Now and then. Ella C. Schenk
Schweigen zu bringen. Aber das Allerschlimmste? Wir wussten nicht wieso! Ich hatte keinen blassen Schimmer, was da genau vorgefallen war. Jons blutende Hand und Remys gebrochene Nase warfen nur weitere Fragen auf. Ich konnte, nein, wollte mir nicht einmal ausdenken, was die grauenhafte Szene in der Küche zu bedeuten gehabt hatte. Kein einziges offizielles Wort verlor sich in meine oder in Elizas Richtung. Es war, als wäre ein riesiger Teppich über den ganzen dampfenden Müll an Geheimnissen geworfen worden.
Jon reiste unmittelbar nach der Party ab und kam die darauffolgenden Wochenenden nicht nach Hause. Bei seinen Anrufen und SMS hielt er sich zurück und antwortete nur in knappen Sätzen. Wenn ich ihn auf die Party ansprach, blockte er gänzlich ab. Was war nur geschehen, dass er mir nicht mehr vertrauen konnte? Nervös fuhr ich mir mehrmals durch mein geglättetes Haar und versuchte eine Antwort zu finden, obwohl ich gleichzeitig eine riesen Angst vor dieser hatte.
Vor lauter Unzufriedenheit und quälender Unwissenheit knurrte ich ein paar Mal genervt und drehte mich anschließend unwirsch der Tür zu.
Das wird jetzt ein Ende nehmen! Ich werde mir Remy vorknüpfen. Sonst werde ich noch verrückt!
Ich stampfte durch unseren Wohn-Essbereich, vorbei an Mum, welche am Barhocker in der Küche saß und zu lesen schien. Sie beachtete mich nicht. Mal ganz was Neues! Ein spöttisches Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, als ich mich in meine Sneakers quetschte.
Im Eiltempo lief ich die Stufen zu den Jacksons hinab und glitt problemlos durch die Haustür hindurch. Sie war selten abgeschlossen. Das Erste, was ich sah, waren Jons rote Turnschuhe und seine alte Jacke von der High School, auf der eine große Zwei prangte. Beide Kleidungsstücke lagen quer verstreut auf dem gemusterten Teppich im langen Eingangsflur. So viel dazu, dass er sich sofort melden würde, wenn er ankam!
Leise schloss ich die Tür und merkte, wie sich meine Wangen immer heißer anfühlten und zugleich meine Sicht ein wenig verschwamm.
Jetzt nur nicht heulen! Reiß dich zusammen! Du bist ein starkes Mädchen, Olivia!
Trotzig schob ich die Unterlippe vor und setzte bereits zu meinem stürmischen Auftritt an, als Remys Stimme durch die Räume drang. Zuerst war sie noch etwas gedämpft, doch Sekunden später schwoll sie zu einem orkanmäßigen Sturm aus lauten, wüsten Beschimpfungen an, so als würde er direkt in mein Ohr schreien. Ich zuckte vor Schreck zusammen. Meine Nackenhaare stellten sich auf und meine zuvor auferlegte Selbstsicherheit schwand dahin. Was nun? War es Jon, mit dem er so redete? Hektisch schüttelte ich den Kopf. Nein, das würde er sich nicht gefallen lassen.
Und plötzlich schrie Remy. Auch ich piepste auf und hüpfte ein paar Zentimeter zurück Richtung Ausgang, welcher mir nun mehr als verlockend vorkam. Doch als ich Jons Stimme hörte, ebenfalls wütend und laut, nahm ich meinen Mut zusammen und schlich zu der hellen Holztür des Wintergartens, hinter der ich die beiden vermutete.
Meine Schuhspitzen berührten das geschliffene Ebenholz leicht. Die Ohren brauchte ich nicht anlegen, ich verstand auch so jedes einzelne Wort.
Etwas raschelte lautstark hinter der Tür, dann war es wieder Remy, der seine Stimme erhob.
„Sag mal, spinnst du, oder was? Wie oft willst du mir noch die Nase brechen?“
„So oft wie nötig.“ Jon antwortete ruhig, aber bestimmt. Ich sah ihn förmlich vor mir, wie er die Arme verschränkte und seine Oberarmmuskeln sich dadurch bedrohlich aufplusterten.
„Du kleiner Wichser, was bildest du dir eigentlich ein? Hältst dich wohl für was Besseres, seit du in England studierst, was?“
„Echt jetzt? Willst du schon wieder über das leidige Thema diskutieren? Wie oft soll ich es dir noch sagen: Hör auf, den eifersüchtigen Bruder zu mimen, die Rolle steht dir nicht!“
„Die Rolle passt wie angegossen! Schließlich habe ich sie schon ein Leben lang.“
„So ein Bullshit, Remy!“
„Bullshit? Hast du sie noch alle? Du weißt genau, dass Dad mich hasst. Mich wegen dir nicht für würdig hält. Und wir wissen, dass er vorzüglich darin ist, seine niederen Gefühle perfekt zum Ausdruck zu bringen!“ Remy schnaubte verächtlich auf. „Aber dir geht das ja an deinem verwöhnten Arsch vorbei!“
„Ja genau!“, Jon zischte zurück. „Als wäre ich mit dem goldenen Löffel geboren worden, nie dazu gedrillt worden, die besten Noten nach Hause zu bringen, oder eine Saison nach der anderen zu gewinnen. Remy, es gibt einen Unterschied zwischen sein und dazu gedrängt worden zu sein.“
„Sicher doch, du kleiner Bastard! Was hast du denn schon einstecken müssen? Die paar Schläge als Kind, das war ja gerade zu lächerlich.“
„Lächerlich nennst du das? Du nennst meine verblassten Narben am Rücken wirklich lächerlich? Das ist doch nicht normal! Remy! Hör doch endlich auf, mich als Gegner zu sehen! Der wahre Feind sitzt einen Stock tiefer, in einem beschissenen Armanianzug und nennt sich Vater!“
Meine Atmung setzte kurz aus und ich schlug mir die Hand vor den Mund, um nicht aufzukeuchen.
„Der wahre Feind, sagst du!? Der steht mir direkt gegenüber. Oder befindet sich auf irgendeiner Künstlerreise. Mum und du habt beide nur zugesehen, als er mich immer wieder schlug. Ihr Feiglinge!“
„Remy … sag das nicht. Mum und ich hatten das doch nie gewollt, verdammt! Ich war damals selbst hilflos. Was hätte ich schon ausrichten können? Und Mum … ich bin mir sicher, dass sie schon Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zuvor, Schläge einstecken musste. Und nicht nur körperlich.“
„Ja!“, Remy lachte höhnisch auf. „Dads berühmte verbale Attacken! Da kenne ich mich wohl am besten damit aus. Und außerdem bist du ja sowieso auf ihrer Seite. Hat sie dir nicht ein Jahr lang ermöglicht, die Welt zu bereisen? Bevor der werte Herr nach Oxford gegangen ist, wo er sich jetzt drei Jahre lang verkriecht? Vier Jahre Uni in New York sind wohl unter deiner Würde und dauern dir zu lange, was? Du bist käuflich, Bruder. Aber meine Zuneigung wird sie durch Geld nicht bekommen.“
Darauf herrschte erst einmal Stille. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Mein eigener Atem ging unregelmäßig und oberflächlich, so angespannt war ich.
„Ich hasse sie dafür, dass sie abgehauen ist. Und dich dazu, weil du nicht ansatzweise so viel durchmachen musstest wie ich.“
„Remy, sprich mit jemandem. Du musst deine Wut in den Griff bekommen. Es ist nicht richtig, sie auf die Falschen zu projizieren. Oder schlimmer noch, deine Wut gegen Unbeteiligte zu richten.“
„Meinst du etwa Cameron, diese Schlampe? Die wollte das alles doch! Du hast uns ja selbst zuvor gesehen, oder irre ich mich da etwa?“ Remys Stimme überschlug sich wieder.
„Nein, es war ja auch schließlich mein Zimmer, in dem ihr es getrieben habt. Außerdem rede ich von dem, was in der Küche vorgefallen ist. Du hättest in den Knast wandern können!“
„Bin ich aber nicht. Und wie schon gesagt, sie wollte es.“
„Ich bin mir sicher, dass sie nicht wollte, dass du sie ständig beim falschen Namen nennst! Himmel noch mal! Ich habe gehört, wie du sie nanntest, während sie fluchte und weinte und du sie trotzdem weiter bedrängtest.“
Jons Stimme war zwar noch ruhig, dennoch lag nun eine Schärfe in ihr, welche ich noch nie, wirklich nie, an ihm gehört hatte.
Ich knetete meine Hände unruhig ineinander und nestelte gleichzeitig immer wieder an meinem Verband am linken Handgelenk herum.
Remy antwortete mit kratziger Stimme: „Na und? Wir wissen doch beide, dass Olivia ganz vernarrt in mich ist. Sie will mich, das sehe ich doch!“
WAS?!
„Warum glaubst du das nur? Das stimmt nicht!“
„Doch! Ich spüre ihre Blicke, und wenn sie mich berührt, macht sie es jedes Mal länger als nötig.“
„Das bildest du dir doch nur ein! Du willst einfach immer genau das, was ich habe. Gib es doch zu. Es geht hier nicht um sie, sondern um