Immer im Rampenlicht. Bernd R. Hock
ist zu erschöpft. Fühlt sich kraftlos und hilflos. Die Untersuchungen mit dem Hörrohr während der Schwangerschaft meiner Mutter sind alle unauffällig gewesen. Niemand hat etwas Außergewöhnliches bemerkt – bis jetzt.
Ich bin immer noch unter Schock und immer noch so still wie später mein ganzes Leben nicht mehr. Ich werde sauber gewischt und es wird weiter an mir herumgedoktert. Ich bemerke eine gedrückte und traurige Stimmung im Kreißsaal und spüre, dass ich wohl der Grund dafür bin.
Endlich kann ich schreien und tue dies auch. Vielleicht aus Wut. Die Hebamme bringt mich frisch gesäubert und eingewickelt zu meiner Mutter und legt mich auf ihren Bauch. Meine allererste, kleine Bühne!
»Da bin ich, Mama! Wahrscheinlich nicht ganz so, wie du dir das vorgestellt hast, tut mir leid. Entschuldigt alle hier im Kreißsaal! Ich wollte euch bestimmt nicht erschrecken!«
Irgendwann am Abend sind meine Mutter und ich endlich ganz allein in einem Klinikzimmer. Nicht, weil meine Eltern sich den Luxus eines Einzelzimmers leisten können, sondern vielmehr deshalb, weil man andere Wöchnerinnen durch meine Anwesenheit nicht beunruhigen will.
Es ist so aber auch genau richtig für Mama und mich. Schön, dass wir beide jetzt endlich einmal allein sind! Sie legt mich an ihre Brust und ich beruhige mich. Angeschmiegt an warme weiche Haut ist es zwar nicht ganz so angenehm wie in der Gebärmutter, aber doch durchaus akzeptabel.
Ich glaube, meine liebe Mutter ist noch ziemlich aufgewühlt. Sie schaut mich an. Was sie wohl denkt? »Wie soll des donn alles werre? Wie solle ma donn des alles schaffe? Ma wääß jo noch gar net, was der Bu noch fer Behinnerunge hot?« (»Wie soll das bloß alles werden? Wie sollen wir das alles schaffen? Wer weiß, was der Junge vielleicht noch für Behinderungen hat?«)
Ich verfolge mit meinen glänzenden Augen wachsam ein flackerndes Deckenlicht. Kein Rampenlicht, wie es mich später in Koblenz und anderswo erwarten wird, einfach eine stinknormale, defekte Neonröhre. Mal flackert sie auf der einen, mal auf der anderen Seite. Da flackert plötzlich wohl auch etwas im Herzen von Mama auf, die mich beobachtet. Eine wohltuende Wärme breitet sich aus. Freude bricht sich Bahn. Endlich etwas Mutterglück. Sie bleibt mit ihren Gedanken im Heute, im Hier, im Jetzt. Dies ist spürbar für mich, denn Mama wird ruhiger. Ihre Ruhe überträgt sich über die Muttermilch auch auf mich. Die Nabelschnur wurde gekappt, eine neue Leitung ist gelegt.
Dankbar beobachtet meine Mutter meine interessierten Augen und weiß ganz plötzlich: »Also am Kopp hot der Bu nix!« (»Also eine geistige Behinderung hat der Junge nicht!«)
Das scheint Trost und Ermutigung genug. Genug für jetzt. Genug für diesen Moment. Genug für uns beide.
Mama streichelt meinen Kopf und gibt mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Die Deckenleuchte verliert an Bedeutung und ich schaue in das Gesicht meiner Mutter. Ich fühle mich geborgen. Sie schaut mich an. Sie nimmt mich an. Sie lächelt. Fürs Erste bin ich in Sicherheit. Vielleicht lässt es sich hier draußen doch leben?!
Hier, auf dieser großen Weltbühne!
3
VERABREDUNG IM KELLER MEINER GEDANKEN
Irgendwie bin ich immer auf einer Bühne, immer auf irgendeinem Präsentierteller. Bin einfach nie inkognito, mit meiner besonderen Figur. Sobald ich mich in freier Wildbahn bewege, werde ich beobachtet. Mal verstohlen aus dem Augenwinkel heraus, mal direkt, mit weit aufgerissenen Pupillen wie bei einer Waldohreule. Unzählige Augen haben mich seit meiner Geburt vor über einem halben Jahrhundert beobachtet, manche angestarrt.
Lachende Augen, die mich ermutigt haben. Barmherzige Augen, die mich getröstet haben. Schöne Augen, die mich angezogen haben. Gierige Augen, die mich ausgezogen haben. Elektrisierende Augen, die mich gierig gemacht haben. Bedrohliche Augen, die mich in die Flucht geschlagen haben. Traurige Augen, die mich verunsichert haben. Unehrliche Augen, die mich wütend gemacht haben. Vielsagende Blicke ohne Worte. Leere Blicke mit vielen Worten.
Viele Augen-Blicke in meinem Leben habe ich nicht vergessen. Diese Beobachtungen machten und machen jede Alltagssituation zu einem kleinen Bühnenauftritt: Vorhang auf! Wir spielen heute das Stück: Bernd an der Supermarktkasse!
Das Bezahlen beim Discounter an der Kasse ist unter normalen Umständen ein recht unspektakulärer Moment. Es sei denn, man hat gerade sechzehn Leute hinter sich in der Schlange und einem selbst fällt das Portemonnaie aus der Hand und die Geldmünzen rollen munter auf dem Boden herum. Die Bühne ist bei mir nicht der Augenblick, der Moment, als solcher, sondern es sind die Augen-Blicke, die Augen, die aus der Schlange hinter mir heraus auf mich blicken. Diese Menschen, die mich beobachten, werden rasch zu Publikum. Meinem Publikum!
Wenn ich gut drauf bin und es mir zum Beispiel auf Anhieb gelingt, mit meinen drei Fingern mein Portemonnaie aus meiner Tasche zu holen, Cent für Cent aus dem Geldbeutel zu fummeln und das Münzgeld der Verkäuferin abgezählt hinzulegen, dann genieße ich den stillen Applaus des Schlangen-Publikums hinter mir in Form von anerkennenden Augen-Blicken: Beeindruckend, wie der das kann. Oft gab und gibt es auch lauten Applaus! Anerkennung! Lob! Ehrliche und tiefe Wertschätzung! Zahlreiche Augenblicke allerdings waren bedrohlich und einige, so erinnere ich mich, hatten nahezu Vernichtungspotenzial.
Genau vor diesen vernichtenden Blicken, vor diesen Bedrohungen, hat er mich in über fünf Jahrzehnten immer zuverlässig und sicher bewahrt. Keinen einzigen Tag hat er sich freigenommen, nie hat er wegen Krankheit gefehlt. Niemals hat er gestöhnt, dass ihm die Arbeit zu anstrengend sei. Stets hat er dafür gesorgt, dass ich mit meiner Situation leben konnte und in relativer Sicherheit war. So manches Mal hatte ich es ihm zu verdanken, dass ich überlebt habe. Er war immer zur Stelle, höchst effektiv und zu einhundert Prozent verlässlich.
Dabei kenne ich ihn gar nicht richtig. Genau genommen weiß ich noch nicht allzu lange, dass es ihn überhaupt gibt und was ich ihm alles zu verdanken habe. Und heute sind wir verabredet. Ich will ihn treffen. Will ihn kennenlernen. Nicht um mich zu bedanken. Nicht um mit ihm gemeinsam ein Dienstjubiläum zu feiern. Nein! Ich möchte ihn treffen, um ihn zu feuern! Rausschmeißen will ich ihn! Kündigen! Fristlos! Deshalb habe ich mich auf diesen Weg gemacht, um ihn zu treffen. Von seiner Existenz erfahren habe ich in einer psychotherapeutischen Sitzung.
Am Anfang kam mir das etwas komisch vor. Ich glaube an Gott! Ich glaube an einen liebenden Gott! Glaube an Jesus Christus, an die Kraft des Evangeliums! Da brauche ich doch nicht noch irgend so einen, so einen … so einen … Wächter. Wächter, ja, so haben wir ihn genannt in dem Therapiegespräch.
Mir ist mulmig zumute. Ich fühle mich, als würde ich einen kalten dunklen unterirdischen Gang betreten. Irgendwie tue ich das auch, wenn ich mich so ins Erinnern und Reflektieren begebe. Ich mache das immer öfter in letzter Zeit. Versuche, zu rekonstruieren, wo so manche Verhaltensweisen von mir herkommen. Will erkennen und verstehen, in welchen Situationen was, wie und durch wen genau in mich hineingeprägt wurde. Wo Verletzungen entstanden sind und wo ich fast unmerklich verschiedene Schutzmechanismen entwickelt habe, die in diesem inneren Wächter zusammengefasst sind. Ich steige sozusagen hinab in den Keller meines Unterbewusstseins.
Und das fühlt sich tatsächlich an wie ein dunkler Gang. Kühl ist es auch. Kalt wird mir ums Herz, wenn ich gedanklich zu weit vordringe. Manchmal wage ich es nicht, weiterzudenken, so wie man sich im Dunkeln auf einer Kellertreppe nicht weitertraut. Dann muss ich mich behutsam vortasten in meinen Gedanken. Das fällt mir mitunter ziemlich schwer. Genauso wie es mir im realen Leben schwerfällt, mich mit meinen kurzen Armen in der Dunkelheit irgendwo entlangzutasten.
Unsicherheit überkommt mich: »Warum habe ich mich auf diesen blöden Weg gemacht?«, rufe ich, um mich nicht ganz im Unterbewusstsein zu verlieren. »Weil es so nicht mehr weitergehen kann, Bernd!«, schießt es mir sofort durch den Kopf.
Mein