Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen
er wagte kaum, das Mädchen mit einem Blick zu streifen. »Ich stelle ihr selbstverständlich meine eigene Kajüte zur Verfügung.«
»Sehr gut.« Erion nickte. »Dann werde ich sie jetzt dorthin begleiten. Wenn du uns den Weg zeigen könntest?«
»Sicher.« Der Kapitän war nicht gerade eifrig, aber er bemühte sich, keinen Unwillen zu zeigen. Er führte seine Besucher unter Deck. In einer winzigen Kammer, die wenig mehr als ein schmales Bett, eine Truhe und einen Tisch enthielt, löste Erion Majas Fesseln.
»Wir sind auf einem Frachter und nicht für Reisende eingerichtet«, entschuldigte sich ihr unfreiwilliger Gastgeber. »Ich hoffe, alles ist zu Eurer Zufriedenheit. Wenn die Dame irgendetwas braucht, wäre ich glücklich, ihr behilflich zu sein.« Dogla sah allerdings alles andere als glücklich aus.
Das störte Erion nicht. Er war es gewöhnt, dass die Leute zähneknirschend gehorchten. Hauptsache, sie gehorchten. Sie mussten sich dabei nicht vor Begeisterung überschlagen, er erwartete nur, dass sie ihm keine Steine in den Weg legten.
»Lasst mich einfach in Ruhe«, fauchte Maja.
Eine wie sie würde nie lange brav sein. Der Kaisergänger winkte den Kapitän aus dem Raum, verriegelte lächelnd die Tür und prüfte sorgfältig, wie gut sie schloss.
»Dies ist die einzige Kajüte. Zu Eurer eigenen Bequemlichkeit kann ich Euch nicht viel bieten.«
»Das macht nichts. Ich bin mit einer Hängematte bei der Mannschaft zufrieden. Allerdings würde ich dir raten, einen Posten vor dieser Tür aufzustellen. Das Bullauge lässt sich öffnen? Dann solltet du es vernageln lassen. Du wirst mit mir die Verantwortung für das Mädchen tragen, solange wir an Bord sind. Ich rate dir dringend, sie nicht entkommen zu lassen. Sehr, sehr dringend.«
Kapitän Dogla nahm die Mütze vom Kopf und strich sich über das verschwitzte Haar. »Darf ich erfahren, wer sie ist?«
Erion schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. Es muss reichen, wenn ich dir sage, dass Kaiser Zukata dich und deine Mannschaft und dein Schiff in den Schlamm dieses Flusses bohren wird, wenn ihr etwas zustößt oder wenn sie entkommt. Wie viel kann ein Mensch wert sein? Ein Königreich oder zwei? Ein halbes Kaiserreich? Das nur dazu, um wie viel es hier geht. Ich brauche jetzt etwas Schlaf und überlasse sie deiner Obhut.«
Der Kapitän nickte. Als Erion schon in der Hängematte lag, hörte er, wie ein paar Matrosen flüsternd vor der Kajütentür Stellung bezogen.
An die kostbarsten Momente seines Lebens erinnerte Erion sich immer wieder gerne. Er holte sie hervor, abends beim Einschlafen, morgens beim Aufwachen, und ließ die Bilder vor seinem inneren Auge vorüberziehen. Eins davon bereitete ihm besonderen Genuss. Zukata. Zukata in einem langen, seidenen Mantel, wie er unruhig in einem der riesigen Säle des Palastes auf und ab marschierte, mit großen Schritten, die Fäuste geballt. Die Ränder unter seinen Augen verrieten, dass er schon seit einer geraumen Weile nicht mehr gut schlief. Seine großen Füße traten ein neues Muster in den Teppich – Riesenspuren.
»Ihr habt mich rufen lassen?«, fragte Erion, nachdem er eine angemessene Zeit lang gewartet und Zukatas Wanderung zugesehen hatte.
Der Riese blieb stehen und starrte ihn an, mit einem Blick voller Wut aus seinen funkelnden blauen Augen. Sein Diener – nein, er würde es nie wagen, sich Freund oder gar Sohn zu nennen – hoffte nur, dass dieser Zorn nicht ihm galt.
»Mein Reich«, sagte der Kaiser. »Das ist es doch, nicht wahr? Mein Reich. Meine Stadt. Mein Thron. Meine Krone.«
»Gewiss, Majestät.«
»Warum fühlt es sich dann nicht so an?«, brüllte Zukata. »Warum, verdammt noch mal, merke ich nichts davon?«
»Ich weiß nicht, was Ihr meint«, gab Erion vorsichtig zu.
»Mein Schloss! Mein Kaiserreich! Es gehört mir! Nicht ihm! Es ist meins!«
»Natürlich, Herr. Wem sollte es sonst gehören?«
»Er beobachtet mich.« Selbst das Flüstern des Riesen klang bedrohlich. »Bei jeder Entscheidung, die ich treffe, bei jedem Gesetz, das ich verkünde, bei allem, was ich tue … Wo ist er? Treibt er sich hier irgendwo herum? Lungert er hier im Palast herum? In Kirifas? In Aifa? Verdammt, wo ist er?«
»Wer?«, wagte Erion zu fragen.
»Sorayn!«, schrie Zukata. »Verdammt! Sorayn, wer sonst? Ist er hier?«
Seit sein Herr sich kurz vor seiner Krönung mit seinem geheimnisvollen Enkel getroffen hatte, hatte Erion nichts mehr von diesem gehört. Der schwarzhaarige junge Prinz schien wie vom Erdboden verschluckt.
»Ist er nicht mit den wilden Riesen gegangen? In den Süden, ins Gebirge?«
»Ist er das?«, fragte Zukata zurück.
»Ich weiß nicht«, musste Erion zugeben.
»Du weißt es nicht! Ha! Niemand weiß es! Er könnte genauso gut hier sein. Er hat gesagt, dass er ein Auge auf mich haben wird. Mir ist, als wäre er da … als würde er mir über die Schulter blicken … Deret-Aif gehört mir. Ich bin Kaiser. Ich und niemand sonst.«
Mit wirrem Haar und zerzaustem Bart baute sich der Riese vor Erion auf und starrte ihn an, als sei er persönlich an allem schuld.
»Warum weiß ich nicht, wo mein Feind ist? Ich muss es wissen. Ich muss alles über ihn wissen. Wo er ist, was er tut, was er denkt … Alles muss ich wissen. Ich bin der Kaiser. Nicht er. Sorayn mag den Segen haben, aber mir gehört der Thron.«
Erion erschrak; er hatte nicht gewusst, dass dieser Sorayn im Besitz des Segens war. Nun verstand er besser, warum Zukata ihn als eine solche Bedrohung empfand, doch das war eigentlich trotzdem kein Grund, sich so aufzuregen.
»Ihr braucht den Segen nicht, um zu regieren«, wandte er ein. »Sitzt Ihr nicht auf dem Thron? Was habt Ihr von Sorayn zu fürchten?« Sobald er es ausgesprochen hatte, verwünschte er seine Dummheit. Zum Kaiser von Furcht zu sprechen, konnte alles Unheil dieser Welt auf einen herabziehen.
Doch der Riese hatte es nicht einmal bemerkt; er verzog den Mund, als hätte er Schmerzen. »Setz dich hin, mein Junge«, befahl er. Dann ließ er sich selbst auf einem breiten, für jemanden seiner Größe gebauten Lehnstuhl nieder – auf dem jeder andere wie ein Kind gewirkt hätte – und verbarg das Gesicht in seinen mächtigen Pranken. »Von seinen Gnaden«, murmelte er. »Ich fühle mich, als säße ich hier mit seiner Erlaubnis, die er mir jederzeit wieder entziehen kann. Jeden Tag und jede Stunde rechne ich damit, dass Sorayn hier auftaucht und zu mir sagt: So nicht. Du hast versprochen, es richtig zu machen.« Er schüttelte den Kopf. »Und mache ich es richtig? Sind die Leute zufrieden? Beklagt sich irgendwer? Ich sitze hier und regiere und frage mich die ganze Zeit: Ist er wohl zufrieden damit?«
Erion wagte kaum zu atmen. Es geschah äußerst selten, dass Zukata sein Innerstes bloßlegte und jemandem seine Sorgen anvertraute, die so menschlich klangen und ganz und gar nicht riesenhaft.
»Er hat mir gesagt, er vertraut mir dieses Reich an. Deret-Aif, das große Kaiserreich. Wenn ich Kanunas Werk fortführe, wenn ich gerecht regiere und weise. Und so frage ich mich: Bin ich das? Gerecht genug? Weise genug? Bin ich, was er von mir erwartet? Oh, nicht, dass ich mich danach richten würde.« Zukata lachte auf. »Ich habe meinen Männern gegeben, was ich ihnen versprochen habe. Königreiche. Fürstentümer. Es gibt schließlich genug davon, wenn man nur die alten Könige und Fürsten entfernt. Ich tue, was ich will. Ich bin Kaiser. Ich bin niemandes Knecht. Ich bin niemandes Schüler. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig.« Er sprang wieder auf. »Niemandem! Auch nicht ihm! Auch nicht Sorayn!«
»Soll ich ihn für Euch beseitigen lassen?«, fragte Erion, denn darauf schien es hinauszulaufen. Nie im Leben würde Zukata zulassen, dass jemand eine solche Macht über ihn hatte.
»Beseitigen? Du willst Sorayn töten? Du?« Zukata lachte wieder wild. »Du willst ihn umbringen? Meinen Erben? Glaubst du, er wird sich von dir töten lassen, von irgendjemandem? Von einer Handvoll Soldaten? Von einem Heer? Nein, mein Junge. Sorayn ist mehr wert als alle