Immer im Rampenlicht. Bernd R. Hock
Alle stehen auf! Standing Ovations! Die Menge jubelt mir zu. Publikum und Festkomitee feiern mich in einer Art und Weise, wie ich mir dies nicht hätte träumen lassen. Eine Applaus-Rakete nach der anderen wird gezündet.
Ich könnte weinen vor Glück. Vielleicht tue ich es auch ein wenig. Wie ein Staubsauger, an dessen Saugschlauch man bei vollem Betrieb das Rohr entfernt und der dann wild durch den Raum fliegt, versuche ich, den ganzen Zuspruch einzusaugen.
Nachdem ich mindestens eine Viertelstunde überzogen habe, gehe ich ab und trete zurück in den Schutz des Seitenvorhangs, der nun für mich kein Schutz mehr sein muss. Jeder darf mich sehen! Jeder!
Am Bühnenrand empfängt mich Corinna. Anscheinend hat sie meinen gesamten Auftritt von dort verfolgt, denn sie hat immer noch ihr Hühnchen-Kostüm an und hält die Latexmaske in der Hand. »Die sind bei dir ja richtig abgegangen!«, meint sie anerkennend, aber auch mit einer Portion Neid in der Stimme.
Von links kommt Bettina, die Regieassistentin, auf mich zu, umarmt mich und küsst mich. Ja, sie küsst mich! »Alter, das war ganz großes Kino! Richtig klasse! Du warst grandios! So war das Publikum noch nie dabei! – Machen wir nachher noch was zusammen?«
Ich spüre, wie Glückshormone tonnenweise in mir ausgeschüttet werden, und bin überzeugt, dass die Menge an Serotonin mich ab jetzt bestimmt jahrelang durch den Alltag tragen wird. Dass solche durch Beifall freigesetzten Hochgefühle nur eine Halbwertszeit bis zum nächsten Frühstück haben, werde ich erst am nächsten Morgen erfahren.
»Wie war ich?«, schießt es wie automatisiert aus mir heraus und ich registriere überhaupt nicht, welch selten dämliche Frage ich da gerade gestellt habe. Bettina wirkt für einen kurzen Augenblick völlig entgeistert. Kurz, sehr kurz friert ihr Gesicht ein, aber rasch entspannt sich ihre Mimik wieder und sie sagt, wohl in der festen Überzeugung, dass ich sie gerade hochgenommen habe: »Du bist echt ne coole Sau! Also nicht abhauen, hörst du. Ich will nachher noch mit dir feiern.«
Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie ein Bühnenarbeiter auf Hühnchen-Corinna zugeht. »Corinna! Du warst wieder sensationell!«, sagt er. Die beiden umarmen sich und beginnen zu tuscheln. Der Arbeiter blickt in meine Richtung und guckt unfreundlich. Er tuschelt weiter und ich habe das Gefühl, dass er sich abfällig über mich äußert. Während ich die beiden mit meinem Blick fixiere, laufen immer wieder Menschen an mir vorbei, die mich anlächeln, mir auf die Schulter klopfen oder mir mit wenigen Worten ihre Anerkennung ausdrücken. Ich bedanke mich beiläufig, meine komplette Aufmerksamkeit richtet sich jedoch auf den Dialog zwischen Corinna und ihrem Fan. Zu gerne würde ich mitkriegen, was die beiden jetzt über mich reden.
Plötzlich zerdrückt die eiskalte dunkle Hand der Angst meinen Magen und mein Herz kurzzeitig zu Brei. Ich meine, das Wort Behinderten-Bonus gehört zu haben. Ich will mich auf die beiden zubewegen, doch da wird der Bühnenarbeiter von hinten gerufen und Corinna marschiert Richtung Garderobe.
Hilfe suchend schaue ich mich um. Eine Dame mit Fotoapparat kommt auf mich zu, stellt sich als Redakteurin der hiesigen Lokalzeitung vor und meint: »Sie waren wundervoll! Hätten Sie gleich noch etwas Zeit für ein paar Fragen und ein Foto?«
»Natürlich!«, antworte ich und merke, wie ich wieder festen Boden in Form von Bühnen-Brettern unter die Füße bekomme. Bretter, die nur die Welt bedeuten! Aber in genau dieser Welt muss ich ein ganzes Leben lang zurechtkommen! Alleine!
Ich ahne nicht, dass Gott persönlich mich ziemlich genau drei Jahre später im Herzen ansprechen und beginnen wird, im »Rampen-Saustall meiner Gefühlsabhängigkeiten« aufzuräumen. Noch viel weniger ahne ich, dass dieses Aufräumen ziemlich lange dauern wird.
Gut gelaunt sehe ich noch einmal hoch zum Bühnenscheinwerfer, der gerade eine Gruppe junger Musiker anstrahlt. Ich schaue in dieses Scheinwerferlicht, in dessen Kegel ich mich getraut habe. Dick, mit kurzen Armen, in Trainingshose und mit Sweatshirt ohne Bündchen.
Der Spot bewegt sich, verfolgt das Bühnengeschehen. Ich blicke ihm versonnen nach. Das hat zwanzig Jahre früher schon einmal viel bewirkt, in einem Kreißsaal in Landau in der Pfalz.
2
MEIN ERSTER BLICK INS LICHT
Es gibt Geburtstage, an die kann man sich ein Leben lang erinnern. Der Fünfzigste zum Beispiel, der groß gefeiert wurde. Oder der Achtzehnte. Endlich volljährig! Oder meinetwegen auch der Dreiundvierzigste, weil man etwas ganz Unpassendes geschenkt bekommen hat, Tante Rosi sich ein Glas Rotwein über ihr nagelneues Satinkleid gekippt hat oder Onkel Harald und Onkel Franz sich am späten Abend ziemlich betrunken fürchterlich über Politik gestritten haben.
Wie ist es mit dem echten Geburts-Tag? Die persönliche Stunde null! Der Tag, an dem man das Licht der Welt erblickt hat!
Daran hat man keine bewussten Erinnerungen, man kennt ihn nur aus Erzählungen. Ich natürlich auch. Trotzdem glaube ich, ziemlich genau zu wissen, wie meine Geburt abgelaufen und was unmittelbar danach geschehen ist. Diese Sicherheit gründet sich auf intensive Gespräche mit meiner Mutter und ihre Erinnerungen an den 15. März 1968 und auf meine nicht logisch erklärbare Herzens-Überzeugung: »Genau so muss es gewesen sein damals, als Gott wollte, dass ich lebe!«
Ich bin splitternackt und es geht mir gut. Sehr gut! Ich habe alles, was ich brauche: Nahrung, Wärme und irgendwie rundherum gute Gefühle.
Obwohl? So ganz stimmt das nicht. Heute nicht. Heute fühlt es sich anders an, irgendwie unruhiger. Zumindest seit ein paar Stunden. Es rumpelt und gluckert um mich herum. Mehr als sonst. Gedämpft nehme ich aufgeregte Menschen da draußen wahr, die irgendetwas vorbereiten, was mit mir zu tun hat.
Der Herzschlag meiner Mutter, dem ich stets so nah bin, ist schneller als sonst. Schneller, wuchtiger, unregelmäßiger. Okay! Es ist etwas enger hier drinnen geworden in den letzten Wochen, aber das ist noch lange kein Grund umzuziehen! Warum denn auf einmal so ein Stress? Hoffentlich beruhigt sich die Lage gleich wieder!
»Herr Doktor, ich glaube Sie können sich schon einmal bereit machen. Bei der Frau Hock geht das jetzt langsam los«, höre ich dem Treiben zu und spüre, dass Veränderungen mit großer Tragweite wohl nicht mehr abwendbar sind. Auch mein Herz pocht jetzt heftiger als sonst.
Irgendetwas drückt massiv. Dann wieder diese Stimme: »Oh! Steißlage!« Mit heftigem Druck werde ich aus meiner wunderbaren Behausung, in der es mir die letzten neun Monate so gut ging, in einen viel zu engen Kanal gepresst.
Sag mal, packt mich da jemand am Hintern?! Wieder Druck. Panik! Was soll denn das alles? Kann es nicht einfach für immer so bleiben, wie es ist?
Danach geht es verhältnismäßig schnell und ziemlich brutal weiter. Ich bin nicht sicher, ob ich das alles überleben werde, was mir da gerade passiert: Stöhnen vor Schmerzen, Kommandos, Druckwellen, Herzrasen, Enge, heftiges Schaukeln, Schwindel, Panik, Atemnot, wieder Druck und plötzlich wird es verdammt hell. Hell und richtig kalt.
»Es ist ein Junge!«
Ich bin jetzt vollkommen schutzlos! Blut und andere glibberige Massen kleben überall, auch in meinem Mund und meinen Nasenlöchern. Ich will schreien. Es geht nicht.
Dass hinter mir meine total erschöpfte Mutter liegt, merke ich nicht. Dass vor mir eine Frau und ein Mann total erschrocken sind, nehme ich irgendwie wahr. Auch dass der Mann im weißen Kittel sehr schnell dafür sorgt, dass ich auf einen Untersuchungstisch gebracht werde, entgeht mir nicht.
»Was isch donn do los? Der kreischt jo gar net, der Bu!«, ruft meine Mutter sorgenvoll im Pfälzer Dialekt.
Der Gynäkologe, der ihr immer noch den Rücken zudreht, mich verdeckt und untersucht, antwortet: »Der kreischt glei, awwer er hot ebbes on de Ärm!« (»Der schreit gleich, aber etwas mit seinen