Immer im Rampenlicht. Bernd R. Hock
meinen Eltern, meinen Klinikaufenthalt noch um ein paar Wochen zu verlängern, damit ich weitere Fortschritte machen könne.
Sofort bekam ich wieder Angst! In den vergangenen drei Wochen war mir nicht entgangen, welche Macht der Herr Professor besaß. Was nun? Ich hatte die Marzipanschweinchen doch bereits alle aufgegessen. Musste ich etwa noch weiter in dieser Klinik, getrennt von meinen Eltern, bleiben?
Stille. Meine Mutter war sehr unsicher. Nach einer kurzen Weile richtete sich mein Vater in seinem Stuhl auf und vollbrachte die erste Heldentat in meinem Leben, für die ich ihn noch heute liebe. Er fragte den Mediziner höflich: »Sind Sie jetzt fertig?«
Wenn überhaupt, dann hatte der Arzt höchstens mit der Frage, wie lange ich denn noch bleiben solle, gerechnet. Er schaute meinen Vater unsicher an und es war allen im Raum klar, dass die Gesprächsleitung gerade die Schreibtischseite gewechselt hatte. Mein Vater wartete keine weitere Reaktion ab: »Vielen Dank, wir nehmen den Jungen jetzt mit und fahren nach Hause!«
Circa zwei Stunden später saß ich als der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt auf einem riesigen Schaukelpferd, meinem Willkommensgeschenk, im Schlafzimmer meiner Eltern in Landau. Als Mama und Papa mich an diesem Tag zum zweiten Mal nach meiner Geburt aus einer Klinik nach Hause brachten, war ich für niemanden mehr ein Schock, ganz im Gegenteil! Alle freuten sich, mich wiederzusehen.
Dass es mein Vater rein aus väterlichem Liebesinstinkt geschafft hat, sich der ärztlichen Autorität zu widersetzen und mich einfach mit nach Hause zu nehmen, kann ich ihm gar nicht hoch genug anrechnen. Seine innere Stärke hat meine Psyche damals vor schwerem Schaden bewahrt. Er hat sich später noch mehrfach erfolgreich für mich eingesetzt und mir dieses Durchsetzungsvermögen vererbt.
Als ich meine Eltern damals fragte, ob ich wieder einmal von ihnen getrennt in so ein Krankenhaus müsse, versicherten sie mir: »Nein! Jetzt bleibst du immer bei uns!«
Was soll ich sagen?! Mama und Papa haben Wort gehalten! Danke!
5
ARMER KERL – ICH?
Ich mag diese überdimensionalen Fahrstühle in Krankenhäusern, in die sogar ein ganzes Bett geschoben werden kann. Auf Knopfdruck setzen sie sich in Bewegung und bringen einen nach oben oder unten. Als Kind war ich unheimlich fasziniert davon, dass diese riesige Maschine sich genau dann in Bewegung setzte, wenn ich mit meinem kleinen Finger den entsprechenden Knopf drückte – eine schöne Metapher für mein Leben. Am liebsten habe ich es, wenn ich nur einen Knopf drücken muss und damit viel in Bewegung setze, mit wenig Aufwand hoch hinaus.
Einmal standen meine Mutter und ich in einem solchen Fahrstuhl. Ich war sechs, hatte gerade eine Blinddarmoperation überstanden und es ging mir gut, aber ich musste noch im Krankenhaus bleiben. Diesmal war ich nicht allein, meine Mutter schlief bei mir im Zimmer. Plötzlich öffnete sich die Fahrstuhltür und eine sympathisch wirkende Frau im weißen Kittel trat ein. Sie trug die gleiche Hornbrille wie vor Jahren die Pflegerin mit der Schlüsselgewalt über die Besuchertür in der Klinik.
Die Frau freute sich sichtlich, meine Mutter und mich zu treffen, und brachte dies lebhaft zum Ausdruck: »Ach Gott, Fra Hock, wie schä, dass ich Sie treff. Isch des de Biewel?! Ach Gott, bischt du en sauwrer Bu.« (»Ach Gott, Frau Hock, wie schön, dass ich Sie treffe. Ist das Ihr Sohn?! Was für ein hübscher Junge.«)
Es war die Hebamme, die mich »geholt« hatte. Ihre Freude war echt und sie griff auch nicht in irgendeine Tasche, um eine Schokoladentafel hervorzuzaubern. So wie die Hebamme aussah, aß sie die lieber selbst.
Wie schön, dass Gott mir in meinem Leben immer wieder Begegnungen geschenkt hat, die vorangegangene unangenehme Zusammentreffen ein wenig ausglichen. Frauen mit Hornbrillen in weißen Kitteln blieben in meinem Herzen nicht ausschließlich negativ besetzt.
Vom Tag meiner Geburt an hatte ich Menschen an meiner Seite, die mich liebten, die sich ein ganzes Stück für mich aufopferten und mir Mut machten. Bis heute war und bin ich durch solch wunderbare Menschen beschenkt. Es sind meine ganz persönlichen Helden! An erster Stelle stehen hier natürlich meine Eltern!
Nicht nur mein Vater, sondern auch meine Mutter hatte sich einem Facharzt widersetzt und damit eine Heldentat für mich vollbracht. Ungefähr sechs Monate war ich alt, als der Mediziner meinte, dass es fraglich sei, ob ich richtig laufen lernen könne. Daher riet er meinen Eltern dringend an, mich nachts in ein sogenanntes Gipsbett zu legen, um meine Wirbelsäule zu stabilisieren. Dieses Gipsbett war eine Schale, die exakt an meinen Körper und meine Gliedmaßen angepasst war. Dort wurde ich rücklings hineingezwängt und mit kleinen Lederriemchen an den Ärmchen und den Beinen festgeschnallt. Es gab keinen Bewegungsspielraum.
Nicht mal eine ganze Nacht habe ich in diesem Konstrukt verbracht. Ich habe so geschrien und geweint, dass es meine Mutter nicht übers Herz brachte, mich weiter dieser Fixierung auszusetzen. Sie entschied ganz eigenmächtig, einfach ihrem liebenden Mutterherz folgend, das Gipsbett in die hinterste Ecke zu stellen und mich ab sofort wieder in meinem ganz normalen Kinderbettchen schlafen zu lassen. Nach vier Wochen wurde mein Knochenbau erneut begutachtet. Meine Mutter traute sich nicht, dem Mediziner zu erzählen, dass sie sich seinen Anordnungen komplett widersetzt und das Gipsbett den Hausstaubmilben zum Fraß vorgeworfen hatte. Vermutlich war ihr ein wenig bang zumute.
Der Arzt betrachtete nachdenklich die Röntgenbilder und stellte schließlich stolz fest: »Sehen Sie, Frau Hock, wie gut, dass ich Ihnen das Gipsbett für Ihren Sohn verordnet habe. Seine Wirbelsäule hat sich vollkommen normalisiert!« Meine Mutter bedankte sich und wir drei verließen die Sprechstunde: Mama, ich und unser Geheimnis!
Dies ist kein Plädoyer dafür, sich medizinischen Ratschlägen zu widersetzen. Vielmehr will ich Eltern dazu ermutigen, bei allen Ratschlägen immer auch das eigene Mutter- oder Vaterherz zu befragen und Entscheidungen stets auf der Grundlage der tiefen inneren Überzeugung zu treffen, was jetzt gut ist und was nicht.
Ich wünsche jedem Kind auf dieser Welt Eltern, die aus einem solchen Holze sind! Eltern und auch Großeltern, wie ich sie hatte!
Besonders von Omi muss ich berichten. Omi war die Allerbeste! Sie war Gottes Ausgleich für die zahlreichen Halloween-Damen, die mir begegneten. Sie machte die schönsten Ausflüge mit mir und ich war sehr gerne mit ihr zusammen. Sie hat alles mitgemacht. In ihrer Wohnung durfte ich die Fransen ihres Teppichs kämmen, ich spielte an ihrer Tretnähmaschine Straßenbahn und als Zahnarzt durfte ich sogar mit ihrer Häkelnadel an ihrem Backenzahn rumfummeln, Behandlungsstuhl war der Fernsehsessel.
In Landau gibt es einen Tiergarten, den meine Mutter mit uns Kindern viele Jahre mehrmals die Woche besuchte. Seither gibt es kaum einen Ort, an dem ich mich besser entspannen kann als in einem Zoo. Betrete ich einen solchen, rieche den Mist und höre das Trompeten von Elefanten und das Schreien von Pfauen, dann geht es mir sofort richtig gut. Der Zoo ist eine Bühne, auf der ich mich gerne und sicher bewege. Eine echte Heimspielstätte. Die Tiere und ich, wir sind ein Ensemble. Angestarrt werden gehört im Zoo zur Normalität, und Kamele, Löwen und Affen machen mir noch heute vor, wie man sich in einer solchen Situation entspannen kann.
Ein ganz besonderes Erlebnis war es für mich jedoch immer, wenn ich mit meiner Omi mit dem Zug nach Karlsruhe fahren konnte, um dort in den Zoologischen Garten zu gehen.
Im Vergleich zu Landau war Karlsruhe die große, weite Welt. Karlsruhe hatte Kaufhäuser, Karlsruhe hatte eine Straßenbahn, Karlsruhe hatte in der Vorweihnachtszeit viel mehr bunte Lichter und der Karlsruher Zoo hatte richtig große Tiere: Nilpferde, Elefanten und Giraffen.
An Omis Seite war ich mutig, manchmal sogar ein wenig übermütig. Als wir einmal etwas länger die Giraffen betrachteten, ich muss so um die fünf Jahre alt gewesen sein, blieb eine alte Frau – wie könnte es anders sein – neben uns stehen, betrachtete mich ganz genau