Immer im Rampenlicht. Bernd R. Hock

Immer im Rampenlicht - Bernd R. Hock


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um sich ihren Weg an den Schläfen hinunter zum Hals zu bahnen. Ich habe Angst! Angst vor dem, was ich vielleicht da in meinem tiefsten Inneren finden werde.

      Plötzlich sehe ich vor meinem inneren Auge ein Licht. Eigentlich ist es nur ein kleiner heller Schimmer. Wirklich nur ein klein wenig Helligkeit und ich weiß, dass ich noch weit abschweifen muss, bis meine Gedanken aus der Dunkelheit heraus dieses Licht berühren können. Soll ich meine innere Reise abbrechen oder mich weiter vorwagen?

      Im Rückspiegel meines Lebens erkenne ich bei genauerem Hinsehen ganz deutlich, dass es mich und die Umstände um mich herum stets positiv verändert hat, wenn ich mich dafür entschieden habe, aus dem Dunkeln heraus ins Licht zu treten. Sichtbar zu werden. Unsichtbar ist nichts für mich. Für die Unsichtbarkeit bin ich nicht gemacht. Unscheinbar ist kein Adjektiv, welches mich zutreffend beschreibt. Daher bin ich lieber öffentlich, offensiv, angreifbar. Obwohl, ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich das lieber bin. Aber hatte ich bisher eine Wahl?

      Tatsache ist, dass das Leben am intensivsten wird, wenn man sich aus der Deckung wagt. Im Verborgenen regieren Tristesse und Langeweile. Man spürt nichts, irgendwann nicht einmal mehr sich selbst. Es gibt dann kein Feedback von anderen, mit dem man sich auseinandersetzen müsste. Doch in dem Moment, in dem ich mich aus der Deckung in die Öffentlichkeit wage, prasseln die Reaktionen der anderen auf mich ein wie Hagelkörner in einem heftigen Graupelschauer. Kleine Hagelkörner, die einfach so an mir abtropfen, aber auch größere Brocken, die Dellen verursachen. Zwischendurch gibt es aber auch wohltuende lauwarme Regenschauer der Bewunderung.

      Eine Ausgewogenheit wäre schön. Eine Balance zwischen einem unbeachteten Leben und einzelnen Reaktionen von anderen.

      Oh Mann, ist das alles kompliziert! Ich brauche jetzt erst mal Schokolade! Schokolade und Marzipan!

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      MITLEID, MARZIPAN UND EINE HELDENTAT

      Marzipan und Schokolade waren eigentlich immer genug da. Bis heute.

      War ich als Kind noch auf die »Auslieferung der Ware« durch alte Menschen, die Mitleid mit mir hatten, angewiesen, so erhalte ich meine absolute Lieblingsschokolade Ritter Sport Marzipan heute an jeder Tanke.

      Diese Schokoladentafel in ihrer rot glänzenden Hülle hat durchaus so ihre Tücken. Nicht dass ich etwa Schwierigkeiten hätte, die Leckerei aus der Verpackung zu lösen. Nein, das mit dem Knicken und Aufreißen bekomme ich locker mit zwei Fingern auf meinem Oberschenkel im Auto hin. Sogar angeschnallt. Das Durchbrechen der Schokoladentafel an der Sollbruchstelle verursacht jedoch Schokokrümel, die mir beim Essen unbemerkt überall hinfallen, vorzugsweise in die Brusttasche meines Oberhemdes, wo sie kleine braune Flecken auf dem Stoff erzeugen.

      Ich passe einfach nicht genug auf. Ich esse dieses Zeugs viel zu hastig, fresse es regelrecht. Ach könnte ich Süßigkeiten doch mehr genießen und langsamer, ja achtsamer essen. So wie meine frühere Kommilitonin Anja.

      Wir begannen unseren gemeinsamen Studientag Anfang der Neunzigerjahre nicht selten mit einem Käffchen und einem Schokoriegel. Bei schönem Wetter setzten wir uns vor dem Unigebäude auf die Treppe. Wenn Anja zum ersten Mal an ihrem Kaffee nippte, hatte ich meinen Riegel bereits komplett inhaliert. Kurz bevor wir zu unserer Vorlesung aufbrachen, packte auch Anja ihren Schokoriegel aus, betrachtete ihn und biss genüsslich ein Stückchen ab. Sie kaute lange, bevor sie die Köstlichkeit ihren Hals hinuntergleiten ließ. Die restlichen zwei Drittel wickelte sie wieder in das Papier, verstaute alles in ihrer Tasche und wir beide gingen studieren. In der Mittagspause packte Anja die Schokolade erneut aus, biss wieder ab, genoss und steckte das letzte Drittel abermals in ihre Tasche. Am Ende des Studientages, wenn wir erneut auf der Treppe vor dem Gebäude saßen, ließ sie das letzte Stück der Köstlichkeit auf ihrer Zunge zergehen. Menschen mit einem solch achtsamen Essverhalten haben meinen höchsten Respekt.

      Ich hingegen verschlinge Schokolade, und dies meist heimlich. Genieße nicht im Licht, sondern fresse Süßes oft im Dunkeln. Süßigkeiten sind für mich nicht in erster Linie ein gelegentliches Genuss-, sondern eher ein schambehaftetes Suchtmittel und erfüllen unterbewusst Funktionen, die sich mir noch nicht bis ins Detail erschlossen haben, sondern vielmehr irgendwo in der hintersten Ecke vergraben sind. Nur ganz kurz, genau in dem Moment, in dem die Schokomasse meine Mundhöhle ausfüllt, genieße und entspanne ich für einen Augenblick. Danach quält mich sofort mein schlechtes Gewissen wieder – und mein starkes Übergewicht.

      Eine große Rolle spielte Schokolade schon, als ich noch ein Kind war, besonders im Zusammentreffen mit alten Menschen – fast immer mit alten Damen, um präzise zu sein. Die Begegnungen liefen stets nach einem ähnlichen Schema ab: Eine alte Frau sah mich irgendwo in freier Wildbahn, entdeckte meine kurzen Arme, lächelte mich an und kippte fast unmittelbar und meist weinerlich einen Container Mitleid über mir aus. Ich wurde verlegen und unsicher, konnte die Traurigkeit meines Gegenübers nicht einordnen, spürte aber, dass ich sie einfach nur mit meinem Dasein ausgelöst hatte. Dies verunsicherte mich. Was nun? Sollte ich Trost spenden? Die alte Frau streichelte mir dann fast immer ungefragt über den Kopf, bevor ihre Hand in eine Lederhandtasche griff und eine Tafel Schokolade zum Vorschein brachte. Diese wurde mir fast immer mit den gleichen Worten übergeben: »Da, Biewel, hoscht e Schoklaad.« (»Hier, mein Junge, hast du eine Tafel Schokolade.«)

      Ich begriff nicht, was sich da abspielte, bemerkte aber, dass sich im Moment der Schokoladenübergabe ein Happy End ankündigte und sich die Lage deutlich entspannte. Also verinnerlichte ich unbewusst. »Schokolade entspannt! Schokolade heilt! Schokolade macht alles wieder gut!« Meist bekam ich Sarotti, manchmal Alpina und selten Lindt. Sarotti mochte ich nicht, Alpina ging und Lindor von Lindt war das große Los.

      Heute müssen Kinder bis zum 31. Oktober warten, sich übelst verkleiden, sich schreckliche Fratzen ins Gesicht schminken, allen Mut zusammennehmen, an Haustüren klingeln und Menschen mittels sinnfreier Reime zur Herausgabe von Süßigkeiten nötigen. Ich hatte manchmal sogar mehrmals täglich mein ganz persönliches, gruseligsüßes Straßen-Halloween, bekam Saures verpackt in Süßem.

      Einem Kind mit einer offensichtlichen Körperbehinderung gibt man Schokolade. Einem geschwächten Igel gibt man Milch. Einem obdachlosen Bettler am Straßenrand gibt man nichts, der kauft sich sowieso nur Alkohol. Alle drei Thesen sind Bullshit!

      Natürlich wurde ich nicht von Anfang an mit Schokolade ernährt. Als ich meinen holprigen Umzug von der Gebärmutter auf die Bauchdecke meiner Mutter erfolgreich hinter mich gebracht hatte, gab es erst einmal Muttermilch.

      Für meine Ursprungsfamilie, meine Großeltern und besonders für meinen drei Jahre älteren Bruder Rainer war es mehr als eine schwere Herausforderung, als meine Eltern mit mir vom Krankenhaus nach Hause kamen. Da wurde nicht einfach das süße kleine Baby, der knuffige Nachwuchs, heimgebracht. Ich war nicht einfach der neue, der jüngste Hock, ich war auch ein Schock! Doch nach einer gewissen Zeit stellte sich so etwas wie Normalität ein. Wunden der Traurigkeit und Verzweiflung verheilten, Narben auf den Seelen blieben bis zuletzt. Teilweise sind sie heute noch da. Ich glaube, bei uns allen.

      Im Großen und Ganzen entwickelte ich mich gut, wurde akzeptiert und geliebt. Nur der allererste Moment in der Begegnung von mir und anderen Menschen war halt immer anders. Man erschrak zunächst. Man wusste nicht so recht, ob einen nun das hübsche, meist fröhlich lächelnde Kindergesicht erfreuen oder die fehlgebildeten Arme traurig machen sollten. Auch heute noch stört es mich enorm, ängstigt und verunsichert mich, ja macht mich manchmal fast wütend, wenn ich das Gefühl habe, dass Leute bei meinem Anblick erschrecken.

      Thomas Gottschalk moderierte 151-mal die Samstagabendshow Wetten, dass …?. In 357 Folgen spielte Larry Hagman den Bösewicht J.R. Ewing in der US-amerikanischen Serie Dallas. Seit über fünfzig Jahren betrete ich täglich, ja manchmal mehrmals täglich die Bühne der Ermutigung, wenn Menschen im Kontakt mit mir erschrocken


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