Immer im Rampenlicht. Bernd R. Hock

Immer im Rampenlicht - Bernd R. Hock


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Hemmung und nimmt nach kurzer Zeit mein äußerliches Anderssein nicht mehr wahr. Für meine Hemmungen und unklaren Gefühle gab und gibt es Schokolade. Schokolade und Marzipan!

      Mein erstes Marzipan wurde mir mit knapp vier Jahren von meinen Eltern geschenkt. Irgendwie war es wohl als Trost gedacht, denn hinter mir lag eine der schlimmsten Wochen meines Lebens. Was sich in dieser Woche zugetragen hatte, war wohl auch für meine Eltern, besonders für meine Mutter, sehr belastend. Ich erinnere mich noch sehr genau an diese Situation. Eine blaue Strumpfhose trug ich damals und mein Gesicht war tränenüberströmt. In meiner großen Not schrie ich unbändig, als das Gitter hochgefahren wurde, unwiderruflich einrastete und ich Hilfe suchend meine kleinen Hände hindurchsteckte. Geholfen hat mir dies alles nichts!

      Geholfen aber haben die vier kleinen Marzipanschweinchen, die ich eine Woche später bekam. Sie lagen in einem kleinen, mit künstlichem Stroh ausgepolsterten Körbchen und waren zusammen mit einem vierblättrigen Kleeblatt und einem kleinen Schornsteinfeger aus Plastik in Klarsichtfolie verpackt. Ein »Mitbringsel«, das Geschenk meiner Eltern, die ich zuvor eine Woche nicht hatte sehen dürfen. Eine ganze Woche!

      Man hatte meiner Mutter und meinem Vater geraten, mich stationär in einer Klinik behandeln zu lassen. Unter anderem sollten die Beweglichkeit und der Einsatz meiner Füße und Zehen überprüft und trainiert werden.

      So brachten mich meine Eltern also eines Tages in dieses Krankenhaus. Bekleidet mit einem Unterhemd und der bereits erwähnten Strumpfhose wurde ich in ein vergittertes Bettchen gelegt. Als das letzte noch offene Seitengitter hochgeschoben wurde, verstand ich die Welt nicht mehr. Ich registrierte, dass Mama und Papa sich nun von mir verabschiedeten, aber ich wusste überhaupt nicht, warum, und vor allen Dingen wusste ich nicht, für wie lange. Würde ich meine Eltern jemals wiedersehen? Ich hatte panische Angst!

      Am Ende waren meine Mutter, eine Krankenschwester und ich alleine in diesem Raum und ich schrie um mein Leben. Ich streckte meine kleinen Ärmchen zwischen den weißen Gitterstäben hindurch, bei denen an zahlreichen Stellen der Lack abgeplatzt war und das nackte, kalte Metall so blank lag wie meine Nerven und bestimmt auch die meiner Mutter. Ich streckte mich Hilfe suchend nach Mama aus. »Mama, Arm!« Meine kleine Kinderseele konnte es nicht fassen, dass nun tatsächlich geschah, was nicht geschehen durfte: Meine Mutter musste das Zimmer verlassen und tat dies auch. Gefühlt habe ich noch Stunden jämmerlich geschrien und literweise Tränen vergossen, bis ich irgendwann total erschöpft einschlief.

      Von der Notwendigkeit einer sicheren Bindungsentwicklung zwischen Kind und Eltern, von lebenswichtiger Feinfühligkeit, von Integration oder gar Inklusion wusste und hielt man damals ungefähr so viel wie von Mülltrennung oder einem Verbot betäubungsloser Ferkelkastration.

      Die nächste Möglichkeit, meine Eltern wiederzusehen, die nächste Besuchszeit, war exakt eine Woche später um 15 Uhr. An das, was in der Zwischenzeit mit mir so alles gemacht wurde, habe ich nur brüchige und überwiegend unangenehme Erinnerungen.

      Wir waren recht viele Kinder, alle mit einer ähnlichen Behinderung. Die meisten waren älter als ich und die Ursache ihrer Körperbehinderung waren fast ausnahmslos die Nebenwirkungen des Medikamentes Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid. Contergan war von 1958 bis 1961 ein beliebtes rezeptfreies Beruhigungs- und Schlafmittel, welches auch die morgendliche Übelkeit bei Schwangeren linderte. Als ernst zunehmende Vermutungen aufkamen, dass Thalidomid in der frühen Schwangerschaft Schädigungen in der Wachstumsentwicklung der Föten hervorruft, wurde das Medikament 1961 zunächst rezeptpflichtig und anschließend vom Markt genommen.

      Die Ursache meiner Behinderung ist jedoch bis heute ungeklärt. Contergan hat meine Mutter niemals eingenommen.

      Das Schlimmste war, dass manche Krankenschwestern und -pfleger uns überhaupt nicht emotional zugewandt waren. Es gab keine liebevolle Ansprache. Null Empathie. Fast ausschließlich schroffe Kommandos, Ermahnungen und Sanktionen. Wir hatten keine Lobby zwischen den Besuchszeiten. Tränen wurden nicht mit Taschentüchern, sondern mit eiskalten Worten weggewischt: »Hör jetzt auf zu heulen und zu schreien! Mama hört dich nicht.«

      Besonders schlimm war es, wenn die eine ziemlich ruppige Pflegerin das kollektive Abduschen übernahm. Bruchstückhaft erinnere ich mich, wie sie mich an meinem rechten Arm gegen meinen Widerstand nackt durchs Badezimmer schleifte und viel zu heiß abbrauste. Das tat weh und ich schrie wie am Spieß. Über irgendetwas fluchend zog die Ruppige ihr Programm durch, agierte schroff und meist mit Zwang.

      Das Gegenteil war ein junger Mann. Er hatte einen Bart und war wahrscheinlich so etwas wie ein Ergotherapeut. Vielleicht war er aber auch ein Engel. Er befreite mich manchmal aus den Fängen der Lieblosigkeit und dem Machtbereich der Ruppigen und half mir so, mein Heimweh eine Zeit lang zu vergessen. Mit ihm durfte ich in einer Sporthalle auf ein überdimensionales Trampolin steigen, eine riesige Freude für mich! Ich begann zu springen und der bärtige Engel gab am Rand auf mich acht.

      Ich hüpfte und hüpfte. Höher und höher und höher. Ich sprang über zehn Meter hoch. Nein, über zwanzig, fünfzig, ja hundert, nein fünfhundert Meter sprang ich hoch hinaus. Gefühlt. Dabei juchzte ich, wie wenn ich von meinem Vater in die Luft geworfen und wieder aufgefangen wurde. Für Bruchteile von Sekunden verließ ich beim Springen den traurigen Boden der Klinik-Tatsachen und war dem Himmel nah. Dem Himmel und Gott, der dort ja wohnt, wie man mir erzählt hatte.

      Wie nah Gott mir auch in dieser Zeit war, erfuhr ich erst viel später in meinem Leben. Heute jedoch weiß ich: Meine von Jubelschreien begleiteten fröhlichen Trampolinsprünge waren das Hochwerfen und wieder Auffangen durch meinen himmlischen Vater.

      Auch das Malen mit den Füßen machte mir Spaß. Doch dazwischen rastete die Ruppige immer wieder aus und abends, viel zu früh, das Bettgitter ein. Die Nacht gehörte dem Heimweh, den Tränen und der Erschöpfung. Bis zu dem Tag, an dem die Eltern ihre Kinder besuchen durften.

      Natürlich konnte ich die große, quadratische, analoge Uhr im Krankenhausflur noch nicht lesen, doch irgendwie verstand ich, dass der kleine Zeiger waagerecht rechts zu stehen hatte und der große Zeiger senkrecht oben stehen musste, damit die Frau mit der dunklen Hornbrille eine Woche später endlich die Glastür mit dem blauen Metallrahmen und den übergroßen, rechteckigen Holzgriffen öffnete. Auf der anderen Seite dieser Glastür standen zahlreiche Eltern, die ihre Kinder besuchen wollten, ganz vorne mein Papa und meine Mama! Doch zwischen uns dieses beschissene Glas. Im Gegensatz zum Zoo, wo eine solche Scheibe beispielsweise davor schützt, dass der Gorilla ein Kind munter durchs Gehege schleudert, hielt diese Glastür mich davon ab, mich endlich ganz dicht an meine Mama zu kuscheln. Egal wie stark wir Kinder bettelten, wie intensiv ich dieser Frau an ihrem weißen Kittel hing, in dem sie den Türschlüssel verborgen hatte, sie öffnete exakt um 15 Uhr und keine Sekunde früher.

      Circa eine Stunde durften meine Eltern bei mir sein. Warum sie danach wieder gehen mussten, verstand ich selbstverständlich genauso wenig wie eine Woche zuvor. Kurz bevor sie aufbrachen, schenkten sie mir die bereits erwähnten Marzipanschweinchen. Unterbewusst versuchte ich, die Situation zu begreifen: »Ich merke, dass Mama und Papa mich nicht mitnehmen, sondern wieder alleine lassen werden. Ich spüre auch, dass Mama und Papa dies gar nicht wollen. Ich bin traurig, habe Angst und das alles tut sehr weh im Bauch! Mama und Papa helfen mir. Jetzt helfen sie mir gerade mit Marzipan!«

      Somit wurde dieser Moment zur Geburtsstunde einer fundamentalen Festlegung: Gegen tiefe seelische Schmerzen, gegen Trennungsangst, tiefe Traurigkeit und Lieblosigkeit hilft Marzipan. Hilft Zucker!

      Nach drei Wochen sollte ich aus der Klinik entlassen werden und meine Eltern kamen, um mich abzuholen. Auch diesen Moment kann ich noch gut erinnern. Ein Büro mit dunklen Eichenmöbeln, die Sitz- und Rückenflächen der Stühle waren mit gepolstertem dunkelgrünem Leder bezogen, welches an den Kanten mit zahlreichen goldenen abgewetzten Beschlägen am Holz festgenietet war. Meine Eltern und ich saßen vor einem mächtigen Schreibtisch, hinter dem der Herr Professor über meinen Fall dozierte. Ich habe ihn noch genau vor Augen. Er war eigentlich recht nett. Manchmal war ich einfach so mir nichts, dir nichts in sein Büro gelaufen, dann hatte er sich gefreut und sich mir freundlich zugewandt. In dem Gespräch mit meinen Eltern berichtete er von Verbesserungen und Fortschritten, die ich in den letzten Wochen gemacht hätte.


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