Immer im Rampenlicht. Bernd R. Hock

Immer im Rampenlicht - Bernd R. Hock


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      Dieses Mal ließ ich mich nicht verunsichern. Ich war gerade überglücklich, war mit meiner allerliebsten Omi im Zoo und wir schauten uns Giraffen an. Arm? Ich? Nein! Noch bevor die alte Dame ihre Handtasche nach Süßigkeiten absuchen konnte, stellte ich mich ganz nah vor sie, versuchte, ihr in die Augen zu sehen, und entgegnete ziemlich laut und selbstbewusst: »Ich bin doch kä arm Biewel, Sie bleedi Kuh!«

      Der Satz hallte durchs Giraffenhaus, die Frau schaute uns total perplex an, doch die beste Omi von allen sah keinen Grund zur Korrektur ihres Enkels und meinte nur: »Kumm, Berndl, ma gehn jetzt weider zu de Affe!«

      Aus dem Berndl, wie meine Familie mich stets liebevoll nannte, wurde der Bernd. Meine enorme Schlagfertigkeit ist jedoch bis heute geblieben und ich bin dankbar dafür. Ich kann wirklich sagen, dass mir nahezu in jeder Situation etwas Passendes und Originelles einfällt. Mal sorge ich mit dieser verbalen Schlagkraft für allgemeine Erheiterung und Fröhlichkeit, mal trägt sie zur Problemlösung bei, doch manchmal verschärft sie das Problem und verursacht Verletzungen bei meinem Gegenüber. Letzteres bedaure ich sehr. Zum Glück habe ich gelernt, mich zu entschuldigen. Meist bewirkt meine Schlagfertigkeit einen Befreiungsschlag. So wie in einem Linienbus in Mainz, Ende der Achtzigerjahre, Haltestelle Stadttheater.

      Vorweihnachtszeit. Ein ungemütlicher, nasskalter Tag. Der Schnee, der morgens gefallen war, war zu Matsch geworden. Gefühlt zweihundert Menschen stiegen aus dem ankommenden Bus aus und mindestens achthundert Menschen stiegen ein. Darunter auch ich. Dennoch ergatterte ich einen Sitzplatz am Fenster. Eine junge Frau setzte sich neben mich, stand aber gleich wieder auf, um einer kleinen, alten Dame Platz zu machen.

      Die Stimmung war angespannt, nahezu explosiv. Für jeden war dieses öffentliche Verkehrsmittel in diesem Moment ein unausweichliches Übel. Keiner wollte hier sein, jeder musste. Die Menschen standen und saßen dicht gedrängt, eingewickelt in Jacken, Schals und Mützen und beladen mit prall gefüllten Einkaufstüten. Fenster und Brillen beschlugen und keiner wusste, wo er hingucken sollte. Mobiltelefone zur Ablenkung gab es noch nicht. War es draußen viel zu kalt gewesen, war es im Bus viel zu warm. Es roch nach Schweiß, Parfum und nassem Hund. Mit einem Ruck fuhr der Bus an und jeder versuchte, Berührungen mit dem Nachbarn oder der Nachbarin zu vermeiden. Unmöglich.

      Meine Sitznachbarin drehte sich mehr oder weniger zufällig zu mir, entdeckte meine kurzen Arme, erschrak und tat ihren Schrecken laut kund: »Oh Gott, wie furchtbar!« Ich starrte aus dem Fenster, um jeglichen Blickkontakt zu vermeiden.

      Nun geschah etwas Unglaubliches. Die Frau begann zu weinen. Nicht zu schluchzen oder leise zu wimmern, nein, sie heulte unfassbar laut, so wie man sich ein Klageweib vorstellt. Ich mochte mich irren, aber das Heulen wirkte nicht echt. Nahezu alle Augenpaare im Linienbus waren auf uns, besonders auf mich, gerichtet. Auch die Augen des Busfahrers, wie ich in dessen Rückspiegel erkennen konnte. Die alte Dame wandte sich in einer Lautstärke an mich, als wäre sie auf der Bühne und nicht ich. »Können Sie denn überhaupt irgendetwas machen mit diesen kaputten Händen?«, fragte sie und erzeugte damit eine noch unangenehmere Atmosphäre.

      Ich blieb konsequent von der Frau abgewandt und schaute nach links oben zu dem kleinen roten Hämmerchen, mit dem man im Notfall die Scheibe einschlagen soll. Dies hier war ein Notfall! Da gab es keine zwei Meinungen! Eindeutig! Ich war in Not und die anderen Passagiere auch, so unangenehm war die Situation.

      In Gedanken spielte ich durch, ob es mir gelingen könnte, aufzuspringen und mit meinen drei Fingern das Hämmerchen aus der Halterung zu lösen. Würde meine Kraft ausreichen, um die Fensterscheibe zu zerschlagen? Wäre ich gelenkig genug, um zügig aus dem Bus zu klettern und zu fliehen? Spätestens beim letzten Punkt war der Plan zum Scheitern verurteilt und ich verwarf ihn wieder.

      »Ich weiß ganz genau, wie Sie sich fühlen. Ich war im Krieg Rote-Kreuz-Schwester und habe ständig mit solchen Opfern, wie Sie eines sind, zu tun gehabt! Das ist so fürchterlich! Sie sind so ein jämmerlicher Mensch!«, schrie mich die Rentnerin weiter an. Der Linienbus steckte im Verkehrschaos fest. Normalerweise hätten wir schon längst an der nächsten Haltestelle sein müssen, die sich viele bestimmt herbeisehnten.

      Jetzt wurde die angespannte Stimmung noch weiter angeheizt, indem die Krankenschwester außer Dienst ihre Frage noch einmal sehr laut wiederholte. Dabei schaute sie mich diesmal nicht direkt an, sondern wanderte mit ihrem Blick durch den ganzen Bus: »Können Sie mit diesen kleinen, komischen Händen auch irgendetwas machen?«

      Jetzt konnte ich nicht weiter versuchen, die Eskalation um jeden Preis zu vermeiden. Nun musste ich meine verunsicherten Mitmenschen hier im Bus retten, und zwar sofort. Der Bühnenvorhang war bereits weit aufgerissen und ich trat an die Rampe. Sinnbildlich löste ich mein ganz persönliches Notfall-Hämmerchen aus der Halterung: meine unverwechselbare, wuchtige Schlagfertigkeit! Ruckartig drehte ich mich zu der Frau, schaute ihr direkt in die Augen und näherte mich mit meinem Gesicht dem ihren so sehr, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Die kurze Schrecksekunde hielt meine Sitznachbarin nicht davon ab, mir ihre rhetorische Frage ein drittes Mal ins Gesicht zu brüllen: »Können Sie mit diesen kleinen, verkrüppelten Händen auch irgendetwas machen?«

      »Ja!«, skandierte ich messerscharf und für alle hörbar. »Alte Frauen würgen!«

      Wie bei einem Menschen mit einem Asthmaanfall, bei dem sich die Atemwege wieder weiten, nachdem ihm ein Notfallmedikament verabreicht wurde, entspannte sich die Atmosphäre im Linienbus. Manch einer kicherte, andere kamen miteinander ins Gespräch und selbst der Busfahrer lächelte. Die Rot-Kreuz-Schwester war sichtlich beleidigt. Nicht traurig, eher in ihrem Stolz gekränkt. Sofort hörte sie auf zu weinen und murmelte »Unverschämtheit«.

      Schillerplatz! Die Türen öffneten sich. Ich zwängte mich an der alten Frau vorbei, verbeugte mich innerlich vor meinem Publikum, verließ das »Linienbus-Theater« und beschloss, den Rest zu Fuß zu gehen.

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      6

      ZÖGERN ODER WEITERGEHEN?

      Stufe für Stufe steige ich innerlich in meinen seelischen Keller hinab, bis ich vor der Tür stehe, durch die der Lichtschein strahlt. Auch wenn ich nur in meiner Vorstellung hier bin, frage ich mich, ob ich wirklich hindurchgehen soll. Wenn ich dies tue und mich meinen unbewussten Mechanismen stelle, wird das einiges verändern. Manche Tür, vor der ich im Laufe meines Lebens gestanden habe, hätte ich besser verschlossen lassen sollen, während ich mich bei manch anderer durchaus schneller hätte entschließen sollen, sie zu öffnen und durchzugehen.

      Gern hätte ich auf dieser inneren Reise einen Begleiter. Conny wäre toll! Sie hätte ich jetzt gerne an meiner Seite.

      Und während ich an Conny denke, höre ich sie förmlich schnaufen. Schnaufen und schmatzen.

      Conny hatte in meiner Kindheit meiner Tante gehört und ich hatte diese Boxerhündin sehr gemocht. Ich bin generell ein großer Hundefreund, und wenn ich mir jemals einen anschaffen sollte, dann wird es tausendprozentig ein Boxer sein. Da ist sie wieder: die Prägung. Das asthmatische Schnaufen, das ständige Schmatzen und auch das Sabbern dieser Hunderasse sind in meinem Inneren absolut positiv besetzt.

      So wie Conny sich freute, wenn mein Vater und ich sie besuchten, um mit ihr spazieren zu gehen, konnte sich kein weiteres Lebewesen auf diesem Planeten freuen.

      Hunde wedeln ja bekanntlich mit dem Schwanz, wenn sie sich freuen. Doch früher wurden bei Boxern und anderen Hunden Ohren und Schwänze kupiert. Gott sei Dank ist dies heute nicht mehr so! Weil also Conny keinen Schwanz zum Wedeln hatte, wedelte ihr ganzer Körper! Trotz ihres Übergewichts bewegte sie sich wild, drehte sich um ihre eigene Achse, hüpfte auf und ab und schnaufte, schmatzte und sabberte dabei, dass es eine wahre Pracht war.

      Als Kind musste ich immer lachen, wenn ich mir vorstellte, dass Menschen sich wie Hunde begrüßen und sich gegenseitig am


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