Immer im Rampenlicht. Bernd R. Hock
Mein Auto drehte sich weiter und jetzt gab es in beide Richtungen nur noch einen sehr begrenzten Zwischenraum. Nach vorne die stehenden Fahrzeuge und hinter uns der außer Kontrolle geratene LKW. Ich drehte weiterhin am Rad. Nervlich sowieso und eben auch buchstäblich am Lenkrad. Plötzlich schepperte, knallte und kratzte es. Rauch stieg aus der Motorhaube auf. Zum Orientieren blieb keine Zeit, schon gab es den nächsten heftigen Knall, lauter als das ganze Rumsen vorher. Der Lastwagen war krachend auf die stehenden Fahrzeuge aufgeprallt. »Moment mal, und wir?!« Nun erst realisierte ich, dass wir mit meinem Auto rechts neben der Fahrbahn in den Seitengraben gerollt und zum Stehen gekommen waren. Wir drei konnten ohne Mühe und unverletzt aus dem Fahrzeug aussteigen und mussten nur auf Hilfe warten.
Immer wieder krachte es. In diesem Stau knallten sehr viele Autos ineinander. Irgendwann kam die Polizei, nahm unsere Personalien auf und viel, viel später kam der Abschleppdienst. Vollkommen durchgefroren stiegen wir zu dem Fahrer ins Führerhaus, hinter uns auf der Ladefläche mein Opel Rekord und ein grüner, zusammengedrückter Blechhaufen. »Des war vor drei Stunde noch en VW Golf gewese!«, klärte uns der Mann vom Abschleppdienst auf und fügte hinzu: »Die Fahrerin hot net so viel Glick gehat wie ihr. Die is tot.« Wir waren entsetzt und dankbar zugleich. Dankbar dafür, dass wir lebten.
Ich wusste damals immer noch nicht viel von Gott, von seinem Schutz, von Bewahrung. Sonst hätte ich die Schutzengel um uns und das Auto herum vielleicht wahrgenommen. Die Situation war äußerst gefährlich gewesen, aber wir waren sanft in den Straßengraben gerollt. Wieder wollte Gott, dass ich lebe.
Der Schaden an meinem Opel belief sich auf 180 Deutsche Mark, das sogenannte Luftleitblech musste erneuert werden. Sonst nichts. Martina, Martin und ich, wir waren alle drei vollkommen unverletzt. Also, ich war immer noch behindert, aber keiner von uns war schwerbeschädigt.
8
»DER BU MACHT SEIN WECH«
Bevor ich den riesigen Opel durch die Lande steuerte, lenkte ich so manch anderes Gefährt. Meine allererste eigenständige Fahrt auf vier Rädern fand, wie könnte es anders sein, im Landauer Zoo entlang der heutigen Afrika-Anlage statt. Ich war überglücklich und trat in die Pedale eines Kettcars. Ich durfte dieses Gefährt ausprobieren, eroberte es im Sturm und war überglücklich, weil ich es ganz ohne fremde Hilfe fahren konnte. Großartig! Der eigentliche Fahrzeughalter, Oliver, beobachtete mich geduldig. Ich wollte gar nicht mehr absteigen und hätte am liebsten noch vor Ort meine Mutter mit der Enteignung des Besitzers beauftragt. Oli und ich waren beide um die dreieinhalb Jahre alt und wir begegneten uns an diesem Tag zum ersten Mal.
Doch ich gab Oli sein Kettcar zurück und bekam später ein eigenes. Unsere Kettcars sind längst verschrottet, die Herstellerfirma Kettler ist seit 2019 insolvent, aber meine Freundschaft zu Oli lebt und besteht nunmehr seit fast 50 Jahren.
Für meine Eltern war es gar kein Thema, dass auch ich in den Kindergarten gehen würde. Ich ging zuerst in die Langstraße zu Tante Liesel und später in den Kindergarten am Schützenhof zu Tante Dagmar. Die Berufsbezeichnung »Kita-Fachwirt/-in« war noch lange nicht geboren, nicht einmal gezeugt und auch von Erzieherinnen und Erziehern wurde nicht gesprochen. Sogar die Bezeichnung Kindergärtnerin wurde selten gebraucht. Es waren schlicht die Kindergartentanten. Auch wenn allzu oft in den Rückspiegel geguckt und glorifizierend von den »guten, alten Zeiten« geschwärmt wird, wie gut, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist. Wie wertvoll, dass aus den »Tante Liesels« und »Tante Dagmars« heute »pädagogische Fachkräfte« geworden sind. Sie waren das damals schon, aber heute werden sie auch so genannt.
Die gesellschaftliche Anerkennung gegenüber diesem Berufsstand hat sich, wenn auch viel zu wenig, durchaus positiv verändert. Dennoch fehlt mir der Glaube, dass ich eine wirklich angemessene Wertschätzung von Erzieherinnen und Erziehern, Kinderpflegerinnen und Kinderpflegern oder Krankenschwestern und Krankenpflegern in unserer Gesellschaft noch erleben werde. Es will mir einfach nicht in den Kopf, warum ein Mensch, der den ganzen Tag alte Menschen füttert, mit ihnen singt, sie wäscht und kämmt, oder ein anderer, der in seinem Arbeitsalltag kleine Kinder wickelt, mit ihnen die Welt erkundet, ihnen Toleranz und Nächstenliebe beibringt, am Ende des Monats so viel weniger verdient, als er wirklich verdient.
Dies gilt auch für die Erzieherinnen in meinen beiden Kindergärten. Besonders an meine Zeit im Schützenhof-Kindergarten habe ich gute Erinnerungen. Die zeitweise Trennung von meinen Eltern machte mir nichts aus. Oli war dort und viele andere Freundinnen und Freunde auch. Ich bespielte in dieser Zeit nicht allzu viele Bühnen, war einfach ein Kindergartenkind. Schön!
Nicht schön war die Begegnung mit Christoph, der eines Tages während des Freispiels zu mir auf einen Hügel im Außengelände des Kindergartens stieg und fragte: »Horch! Willscht e Ringkämpfel?«
Christoph war berüchtigt und so sagte ich schnell »Nein!« zu seinem Ringkampf-Angebot. Ich habe dabei aber wohl nicht sehr selbstsicher gewirkt, denn ehe ich mich versah, hatte ich seine Faust im Gesicht, fiel zu Boden und kugelte wie ein Mitglied der Blechbüchsenarmee aus der Augsburger Puppenkiste den gesamten Hügel hinunter. Leider bemerkte keiner der Erwachsenen diesen Vorfall und man hörte mir auch nicht richtig zu, als ich unter Tränen schilderte, was passiert war. Dementsprechend war ich mit der fehlenden Sanktionierung von Christoph höchst unzufrieden.
Etwas später packte ich unbemerkt meine Sachen und es gelang mir, mich aus dem Kindergarten zu schleichen. Geduckt lief ich am Jägerzaun entlang, bis ich außer Sichtweite war. Ich richtete mich auf und ging schimpfend nach Hause. Obgleich ich eine sehr befahrene Straße überqueren musste, kam ich heil an. Ja, viele Engel waren und sind mit meinem Leben beschäftigt!
Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass zur damaligen Zeit wirklich niemand an Integration oder Inklusion gedacht hat. Ich war einfach mit dabei. »De Bernd isch de Bernd!«, hieß es. (»Der Bernd ist halt so, wie er ist.«) Und dieses Konzept funktionierte, weil ich die Unterstützung erhielt, die ich brauchte.
So einfach war es allerdings bei der Einschulung nicht. Vertreter der frisch gegründeten Landauer Sonderschule besuchten meine Eltern und warben intensiv darum, mich in ihrer Einrichtung einzuschulen. Besonders meinem Vater behagte dies irgendwie nicht. Er wollte es gern erst einmal auf einer Regelschule versuchen. Dieses Unterfangen erschien nahezu aussichtslos, doch auch hier zahlten sich seine Stärke, sein Einfühlungsvermögen und seine Überzeugungskraft aus. Seine Idee traf tatsächlich auf offene Ohren und Herzen, besonders beim damaligen Schulrat von Landau. Und so wurde ich 1974 in der heutigen Thomas-Nast-Grundschule, die damals noch Horst-Schule hieß, eingeschult.
Soweit ich mich erinnern kann, war ich dort gut integriert, und hier begann auch meine Karriere als Entertainer. Ich punktete mit meiner Ausstrahlung, meinen Witzen und meiner starken Bühnenpräsenz, die so manches Mal das Klassenzimmer ausfüllte. Einmal musizierten wir als Klasse auf einem Sommerfest. Jedes Kind spielte irgendein kleines Instrument und wir probten regelmäßig. Ich war zunächst ziemlich traurig, dass ich kein Instrument bedienen konnte, deshalb bot mir die Lehrerin an, die Triangel zu spielen. Die Triangel? Ich? Alle paar Minuten nur ein einfaches »Bing«? Von dieser Idee war ich zunächst wenig begeistert. Der Triangel-Spieler erschien mir zu weit im Hintergrund.
Am Ende spielte ich dieses Instrument aber doch, allerdings ganz und gar nicht im Hintergrund. Schon rein äußerlich war ich mit der Triangel und wie ich sie hielt und bediente, ein Hingucker. Außerdem schlug ich das Metall sehr akzentuiert und das ein oder andere Mal auch durchaus ungeplant, stets aber mit einer solch sichtbaren Freude, dass mir die Herzen des Publikums zuflogen, als hätte ich ein Violinen-Solo von Schostakowitsch dargeboten.
Trotzdem brauchte ich natürlich im Schulalltag für vieles länger als die anderen und tat mich in vielen Bereichen deutlich schwerer. Heute gibt es sogenannte Integrationshelferinnen und -helfer (oder kurz: Schulbegleitungen), um behinderte Kinder in der Schule zu unterstützen. Damals kannte man