Now and then. Ella C. Schenk
ging in der Türklingel unter, die schrill durch den gesamten Flur plärrte.
Ich schrie spitz auf und fluchte anschließend leise. Zu allem Übel hörte ich auch noch Schritte vom Wintergarten Richtung Tür, an der ich noch zusammengekauert stand.
So schnell es meine Füße zuließen, sprintete ich über den flauschigen Teppich, vorbei an den weißen Porzellanvasen und den Kommoden aus Buchenholz zur Eingangstür. Gerade noch rechtzeitig riss ich diese auf und positionierte mich in eine Stellung, die aussah, als würde ich mir soeben erst Zutritt zur Wohnung beschaffen. Mein Glück in dieser unbehaglichen Situation war, dass auf der anderen Seite der Tür eine ziemlich verblüfft dreinschauende Maria stand. Doch ich hatte keine Zeit für Erklärungen, so nahm ich ihre Hand und zog sie just in dem Moment in den Vorraum, als die Tür zum Wintergarten aufging.
Grüne Augen, in doppelter Dosis, fixierten mich. Maria schienen sie gar nicht wahrzunehmen und Remy sah aus, als würde er jeden Moment umkippen. Eines seiner Nasenpflaster stand quer ab, aus seinem linken Nasenloch rann hellrotes Blut, welches im Sekundentakt auf den Boden tropfte.
„Himmelherrgott! Was ist denn mit euch passiert?“ Maria ließ meine Hand los und preschte an mir vorbei. Noch während sie auf die Jungs zulief, zauberte sie aus ihrer Hose ein Taschentuch, welches sie Remy sofort vor das Gesicht hielt.
Jon schien unverletzt, lediglich seine zerzausten Haare und sein fiebriger Ausdruck zeugten von seinem aufgewühlten Inneren. Der Blick, den er mir zuwarf, war gehetzt und starr gleichermaßen. Man konnte regelrecht sehen, wie seine Gedanken rotierten.
Was ging in ihm vor? Und was ging in mir vor? Auch ich musste das Gehörte erst einmal verarbeiten. Ich wusste, dass Jon eine beschissene Kindheit hatte. Sein Vater hatte ihn regelmäßig, seit er sieben Jahre alt war, mit dem Gürtel geschlagen. Egal ob Glanznoten oder nicht, ob sportliche Erfolge oder nicht. Diesbezüglich hatte er Remy angelogen, es machte für dieses sadistische Arschloch absolut keinen Unterschied. Doch dass auch Remy geschlagen worden war? Und was meinte Remy mit lächerlich? Was soll daran bitte lächerlich gewesen sein? Und was musste er erdulden, um das zu behaupten? Und Mrs. Jackson … die würde mir ewig ein Rätsel bleiben. Sie kam nur ein- bis zweimal im Jahr nach Hause, und selbst dann konnte jeder Blinde die unterdrückte Feindseligkeit sehen, die sie ihrem Mann zuwarf. Ganz im Gegenteil zu ihren Kindern. Sie war jedes Mal den Tränen nahe, wenn sie sie zu Gesicht bekam. Deswegen wollte Jon sein Verhältnis zu ihr vor seinem Studium in Oxford verbessern und hat sie ab und an auf ihren Reisen begleitet. Harrold war zwar außer sich, da er somit ein Studienjahr verlor, aber Jon war das egal. Das Verhältnis zu seinen Geschwistern hatte sich dadurch jedoch leider auch verschlechtert. Eliza war fuchsteufelswild und eifersüchtig, und Remy sah es nach wie vor als Verrat. Wenigstens Liz hatte sich nach einer Weile wieder eingekriegt. Denn, verdammt nochmal, es war Jons gutes Recht, Zeit mit seiner Mutter zu verbringen.
Meine Gedanken hetzten von einem Konstrukt zum nächsten, sodass ich nicht einmal bemerkte, wie Jon auf mich zukam und mich sanft an der Schulter rüttelte. Erst als sich seine Augen in meine brannten, nahm ich meine Umgebung langsam wieder wahr.
Remys wütendes Zischen, Marias sorgengetränkte Worte und Jons einnehmbare Präsenz.
„Olivia?“ Er flüsterte meinen Namen. Verwaschen und beinahe unverständlich hörte ich ihn aus seinem Mund. Ich wusste bereits um die Worte, die er mir gleich sagen würde und ich wollte sie nicht hören. Mein Bauchgefühl deutete seinen traurigen Blick, und trat damit eine Welle los, die sich eiskalt von meinem Herzen Richtung Zehen erstreckte. Er würde mich genauso verlassen wie Joey. Obwohl ich keine Schuld trug. Ich hatte Remy nie …
„Olivia?“
Ich entzog mich seiner Hand, welche auf meiner Schulter glühte und ging mehrere Schritte zurück.
„Nicht Jon, ich …“ Doch er ließ mich nicht ausreden und kam mir wieder nahe.
Sanft strich er mir eine Haarsträhne zurück. „Du hast gelauscht, ich habe deinen spitzen Schrei durch die Tür gehört.“
Ich senkte meinen Blick zu Boden. Er würde doch nicht …?
„Bitte verlass mich nicht.“ Ich konnte die Worte nicht aufhalten. Geballte Angst, in Kombination mit aufsteigender Panik, sprudelten aus mir hervor. „Bitte, bitte … ich, es tut mir leid. Jon, ich … was Remy gesagt hat, ich will ihn nicht. Und ich will nicht, dass er dich beeinflusst. Uns beeinflusst. Bitte … ich sehe es dir an. Verlass mich nicht. Nicht seinetwillen.“ Ich atmete erstickt auf.
Jons Augen wurden zu Schlitzen und er umfasste mein Gesicht mit seinen Händen.
„Ich werde dich nie verlassen! Hör auf, sowas zu denken! Verdammt! Olivia! Denk sowas nie wieder!“
Mein mittlerweile lautes Schniefen wurde zu einem Wimmern. „Ich dachte, du … du. Oh Gott.“ Ich warf mich in seine Arme und legte meinen Kopf in seine Halsmulde.
Er zog mich, so eng es ging, an sich und strich mit rhythmischen Bewegungen meine Seiten entlang. Langsam beruhigte ich mich wieder und meine Atmung ging allmählich kontrollierter.
Zögerlich hob ich meinen Kopf und lugte zu Remy. Er stand da wie versteinert. Eine Hand presste er noch auf seine Nase, die andere hatte er zu einer Faust geformt. Seine kugelrunden Augen fraßen sich in Jons Rücken. Und als würde er meinen Blick auf sich spüren, wanderten sie Schritt für Schritt zur Seite, zu mir. Das Erste, was mir in den Sinn kam, war eisige, bittere Kälte und Hass. Kein anderer Zustand würde sein ganzes Äußeres besser beschreiben. Hätte er uns in diesem Moment mit Blicken töten können, so hätte er es bestimmt getan. Und das nächste Verstörende an alldem war sein anzügliches Lächeln, welches er kurz aufsetzte, bevor Maria mit neuen Tüchern von der Küche zurückkam. Was war nur los mit ihm?
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