Immer im Rampenlicht. Bernd R. Hock

Immer im Rampenlicht - Bernd R. Hock


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Einsatz wäre mein Besuch einer normalen Grundschule nicht möglich gewesen.

      Deshalb machten meine Eltern sich immer wieder Sorgen, wie ich wohl meinen schulischen Weg weiter bewerkstelligen würde. Meine Mutter äußerte diese Bedenken mehr als einmal an Elternsprechtagen gegenüber dem damaligen Rektor, der auch mein Klassenlehrer war. Voller Inbrunst und Überzeugung beruhigte er meine Mutter regelmäßig mit dem Satz: »Jo Fra Hock, machen Se sich doch kä Sorche. Der Bu macht sein Wech.« (»Ach Frau Hock, machen Sie sich doch keine Sorgen. Der Junge wird seinen Weg machen.«)

      Geholfen hat diese pauschale Aussage meiner Mutter nur mäßig, recht hat er aber gehabt, der Herr Rektor, und gemocht habe ich ihn sehr.

      Er war ein leidenschaftlicher Raucher, dieser Rektor. Daher gab er uns Viertklässlern mindestens einmal pro Unterrichtsstunde eine kleine Aufgabe und ging selbst vor die Tür auf den Flur, wo er sich oberhalb der Garderobe einen Aschenbecher auf ein Brett gestellt hatte. Er öffnete ein Fenster, rauchte eine Zigarette und kam zurück in die Klasse. Ich mochte den Geruch, der ihm anhaftete, eine Mischung aus Zigarettentabak und »Tabac Original«, einem Rasierwasser, welches damals viele Männer benutzten und das ich heute noch mag.

      Da ist er wieder, dieser Dreiklang aus Duft, Erinnerung und bestimmten Emotionen, diesmal wieder sehr angenehm. Wenn ich jemals ein spezielles, individuelles und ganz persönliches »Bernd R. Hock-Wohlfühlparfum« kreieren sollte, müsste der Duft wohl am ehesten auf einem Jahrmarkt, am besten auf der »Landaacher Kerwe«, eingefangen werden.

      In den beiden Wochen im Jahr, in denen die Landauer Kerwe stattfand, schlug mein Herz immer etwas schneller, immer etwas intensiver. Die Zeit für Hausaufgaben und fürs Lernen war knapper als sonst, da die Kerwe mich brauchte. Schon in der Woche davor lief ich jeden Tag über den Messplatz, um nachzusehen, welche Fahrgeschäfte diesmal aufgebaut wurden. Viele Schausteller kannten mich. Da war der dicke Besitzer des Süßwarenstandes, der während der Kerwe hinter seinen Süßigkeiten thronte, immer die gleiche Schiebermütze aufhatte und mir freundlich zulächelte. Kaufte ich bei ihm zwei Marzipankartoffeln, so packte er stets eine dritte mit in die Tüte. Hier das Ponyreiten, da der Autoscooter, im Pfälzischen einfach »Boxauto« genannt, und dort das Entenangeln.

      Auf der Kerwe fühlte ich mich besonders frei. Wurde nicht intensiver beachtet als die anderen auch. Schließlich waren damals die berüchtigte Dame ohne Unterleib oder kleinwüchsige Menschen, sogenannte Liliputaner, Kerwe-Attraktionen und ich fühlte mich eben auch als eine solche. Ich stellte mir vor, ein Teil dieser großen Jahrmarkt-Familie zu sein und mitzureisen. Ähnlich wie ich mit Begeisterung den großen Fahrstuhl im Krankenhaus per Knopfdruck in Bewegung setzte, hätte ich gerne auch die großen Fahrgeschäfte bedient und Menschen auf den Kopf gestellt und sie durch die Luft gewirbelt. Dabei hätte ich ohne Unterlass ins Mikrofon gesabbelt: »Kommen Sie herein! Fahren Sie mit! Hier können Sie was erleben!«

      Da mir dies im realen Leben nicht vergönnt war, baute ich regelmäßig zu Hause aus Lego meine eigene Kerwe, bediente dort die Fahrgeschäfte und kommentierte alles in meinem fiktiven Kassenhäuschen. Der Jahrmarkt war eine ganz besondere bunte Bühne, auf der ich mich sicher und selbstbewusst bewegte, und das Wohlfühl-Parfum duftet heute noch nach gebrannten Mandeln, Popcorn, Gewürzen, Bratwurst, Pommesfrites-Fett, abgewetztem Reifengummi und Pferdeäpfeln. Schaustellerinnen und Schausteller genießen bei mir eigentlich immer einen Sympathie-Vorschuss und die, die ich persönlich kennengelernt habe, waren mir immer wohlgesonnen.

      Eine Begebenheit beim Entenangeln auf der Kerwe ist mir noch sehr präsent. In einem speziellen Schaustellerwagen war eine Art Planschbecken aufgebaut, in dem unzählige Gummienten schwammen. Alle Enten hatten einen Metallknopf auf dem Kopf. Nachdem man einen bestimmten Betrag bezahlt hatte, bekam man eine Angel, ein Rohrstock, an dessen Ende sich ein Magnet befand. Mit diesem Magneten konnte man eine Ente wählen und sie herausziehen. Das Schausteller-Ehepaar griff sich die entsprechende Ente und zeigte die Unterseite. Die meisten Enten hatten einen schwarzen Punkt und waren somit eine Niete. Kein Preis. Die anderen Farben standen für die entsprechenden Preiskategorien. Eine einzige Ente schwamm in dem Becken, die einen goldenen Punkt auf ihrer Unterseite hatte. Der Hauptgewinn! Freie Auswahl!

      Ich habe das Schaustellerehepaar noch genau vor Augen: Die Frau hatte eine starke Gehbehinderung und saß immer in einer schrägen Haltung auf einer Art Sitzkissen. Der Mann hatte eine sehr ledrige, faltige Gesichtshaut und trug genau wie der Besitzer des Süßigkeitenstandes eine Schiebermütze.

      Die beiden mochten mich und ich angelte regelmäßig am Entenstand. Einmal wollte ich fast protestieren, denn als ich meine Angel so über den Enten hin und her bewegte, drückte der Schausteller diese plötzlich herunter. »Klick« – der Magnet haftete auf einer Ente, die ich gar nicht ausgewählt hatte. Trotzdem hob ich die Angel, der Schausteller nahm die Ente und zeigte mir ihre Unterseite. Der goldene Punkt! Freie Auswahl! Stolz wie Oskar ging ich mit meiner Mutter nach Hause. In meinen kleinen Ärmchen trug ich einen Stofftiger, der halb so groß war wie ich selbst.

      Der Heimweg von der Kerwe führte unmittelbar am Max-Slevogt-Gymnasium vorbei, auf welches ich nach meiner Grundschulzeit kam. Genau wie der Leiter der Grundschule war auch mein neuer Direktor ein Raucher. Er rauchte aber ausschließlich Pfeife, und das nur in seinem Büro. Die roten, grünen und schwarzen Filzstifte auf seinem Schreibtisch waren alle an beiden Enden angekokelt und mit Ruß beschmiert, da der Direktor sie regelmäßig zum Nachstopfen seiner Pfeife nutzte. Dies weiß ich deshalb so genau, weil ich damals auf dem Max-Slevogt-Gymnasium in Landau relativ viel Zeit mit ihm in seinem Büro verbrachte. An den Nachmittagen, wenn das Schulgebäude schon weitgehend leer war, erklärte er mir nämlich sehr geduldig und effektiv Mathematik, ein Fach, mit dem ich niemals richtig warm wurde. Ohne seine Hilfe wäre ich damals beim Abitur wahrscheinlich an Mathe gescheitert und es hätte nicht zur Fünf minus im letzten Zeugnis gereicht. Sein Einsatz war keinesfalls selbstverständlich und ich bin ihm sehr dankbar dafür.

      Überhaupt tat ich mich mit so manchem ziemlich schwer und war auf keinen Fall ein eindeutiger Gymnasialschüler. Real- oder Hauptschule kamen für mich aber nicht infrage, denn es war klar, dass ich niemals einen handwerklichen Beruf erlernen konnte. Deshalb sollte alles darangesetzt werden, »dass der Bernd sein Abitur schafft«.

      Ich war einfach ein Spätzünder, obwohl man dies nicht so pauschal behaupten kann. Zum Beispiel erkannte ich sehr früh, früher als manch anderer, dass ich vieles, was man mir in der Schulzeit zu lernen aufzwang, niemals mehr im Leben brauchen würde. Seit ich denken kann, lasse ich mich nicht über Straßen führen, über die ich nicht rübermöchte. So habe ich auch nicht gelernt, was mir unsinnig erschien oder einfach nicht gefiel. Obgleich ich sehr literaturaffin bin, mochte ich beispielsweise »Effi Briest« überhaupt nicht. Nachdem ich zwanzig Seiten des entsprechenden Reclambüchleins gelesen hatte, sperrte sich alles in mir, und ich las keine Zeile weiter. Dass ich in der Deutsch-Leistungskurs-Klausur über das Werk von Theodor Fontane noch eine Vier minus bekam, fand ich persönlich beachtlich. Dafür verschlang ich den »Besuch der alten Dame« von Friedrich Dürrenmatt. Bis heute kann ich mit der Fabel dieses Buches viel anfangen und bis heute hat es mir nicht geschadet, »Effi Briest« nicht weitergelesen zu haben.

      Geschadet allerdings hat mir, dass ich in der Oberstufe im Fach Französisch nahezu bei allen Klassenarbeiten hemmungslos abgeschrieben habe. Im Zeugnis bekam ich eine Zwei plus, aber ich kann in dieser Sprache nicht einmal nach dem Weg fragen oder mir im Restaurant ein Croissant und einen Milchkaffee bestellen.

      Geschadet hat mir auch, dass ich mich bezüglich Kommasetzung beim Diktat in Deutsch auf das Husten von Annette verlassen habe. Damals fand Entertainer-Bernd seine Idee genial. Auch die allermeisten meiner Klassenkameradinnen und Klassenkameraden waren begeistert und die übrigen hielten wenigstens die Klappe. Annette war perfekt in Kommasetzung. Ich bat sie, während des Diktates bei jedem Komma laut und deutlich zu husten, und sie tat es. Besonders bei einem Relativsatz war die kurz vor der Pensionierung stehende Deutschlehrerin geneigt, Annette ein Hustenbonbon anzubieten. Einen Zusammenhang zwischen Hustenreiz und Kommata stellte sie aber nicht her. Bei diesen Diktaten stand nach der Korrektur bei mir regelmäßig unter der Note die Bemerkung »Satzzeichen sehr gut«! Heute setze ich nahezu jedes Komma falsch.

      Als ich meine Deutschlehrerin nach ihrer Pensionierung einmal


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