Rosenegg. P.B.W. Klemann

Rosenegg - P.B.W. Klemann


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Mutter allerdings sah es anders aus. Das Fieber wütete in ihr, ließ sie schwitzen und zittern tagelang. Nach einer Woche ließ mein Vater einen Bader aus Stein kommen. Seinen Namen weiß ich nicht mehr, nur, dass er ein Bruder im Geiste gewesen sei, wie mein Vater es ausdrückte. Jener wusch sie und ließ ordentlich Blut von der Ader, gab ihr allerlei Tinkturen und riet zu reichlich aufgekochtem Wein zur Förderung der guten Säfte. Doch wollte alles nicht helfen. Als sie nach einigen Tagen nicht mehr klaren Verstandes war, lieh sich mein Vater einen guten Gaul, um in Konstanz einen richtigen Medicus aufzusuchen.

      Der Schneestand war schon niedriger, vielleicht fußhoch, doch nur Gott allein weiß, wie er es schaffte, bereits tags drauf gen Abend wieder daheim zu sein, den Medicus und einen Gehilfen im Schlepptau. Johann Eberhard hieß der gelehrte Mann, und gut sehe ich ihn noch vor mir, die große hagere Gestalt mit dunklem, schwarzem Haar und sauber gestutztem Bart. Sein Mantel und Hemd waren schwarz und von feinstem Stoff, was die Schneeflocken, die beides bedeckten, nicht verbergen konnten. Den Kragen trug er, wie bei den Wohlhabenden damals Mode war, weiß und breit, und als er den Hut abzog, staunte ich über sein geringes Alter, was ich auf Anfang der dreißig Jahre schätzte. Er maß mich abschätzigen Blickes, und ebenso abschätzig musterte er unser Interieur. Wo ist sie?, fragte er, worauf mein Vater sagte, sie läge im Schlafgemach. Nicht das Weib meine ich, gab der Medicus zurück. Da nickte mein Vater, verschwand in seinem Raum und tauchte kurz darauf mit einem hölzernen Kasten wieder auf. Der Medicus hatte sich an unseren Tisch gesetzt, und Vater stellte den Kasten vor ihm ab. Ich kannte freilich den Inhalt und verstand nun, was sein Preis war, das Wort des Herrn gegen das Leben meiner Mutter. Acht Gulden sei sie im Minimum wert, beschied mein Vater. Seine Arbeit nun mal auch, sprach selbiger, während er das Buch inspizierte. Quartiert uns im Gasthaus ein. Und sorgt dafür, dass etwas Warmes zu Abend bereit steht, mir klappern die Knochen. Die Spesen, meine ich, übernehmt ihr gern. Der mahlende Kiefer meines Vaters zeigte mir, wie es um unser Konto stand, doch wagte er keinen Einwand. Und nun zur Leidenden, verkündete der Heiler und betrat mit seinem Helfer das Schlafgemach. Wir Kinder durften die Behandlung nicht mitansehen und mussten draußen warten, wie auch meinem Vater der Einlass verwehrt wurde, nachdem er von der Dorfgaststätte zurückgekommen war. Schon spät nächtens war es, als der Medicus und sein Gehilfe das Zimmer meiner Mutter verließen, mit stöffernen Masken vor dem Gesicht. Morbus Lenticularis!, verkündete er dann, Fleckfieber genannt, und von schwerster Art. Es herrsche große Gefahr der Contaction, wie er es sagte, weswegen aller Besuch der Kranken abgeraten sei, allen voran meinem Vater, der die Krankheit noch nicht überstanden habe. Unseren Schlafplatz hatten wir ohnehin schon im Wohnraum eingerichtet, doch durften wir ferner auch nicht mehr zu Mutter ans Bett.

      Drei Tage blieb der Medicus und pflegte meine Mutter. Das Logis im Gasthaus genoss er indessen in vollen Zügen und zu unserem Leid, denn alle Spesen mussten wir anschreiben lassen. War er ein ordentlicher Medicus? Ich denke schon. Weit gereist war er. Dem Ursprunge nach aus Pommern, was mir damals nichts sagte, war er in die Schweiz und nach Italia gereist zum Studium und nun auf dem Rückweg über Konstanz. Dort hatte er sich beim hiesigen Stadtarzt einquartiert und war zufällig zugegen, als mein Vater eingetroffen. Alles Jammern vermochte den Konstanzer Arzt nicht dazu bewegen, seine warme Stube zu verlassen, und so fasste sich der Eberhard ein Herz, meinen Vater zu begleiten. Freilich nicht, ohne sich zuvor einer Bezahlung zu versichern. Als mein Vater von der Bibel sprach, die er besaß, war es abgemacht.

      Gut und lange schien er Mutter zu pflegen, reichte ihr allerlei Arznei. Intermedium dozierte er über die Behandlung, erzählte von seinem Studium in Basel und Padua, doch tat er es stets von oben herab. Gebildet war er freilich und eingebildet auch. Den großen Grynaeus, des Calvins eifrigsten Zögling, habe er in Basel sprechen hören, erzählte er mal, nickte dabei meinem Vater konspirativ zu, weswegen er eine gewisse Neigung in unsere Richtung verspüre. Lutheraner seien sie zumeist in seiner Heimat und hätten wenig Liebe übrig für “euresgleichen”, wie er es sagte. Hassen euch mehr noch als die Papisten, so seine Einschätzung. Und ich weiß noch, wie ich mich darüber verwunderte, gab es in meiner kindlichen Einfalt doch nur Platz für die eine unsrige Partei der neuen Religion und dem entgegen die mächtigen und abergläubischen alten Katholiken. Töricht sei er, meinte Vater dann, der Zwist der neuen Religionen. Fehlbar ist der Mensch!, sagte er. Darin sind wir uns doch eins. Und ist nicht genau dieses, was wir den Papisten streitig machen? Weshalb also nehmen wir erneut des Einen Wort als Sakrosankt, statt gemeinsam zu diskutieren? Die Basis aller Wahrheit sei uns schließlich bei der Hand gegeben, sagte er, wobei er auf die Kiste mit der Bibel deutete, welche der Medicus stets mit zu uns ins Hause führte, als wolle er seinen neuen Besitz meinem Vater unter die Nase reiben. Ha, gut gesprochen!, gab der Medicus zurück und lachte; durchaus hätten die Lutheraner alle Heiligen mitsamt dem Papste obendrauf getauscht gegen einen einzigen neuen, den Doktor Luther selber, doch lasse sich wohl schwerlich bestreiten, dass jener ein verständig Mann gewesen. Verständig wohl, aber Mensch auch!, vermeinte dann Vater, und jener: Na, mit eurem Calvin treibt ihr doch gleiches Spiel! Er selbst, erwiderte mein Vater, sehe sich wohl eher in der Tradition des Zwingli, der ein Eidgenosse gewesen, und nicht des Calvin, dem Franzosen. Und für heilig halte er weder noch; doch richtig sei der beschrittene Weg, man dürfe nur nicht davon abkommen oder sich zu weit voneinander distanzieren. Die neue Religion müsse einiger sich verhalten und agieren. Na ja, mein Lieber, sagte darauf der Arzt. Ihr Schweizer kocht doch gern das eigene Süppchen. Man sehe nur diese Absonderlichkeit von Staat im Herzen Europas, ohne obersten Fürsten oder König, wisse doch ein jeder, dass der stabile Staat einen einzelnen Führer brauche. Was die Protestanten außerhalb der Schweizer Lande trieben, scheine Schweizer Kümmernis nicht zu sein. Und sei zudem nicht zu vergessen, dass der Luther den ganzen Schosen losgebrochen und er es gewesen sei, kein Calvin oder Zwingli, der Gottes Wort in jedermanns Hand und verständlich haben wollte. Das Buch, das ihr dort habt, sagte Vater darauf und deutete erneut auf die Bibel, ist älter noch als jede Lutherbibel! Und ich spürte, was der Verlust ihm bedeutete. Ha! Da täuscht ihr euch aber, lieber Mann!, spottete der Medicus, und Vater ließ es dabei bewenden, schien er ohnehin nur mit halbem Herzen bei der Sache, und wiederholt wanderte sein Blick zur verschlossenen Tür der Schlafkammer.

      Als jener uns verließ, schien es Mutter besser zu gehen. Des Öfteren kam sie zu sich, war ansprechbar und sogar stark genug, uns Kindern ein Lächeln zu schenken. Vater war froh, dass der Medicus verschwunden war, zumal wir tief in der Kreide standen. Auch das Wetter wurde nach und nach besser, und sobald das Eis nur noch wenige Klafter ins Wasser reichte, beschloss ich, die Netze auszuwerfen. Ruhig war es, das weiß ich noch, und schön, zogen lichte Nebelschleier über den See, war das Wasser klar und frisch und glatt. Ich genoss die Seeluft, ruderte weit hinaus und ließ mir reichlich Zeit, froh, dem Gefängnis unseres Heims, das mich so lange Monate gefangen gehalten hatte, zu entfliehen. Zurück vom See lief ich nach Hause, war guten Mutes, hatte ich doch immerhin zwei kleine Felchen gefangen. Da sah ich meine Schwester auf der Türschwelle sitzen mit verweinten Augen. Kaspar, Kaspar!, rief sie und kam auf mich zugerannt. Was geschehen sei?, frug ich sogleich, worauf sie mit ihren großen Kinderaugen aufschauend sagte: Der Vati pläred.

      Ich rannte ins Haus, ins Schlafgemach, wo mir ein Bild zuteil wurde, welches sich in meine junge Seele brannte und ich bis heute noch in aller Deutlichkeit im Geiste trage. Sah meinen Vater auf dem Bette bei der Mutter sitzen, ihre Hand in der seinen, den Kopf auf ihrer Brust und heulend, wie ich ihn zuvor noch nie erlebt. Ach Eli, jammerte er, ach Eli! Und so starb also meine Mutter, Elisabeth Geißler, zu Beginn des Märzen anno 1613.

      Wir begruben sie nebst meinen Brüdern im harten, gefrorenen Höriboden. Meinen Vater traf es schwer, schwerer noch als uns Kinder. Kaum sah man ihn ohne feuchte Augen, war kaum mehr imstande etwas mit sich anzufangen, und bald darauf wurde er selber krank. War es das Gleiche wie bei Mutter? Das Leidbild war ähnlich, doch kam die Krankheit mit ungleicher Wucht. Vielleicht hatte die Trauer ihn geschwächt, soweit Trauer zu schwächen vermag, denn binnen Kurzem schienen alle Kräfte ihn verlassen zu haben. Schüttelfrost ließ ihn zittern und der Schweiß rann ihm vom Gesicht. Nach wenigen Tagen war er bettlägerig. Keine Sorgen solle ich mir machen, der Herrgott werde ihn schon wieder gesunden, er müsse ja schließlich auf uns aufpassen. Höre, Kaspar, ich sag’s dir nur für alle Fälle, sprach er dann zu mir und stöhnte und atmete schwer. Einen Vetter in der Schwyz habe ich noch,


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