Der Thron des Riesenkaisers. Lena Klassen
zu.
Schließlich steckte der eine den Kopf durch die überlappenden Stoffbahnen am Ausgang und rief etwas; es klang beinahe, als würde er um Hilfe schreien.
Als wenig später ein dritter Wenzer das Zelt betrat, widmete Blitz sich immer noch seinen Füßen. »Habt ihr mir wirklich etwas gebracht?«, fragte er erfreut.
Sein Blick fiel leider nicht auf eine Magd mit einem Krug dampfender Brühe.
Ein Mann, der, als er die Kapuze zurückschlug, einen haarlosen Schädel entblößte. Sein Gesicht zierte ein kurz gehaltener grauer Bart. Kein Schmuck, keine ausgefallene Kleidung hob den neu Eingetretenen von den anderen ab, aber Blitz erkannte ihn sofort.
»Unverschämt und merkwürdig, dieser Gefangene«, sagte der Wächter, der Blitz Folter angedroht hatte. »Zieht sich hier die Schuhe aus, als wäre er zu Hause. Er behauptet, er sei kein Pirat.«
»Das ist auch kein Pirat«, bestätigte der König.
Blitz stellte seine Stiefel zur Seite und kniete nieder. Nicht die Demut vor dem Rang eines Monarchen trieb ihn dazu. Es war vielmehr die Entschuldigung für eine vor vielen Jahren begangene Tat, für einen Tag, an dem er ein kleines Mädchen gepackt und aus einer Kutsche gezerrt hatte.
»Du wagst es, herzukommen und mir unter die Augen zu treten?«, fragte Oka mit vor Zorn zitternder Stimme.
»Ihr kennt ihn?«, fragte einer der Wenzer alarmiert.
»Raus. Ich will allein mit ihm reden«, befahl der König.
»Aber Herr!«, protestierten seine Getreuen. »Er könnte einer von Zukatas Verbrechern sein, er …«
»Genau das ist er. Lasst uns allein.«
Blitz kniete immer noch, als die Wächter das Zelt verlassen hatten. Er hörte sie dicht vor dem Eingang leise reden, vielleicht damit er nicht vergaß, dass ihr Anführer nicht schutzlos war.
»Du brauchst nicht zu knien«, sagte Oka. »Wir wissen beide, das ist nichts als eine Farce. Beleidige mich nicht, indem du tust, als würdest du mir Respekt erweisen.«
»Es tut mir leid.«
»Was? Du kommst her, um mich zu ermorden, und bittest mich um Verzeihung?«
Der König hob die Brauen. In seinem Gesicht war nur Zorn zu lesen, keine Angst.
»Ich bin nicht hier, um Euch etwas anzutun, sondern um Euer Leben zu retten.«
»Hast du nicht aus demselben Grund damals meine Tochter in Zukatas Arme gelegt? Um Blutvergießen zu verhindern?«
Von diesem edlen Mann verachtet zu werden, war schwer zu ertragen, und mehr noch das Wissen, diese Geringschätzung zu verdienen.
Im Palast von Kirifas, vor mehr als zwanzig Jahren, hatte Blitz schon einmal versucht, sich bei König Oka zu entschuldigen. Aber er hatte nicht die richtigen Worte gefunden. Vielleicht gab es sie auch nicht, die richtigen Worte, und er war nur hergekommen, um seine Strafe zu empfangen. Dann würde Oka sterben. Mitsamt seiner Rebellion.
»Ich bin nicht Zukatas Mann«, widersprach der Arimer. »Ihr wisst, dass ich Kanuna gedient habe und Manina. Vielleicht habt Ihr auch davon gehört, dass Zukata einen Preis auf meinen Kopf ausgesetzt hatte.«
»Bist du deshalb hier? Um dir die Anerkennung dieses Räubers zu erkämpfen? Das wäre ja nicht das erste Mal.«
Blitz konnte nicht länger knien, seine Beine schmerzten zu sehr. Mühsam suchte er sich eine bequemere Stellung und zog ein paar Kissen näher an die Glut heran. »Möchtet Ihr Euch nicht setzen?«
Ein ungläubiger Ausdruck zog über Okas Gesicht, als der gefangene Spion ihm wie ein Gastgeber einen Platz anbot. Vielleicht war es das Erstaunen über diese Dreistigkeit, was ihn dazu brachte, sich tatsächlich gegenüber seinem Feind am Feuer niederzulassen.
»Ich würde Euch etwas anbieten, wenn ich könnte«, meinte der jüngere Mann, dem immer noch recht kalt war.
In den Augen des Königs funkelte etwas auf, aber dann bellte er einen kurzen Befehl in Richtung Ausgang.
»Ich diene keinem Kaiser und keinem König.«
»Ach. Dann bist du also frei?« Oka schüttelte den Kopf. »Was hast du vor? Willst du dich hier anbiedern und deinen letzten Unterschlupf in Wenz finden? Und mich dann, wenn du merkst, dass die Sache nicht so gut ausgeht wie gehofft, doch noch verraten? Ich dulde niemanden in meiner Nähe, der jemals für Zukata gearbeitet hat.«
»Ich bin nicht frei.«
»Wem dienst du dann? Dir selber? Dem Angebot, das dir am verlockendsten erscheint? Ein käuflicher Diener, Verräter an allem und jedem? Ich habe keinen Bedarf an so einem.«
»Ich diene Rin«, sagte Blitz und senkte dabei den Blick, denn es schien ihm vermessen, es auszusprechen, als meldete er damit einen Anspruch an, den unmöglich jemand erfüllen konnte.
»Du dienst Rin?«, wiederholte der König und stieß ein gequältes Lachen aus. »Was willst du sein, ein Priester? Und was tust du dann hier? Was schleichst du um unser Lager herum? Warum trägst du ein Messer an deinem Gürtel?« Er beugte sich vor. »Du bist gekommen, um mich zu töten. Ich weiß das, also rede keinen Unsinn. Menschen nach Rinland zu schicken, macht dich nicht zu einem Diener Rins. Du bist hier und ich bin hier und wir sind allein. Aber lass dir gesagt sein: Wahrscheinlich erscheint es dir im Moment sehr einfach, mich umzubringen. Vielleicht wunderst du dich, warum ich mich nicht fürchte und meine Wachen hinausgeschickt habe. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass Zukata einen Attentäter herschickt. Gut zu wissen, dass er endlich da ist. Und ihm in die Augen zu sehen.«
In diesem Moment wurde die Klappe am Eingang geöffnet und eine hübsche junge Frau mit einer schweren Kanne und zwei Bechern trat ein. Ohne nachzudenken sprang der Gefangene auf, um ihr zu helfen. Gleichzeitig fuhr der König hoch und packte ihn am Handgelenk.
Das Mädchen zuckte erschrocken zusammen.
Oka starrte auf Blitz’ Hände. »Kein Messer? Na gut.« Er seufzte und ließ ihn los, und der wohlerzogene Arimer nahm dem Mädchen freundlich nickend die Kanne ab, stellte sie auf einen Stein in der Nähe der Feuerstelle und nahm auch die beiden Trinkgefäße dankend entgegen. Die Wenzerin sah verwirrt von einem zum anderen und verließ wieder das Zelt.
Oka hatte sich wieder gesetzt. Stumm sah er zu, wie sein alter Feind ihnen beiden eingoss.
»Du willst mich also wirklich nicht töten«, stellte der König fest. Er sagte es, als wäre es etwas, das ihm äußerst unangenehm war.
»War das Eure Tochter? Sie ist hier nicht sicher.«
»Niemand ist irgendwo in Sicherheit, solange Zukata Kaiser ist.«
Oka nippte an seinem Becher und starrte Blitz an, als könnte er in dem Gesicht seines seltsamen Besuchers erkennen, was er wissen wollte.
Diesmal wich Blitz dem funkelnden Blick des Königs nicht aus. Die schwarzen Augen und die meeresgrauen trugen ein Duell aus, in dem keiner der beiden Kontrahenten aufgab und die Waffen streckte. Lange und ernst schauten sie sich an. Sie beide kannten keine Furcht, sie beide schraken vor der Wahrheit nicht zurück. Doch schließlich geschah etwas in Okas Gesicht. Er schüttelte den Kopf und knurrte: »Ich werde dir nie verzeihen, was du getan hast.«
»Ich bin nicht gekommen, um Eure Verzeihung zu erlangen«, sagte Blitz. »Ich bin hier, um Euer Leben zu retten.«
»Mein Leben wird in Gefahr sein, solange ich gegen Zukata kämpfe. Und damit werde ich nicht aufhören, solange ich atme.«
»Steigt nicht auf das Schiff, Majestät.«
Der Rebell runzelte die Stirn. »Was weißt du von dem Schiff?«
»Es ist eine Falle. Die Flotte, die Ihr in Kürze sichten werdet, kommt nicht aus Velas. Es sind Piraten. Lasst Euch von ihrer Flagge nicht täuschen. Sobald Ihr ihnen entgegenfahrt, werden sich weitere Seeräuberschiffe von der Küste aus in Bewegung setzen. Man wird Euch einkreisen und