Rosenegg. P.B.W. Klemann
kommen, sagte er, und ich fuhr dazwischen: Du wirst bestimmt wieder gesund, Vati! Als wollte ich Kommendes nicht hören. Er quälte sich ein Lächeln ab und sagte: Freilich, Kaspar, freilich! Ich sag’s nur zur Sicherheit. Dann sah er mir in die Augen, sein Lächeln diesmal echt. Bist mein guter Bub, Kaspar, weiß Gott!, und tätschelte mir kraftlos die Hand.
Ich pflegte ihn, so gut ich eben konnte, und hütete Klara, die doch alles nicht verstand. Unsere Kasse war bald aufgebraucht, weder Pfennig noch Heller blieb für Unterhalt. Das Jahr war noch jung und nichts zum Ernten vorhanden. Zu fischen schaffte ich wenig, traute ich mich nicht, Klara und Vater lange alleine zu lassen. Ich bat um Hilfe hier und dort bei unseren Nachbarn, doch des harten Winters wegen wurde ich zumeist mit leeren Händen fortgeschickt. Nur ein Bauer, der Amann, Peters Vater, half uns. Er hatte schon mit meinem Vater gut gestanden, war manches Mal gar Gast an unserem Tisch gewesen. Seine Frau, eine fleißige Katholikin, hasste uns allerdings, weswegen ich ob seiner Hilfe umso mehr erstaunte. Ein Säckchen gutes Mehl brachte er uns, ein ordentliches Stück Speck und Butter. Als ich ihm sagte, wie es um unsere Kasse stand, winkte er ab und meinte: Wir rechnen, wenn es dem Vater wieder gut geht. Es ging ihm allerdings nie wieder gut. Ich mühte mich mit seiner Pflege und glaube, dass ich es redlich tat, verabreichte ihm die Reste der Arznei, die noch von meiner Mutter übrig war, und kochte ihm dicke Suppen mit Mehl und Speck und Fisch. Doch als ich eines Morgens aufwachte und die Tür des Schlafgemachs öffnete, schauten seine toten Augen ins Nichts. So starb also auch mein Vater, Hubert Geißler, Ende des Märzen anno 1613.
Seltsam ist, lieber Leser, wie sich in so wenigen Worten so großes Leid beschreiben lässt. Auch jetzt noch stehen mir die Augen voll Wasser, denke ich an den Bub von damals, der doch nicht wusste, was zu tun sei, und so dringlich wollte, dass jemand ihm helfe, den es leider nicht gab.
Ich weckte das Schwesterchen und sagte ihr, wir hätten etwas zu erledigen. Ich wollte nicht, dass sie den Vater auch noch tot sah. Zusammen liefen wir hinüber zu den Amanns, was das Erste war, das mir einfiel. Dort erzählte ich, was geschehen war. Er schickte einen seiner Söhne, nicht Peter, sondern einen seiner vier älteren Brüder, zum Vorsteher, der wiederum den Vogt aus Gaienhofen kommen ließ. Nicht lange dauerte es, da war eine rechte Runde versammelt. Der Vogt Hans Jäger samt vier Knechten, der Ortsvorsteher, Pfarrer Reuss und der eine oder andere Gaffer. Im Garten versammelten sich alle, das Haus zu betreten sei der pestilenzischen Lüfte wegen nicht angeraten. Nur die Knechte wurden mit Tüchern vorm Gesicht hinein geschickt, meinen Vater zu bergen. Sie beerdigten ihn auf meinen Wunsch hin nebst meiner Mutter und den Brüdern.
Was nun mit uns zu geschehen habe, war die Frage und wurde fleißig diskutiert. Zu unsereins in die Schweiz solle man uns schicken, wetterte Pfarrer Reuss, die rechte Strafe Gottes habe die Eltern dahingerafft, da unser Ketzertum hier nichts zu suchen habe. Dieser Bastard im Namen des Herrn, wie gerne wäre ich ihm im späteren Leben nochmals begegnet! Ob wir denn Familie hätten, wurde gefragt, und ich vermeinte, dass es wohl einen Vetter väterlicherseits in Frauenfeld gäbe. Ich wollte aber nicht dorthin, zumal ich ihn weder kannte noch wusste, wo er wohnte oder ob er überhaupt am Leben war. Ich wollte in unserem Haus bleiben, zusammen mit meiner Schwester, wollte bei den Eltern bleiben, auch wenn sie tot waren. Dem wurde jedoch nicht stattgegeben, zumal ich zu jung sei, auf uns aufzupassen, mein Vater zudem in den Schulden stand, die zu begleichen wir nicht in der Lage seien. Die Pacht unseres Hauses sei ebenso noch offen, weswegen es dem Rechte nach dem Vogt zufalle. Ob jemand denn bereit sei uns aufzunehmen, ob als Zögling oder Knecht?, fragte der Vogt. Worauf Pfarrer Reuss kräftig warnte, dass wir verderbt seien und wer uns aufnehme, Gefahr laufen müsse, dasselbe Schicksal meiner Eltern zu teilen. Das Mädel könne wohl bei ihnen bleiben, erbot schließlich Bauer Amann, und an der Reaktion seiner Frau ersah ich, dass er nur für sich gesprochen. An mich gewandt sagte er, mehr könne er nicht tun, habe er doch daheim genügend Mäuler zu stopfen. Ich kann es ihm auch heute noch nicht verdenken, mit seinen fünf Söhnen und dem Gesinde, welchem er Sorge zu tragen hatte. Und so wurde, trotz meines Widerspruchs und Klaras Gejammer, wie folgt beschlossen: Klara habe bei den Amanns zu verbleiben, derweil ich mit dem nächsten Kutscher nach Frauenfeld geschickt werden würde. Die Kosten der Reise erbot sich großzügig der Vogt zu übernehmen. Mitnehmen könne ich, was ich zu tragen imstande sei, der Rest falle an Vogt und Gläubiger. Wenn ich heute drüber nachdenke, hatten sie bestimmt einen guten Schnitt gemacht, denn war auch kaum Vorrat vorhanden, so blieb genügend an Inventar, blieb das Haus, was dem Hausrecht nach noch uns zustand, doch als der Bub, der ich war, verstand ich es nicht.
Tags drauf wurde ich fortgeschickt. Packte in einen Reisesack, so viel ich schleppen konnte, Kleidung, allerlei Geschirr, Schlageisen samt Feuersteinen, Kerzen, Werkzeug und die Reste des Vorrats. Den Überstand und alles, was mir irgendwie von Wert und nutzbar erschien, brachte ich den Amanns. Sollten lieber sie es haben als der Vogt. Als die Zeit zum Aufbruch kam, gab mir der alte Amann die Hand und sprach mit Ernst: Auf dein Schwesterlein pass ich gut auf, Kaspar, darauf mein Wort. Wenn du deinen Weg gemacht hast, komm zurück, und meine Tür steht offen. Worauf er mir zehn Kreuzer in die Hand drückte, doch so, dass keiner es sah. Die arme Klara weinte bitterlich, mitkommen wolle sie und bei mir bleiben, bettelte sie, rief meinen Namen unentwegt, und mein Herz sticht, denke ich daran. Ich nahm sie in den Arm, gab ihr einen Kuss und versprach, baldmöglichst zurückzukommen. Ein Versprechen, das ich brach, vielleicht meine erste wahre Sünde, wenn auch freilich nicht die letzte. Und noch heute lastet die Schuld schwer wie ein Bußstein auf meiner Seele, stelle mir vor, wie sie auf mich wartet, Tag um Tag und stets vergebens.
Da saß ich nun also hinten auf jener Kutsche, zwischen allerlei Post und Ware, welche der Kutscher seines Weges lang zu verteilen hatte, und sollte zu einem Ort reisen, den ich nicht kannte, eine Person suchen, die ich nicht kannte, und fühlte mich so allein, wie ich es in der Tat auch war. Weißt du, wie sich Einsamkeit anfühlt, lieber Leser? Ich sage dir, ich weiß sogar, wie sie schmeckt! Bitter und kalt schmeckt sie. Ein Geschmack, an den man sich gewöhnen kann, doch nie vergisst. Warum ich dann tat, was ich tat, kann ich dir retrospecti kaum erklären. Die Kutsche jedenfalls hielt in einem kleinen Ort vor Stein, und der Kutscher brach auf, seine Sachen an den Mann zu bringen und Neues aufzunehmen. Da packte ich meinen Sack mit Hab und Gut, sprang von der Kutsche und türmte. Ich erinnere mich an die Verwirrung, die in mir herrschte, die mich kaum klar denken ließ, und jenen Wunsch oder Drang, abzuhauen, allein zu sein, fern von allem und jedem. Vielleicht wollte ich einfach die äußeren Gegebenheiten dem inneren Empfinden angleichen. Und so lief ich, so weit die Beine mich trugen, lief weg von Haus und Mensch und allem Menschlichen; lief in den Wald.
Wie ich im Walde so einsam gewesen
Lange lief ich, so lange, bis die Erschöpfung mich notgedrungen rasten ließ, und sackte an einen Baum darnieder. Als ich mich endlich umsah und zu orientieren suchte, merkte ich schnell, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich mich befand. Tief im Wald war ich, so tief, dass weder Bauwerk, fahrbarer Weg noch das Blau des Sees zwischen dem Blätterwerk der Bäume erkennbar war. Alleine war ich, fühlte ich mich, und ich glaubte, auch alleine sein zu wollen. Ich haderte, wie hätte ich auch nicht, mit Welt und Mensch. Ja, ich sag es freiweg: Ich haderte mit Gott. “Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verlässt und hält Fleisch für seinen Arm, und mit seinem Herzen vom Herrn weicht”, heißt es in der Heiligen Schrift. Doch was ist mit dem, der sich verlässt, aber verlassen wird vom Menschen? Ist jener auch verflucht? Gibt es kein Recht zu hadern, zu zweifeln? Nein, wäre Vaters Antwort gewesen, dessen bin ich mir gewiss, ob bis zuletzt, das weiß ich nicht.
An einem umgefallenen Baum begann ich mein Lager zu errichten, baute mit reichlich Ästen ein schräges Dach, dessen Stützbalken der Stamm war, ähnlich, wie wir es als Soldaten später praktizierten. Und dort blieb ich. Wie lange, magst du fragen, doch nur schätzen kann ich zur Antwort. Einige Wochen waren es bestimmt, Monate vielleicht. Müßig war ich freilich nicht. Täglich zimmerte ich an meinem Lager, sammelte Lianen, um die Äste besser zu binden, Nadelbaumzweige, um das Dach zu dichten, bearbeitete den Stamm, grub den Boden tief und flach, sammelte trockene Blätter,