Ameisenmonarchie. Romina Pleschko
des Fußbodens behandelte er mit etwas Spucke und der Unterseite seiner Socken, so viel Disziplinlosigkeit erlaubte er sich doch hin und wieder.
Für das Badezimmer hatte er sich bei einem Shoppingsender spezielle Mikrofasertücher bestellt. Nach jeder Benutzung polierte er die Armaturen nach, somit musste er das Bad nie gründlich putzen. Den Mischhebel des Wasserhahns betätigte er grundsätzlich nur mit dem Handgelenk, um feuchte Abdrücke zu vermeiden, und vor dem Stuhlgang kleidete er die Kloschüssel mit Papier aus, um Anhaftungen zu verhindern und die Klobürste keimfrei zu halten. Sein Kühlschrank und sein Backofen waren selbstreinigend.
Der Mann namens Klaus hatte sein Leben höchst effizient organisiert, nur wusste er jetzt mit der vielen freien Zeit nichts anzufangen, außer sich in das Lautsprechersystem der Nachbarn zu hacken und deren Musiklautstärke langsam auf für ihn erträgliche Maße herunterzuregeln. Er hatte die sichere Methode entwickelt, die Lautstärke alle drei Minuten um einen Klick zu reduzieren, einzeln so gut wie nicht nachweisbar, aber in Summe recht effektiv. Die Nachbarn liebten momentan Italo Pop, eine Tatsache, die dem Mann namens Klaus schwer zu schaffen machte.
Er konnte viel ertragen, aber wenn er mehrmals täglich Azzurro hören musste, dann kroch eine vage Todessehnsucht in ihm hoch, derer er schwer Herr wurde. Heute war einer dieser Tage, an denen die Nachbarn wieder einmal zur Maßlosigkeit neigten. Das Album der größten Hits von Adriano Celentano war zur Gänze durchgelaufen und fing gerade wieder von vorne an.
Azzurro
il pomeriggio è troppo azzurro
e lungo per me.
Der Mann namens Klaus drückte einmal kurz auf den Lautstärkeregler seines Handys. Die Musik wurde leiser, ganz wenig, denn sie drang immer noch durch die Wohnzimmerwand zu ihm herüber.
Mi accorgo
di non avere più risorse
senza di te.
Er schaltete seinen Fernseher ein. Dann drückte er noch einmal auf den Lautstärkeregler des Handys. Die Musik fing an, sich mit dem Ton des Fernsehers zu vermischen. Unerträglich überplärrte Adriano Celentano einen Fernsehsprecher mit wohltuender Bassstimme.
E allora
io quasi quasi prendo il treno
e vengo, vengo da te.
Ma il treno dei desideri
nei miei pensieri all’incontrario va.
Er stellte den Ton des Fernsehers lauter und atmete auf. Es war nichts mehr von drüben zu hören, er vernahm nur mehr den Nachhall seiner eigenen Aufregung. Jetzt musste er sich zwar eine Dokumentation über die Herstellung von Limoncello an der Amalfiküste ansehen, aber das war es ihm wert.
ER HATTE WIDER Erwarten drei Leben gerettet im Laufe seiner Karriere und zum Lohn diese gottähnliche Zufriedenheit verspürt und eine Keramiktasse bekommen, gefüllt mit alkoholfreien Pralinen und bemalt mit einem grauen Hirsch. Das war nicht nichts. Eigentlich hatte er sogar sieben Leben gerettet, wenn er die Föten dazuzählte.
An den ersten Notfall erinnerte sich Herb Senior genau, denn die darauffolgenden Lebensrettungen hatten ihm nie wieder solch intensive Gefühle verschafft, sie dienten eher einer Art frisch bebilderter Wiederholung.
Eine Frau, schwanger mit Zwillingen, wurde direkt von seiner Praxis mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht. Sie hatte sich mit letzter Kraft zu ihm geschleppt, da sie dort tags zuvor mit ihren Beschwerden nicht ernst genommen und sogar ohne Bluttest nachhause geschickt worden war. Weinend saß sie vor ihm und sagte, dass sie seit Tagen kaum geschlafen habe und diese stechenden Oberbauchschmerzen sie bald in den Wahnsinn treiben würden.
Herb Mazur Senior wusste sofort, was zu tun war. Er schickte eine der drei Sprechstundenhilfen in die Apotheke, um Blutdrucksenker zu besorgen, ließ parallel dazu ein CTG schreiben, dessen Befund unauffällig und ohne Wehentätigkeit war, und verabreichte der Frau danach das genau rechtzeitig eingetroffene Medikament, da sie schon lallte und nach eigenen Angaben verschwommen sah. Er rief die Oberärztin ihres Wahlkrankenhauses an und verpasste ihr ein verbales Klistier von beeindruckendem Feinschliff. Wenn er bloß immer zu solch eleganten Schmähreden fähig gewesen wäre, ein Traum war das, wie er gänzlich unantastbar aus der Position des Rechthabenden streng und gütig agieren und trotzdem auf das Schärfste zur Eile mahnen konnte. Ein Retter war er. Die Oberärztin versuchte, sich die Panik nicht anmerken zu lassen, und versprach, unverzüglich einen OP zu präparieren, aber an ihrer Stimme merkte er, dass sein Anruf die erwünschte Wirkung zeigte. Das eiligst erstellte Blutbild aus dem Labor überflog er nur kurz und zitterte vor Erregung darüber, dass er sogar die Anzahl der stark reduzierten Thrombozyten richtig geschätzt hatte. Er hatte die Ernsthaftigkeit der Lage schon an der Patientin gesehen, bevor ihr das Blut abgenommen wurde, dieser fadenartige Blick, der überall hängen blieb, aber keine geraden Linien mehr ziehen konnte, dieser Blick war eine der Eigenheiten, die Lebensgefahr mit sich brachte.
»Wir müssen die Schwangerschaft jetzt abbrechen«, sagte er zu seiner immer kleiner werdenden Patientin mit dem Zwillingsbauch. Er entschied sich bewusst für eine derart drastische Wortwahl, das »abbrechen« sollte die vorhandene Dramatik noch extra steigern, denn Herb Senior stellte in diesem Moment mit Verwunderung fest, dass ihm die Unsicherheit seiner Patientin tiefe Befriedigung verschaffte. Sie riss entsetzt die Augen auf, wagte keinen Widerspruch.
»Nur keine Angst, Sie dürfen jetzt nicht panisch werden, aber Sie haben ein akutes HELLP-Syndrom, das ist eine komplizierte Form der Schwangerschaftsvergiftung, davon haben Sie sicher schon mal gehört. Wir müssen daher sofort die Geburt einleiten«, fügte er milde hinzu, denn er wollte es nicht mutwillig übertreiben mit der Paniksteigerung bei einer Frau, deren Körperfunktionen zu keiner Blutgerinnung mehr fähig waren.
Er drückte ihr die Hand und wünschte ihr alles Gute, als die Sanitäter sie auf die Krankentrage betteten. Dann händigte er ihnen die wichtigsten Papiere für das Krankenhaus aus und hielt ihnen die Praxistür auf. Die Frau hatte schweißnasse Hände gehabt, er konnte ihre Angst spüren wie einen Defibrillator gegen die Gleichförmigkeit seiner Existenz.
Herb Mazur Senior wickelte ein Zuckerl aus dem Papier, Ananasgeschmack, steckte es in den Mund und dachte daran, dass eines der Kinder bei diesem frühen Geburtstermin wohl mit Bleibeschäden zu rechnen hatte, rein statistisch betrachtet.
KARIN STAND AM Kosmetikcounter im Erdgeschoß des Kaufhauses und reinigte die Tester. Jemand hatte in typischer Probierlaune Unmengen an Handcreme herausgedrückt und damit das halbe Display verschmiert, dessen Plexiglasfächer fast unmöglich zu säubern waren. Hauptsache gratis, dachte Karin und errötete leicht bei der Erinnerung an die zwei Tage, an denen sie letztes Jahr wegen eines Ganzkörperausschlages nicht hatte arbeiten können. Offiziell hatte sie sich aufgrund eines neurodermitischen Anfalls krankgemeldet, aber in Wirklichkeit wusste sie genau, dass ihre Haut allergisch auf eine Überdosis der momentan teuersten Bodylotion auf dem Markt reagiert hatte. Die Lotion war mit Algenextrakten und einer speziell gezüchteten Gerstenart angereichert, Karin war täglich mit dem Testspender auf die Personaltoilette geschlichen, hatte dort ihre Uniform ausgezogen und sich von oben bis unten eingecremt. Sie hatte gehofft, das viel beworbene Produkt würde ihre leichte Cellulite mildern, stattdessen hatte sie nach einer Woche überall rote Quaddeln entwickelt. Offenbar war die Lotion für sparsamen Gebrauch konzipiert, kein Wunder, kostete der Tiegel doch stolze 400 Euro.
Karins Mund war trocken. Die Abteilungsleitung hatte ihren Angestellten verboten, während der Arbeitszeiten zu trinken, das sehe undiszipliniert aus und sei schädigend für das dienstleistungsorientierte Image des japanischen Konzerns. Vor Kurzem hatten alle Verkäuferinnen neue Uniformen bekommen, mit kleinen roten Halstüchern, wie Stewardessen einer Airline, die Flüge zurück in die Jugend versprach. Karin mochte das Halstuch gar nicht, noch weniger als die Stützstrumpfhosen, in die sie sich jeden Morgen hineinquetschte, um nicht lange vor der Zeit die krampfadernübersäten Beine einer alten Frau zu bekommen.
Im