bei Liravah lebte? Doch jetzt fühlte es sich an wie eine Heimkehr, und mit einem Mal verstand er sehr viel besser, warum Keta die Gemeinschaft mit diesen Menschen dem Leben in einem Palast vorzog.
Die Kinder riefen seinen Namen, sobald sie ihn sahen, und wenig später kam ihm sein Schwiegervater entgegen. »Sorayn!« Die Erleichterung