Now and then. Ella C. Schenk
Gesicht ließ meine hochgezogenen Schultern etwas herabsinken und ich trabte langsam auf sie zu. Meine schwarzen Boots quietschten leise auf dem glatten Fliesenboden.
„Ich nehme das, Professor, geben Sie her.“ Ich nahm ihr die beiden Plakate ab, und sie setzte ein gewinnendes Lächeln auf.
„Vielen Dank, Olivia! Der Truncus cerebri ist schon ganz aus dem Häuschen, da er heute endlich Hörsaalluft schnuppern darf.“
Sie zwinkerte mir zu und fuhr fort: „Hast du denn die Unterlagen mitgebracht, um die ich dich gebeten habe?“
Ich deutete mit dem Kinn auf meine am Boden positionierte Tasche. „Natürlich. Die Folien sind dort, und der Stick befindet sich in meiner Hosentasche.“
„Sehr gut. Aber ich hätte auch nichts anderes von dir erwartet. Ich hoffe nur, dass ich dir nicht zu viel Arbeit aufgebrummt habe. Der Hirnstamm ist doch sehr komplex.“ Sie kräuselte ihre roten Lippen.
„Nein. Eher im Gegenteil, es war eine willkommene Ablenkung.“ Die Worte kamen viel zu schnell über meine Lippen. Doch es war zu spät. Natürlich hakte Professor Peters nach. Sie konnte ja gar nicht anders.
„Wenn ich fragen darf, wie geht es deiner Mutter denn? Gibt es etwas Neues zu berichten?“ Sie flüsterte die Worte.
„Zurzeit nicht, nein“, antwortete ich kurz angebunden.
Die Professorin setzte ein mitleidiges Gesicht auf, sparte sich jedoch weitere Worte. Sie kannte mich einfach zu gut, zu lange. Sie wusste, dass ich nicht über das Thema reden wollte.
Ich hob meine Tasche auf und gemeinsam betraten wir den alten Lehrsaal. Wie immer achtete kaum jemand auf meine Wenigkeit, sondern nur auf die Präsenz der besten Dozentin weit und breit.
Dutzende Augenpaare verfolgten aufgeregt ihre kleinen Schritte zum erhobenen Podium. Ich könnte derweil einen Radschlag nach dem anderen vollführen, doch sie würden mir kaum Beachtung schenken. Naja, bis auf Eliza natürlich. Meine beste Freundin saß eng eingequetscht in der ersten Reihe und strahlte wie ein Honigkuchenpferd in meine Richtung. Ich wusste, dass sie ganz aus dem Häuschen war, da sie die Professorin verehrte. Sie winkte mir einmal schnell mit beiden Händen zu und riss dabei dermaßen ihre Kulleraugen auf, dass sich ein winziges, echtes Schmunzeln auf meine Lippen legte. Daraufhin streckte sie mir ihre Zungenspitze entgegen, was mich automatisch dazu veranlasste, ein wenig gespielt schockiert den Kopf zu schütteln. Gleichzeitig wandte ich mich wieder zu der Professorin, die bereits auf dem Podest stand und mich mit hochgezogenen Augenbrauen anvisierte.
Oje.
Und meine Gesichtshälften fühlten sich auch schon ein paar Grad wärmer an. Schnellen Schrittes ging ich auf die Tafel zu und befestigte die zwei Plakate, schoss anschließend zum Beamer und kramte meine mitgebrachten Folien hervor. Zu guter Letzt kümmerte ich mich um dessen Inbetriebnahme und dimmte das Licht.
Fürs Erste war meine Arbeit erledigt.
Ich zog einen Block und Kugelschreiber aus meiner Tasche und setzte mich an den Dozentenschreibtisch nahe dem Podium.
Professor Peters begann bereits mit ihrem Vortrag, dem ich eigentlich gewillt war zuzuhören, doch mein Blick schweifte durch die Reihen der Studierenden.
Die Plätze waren seit Jahren begrenzt. Nur die Besten der Besten durften hier teilnehmen. Stolz blickte ich zu Eliza. Sie hatte sich diesen Platz mehr als verdient. Mit diesem abgeschlossenen Zusatzkurs würde es ein Leichtes werden, einen Platz für die Medical School in Harvard zu ergattern. Professor Peters hatte dort nämlich einen unschlagbar guten Ruf.
Sie selbst war Absolventin und arbeitete nun als angesehene Fachärztin in der Neurochirurgie. Seit Jahren trug sie hier am Campus freiwillig ihre Fachkenntnisse vor, um mögliche Anwärter für ein Medizinstudium vorzubereiten. Und wenn sich jemand wirklich gut schlug, verfasste sie sogar ein Empfehlungsschreiben. Schaffte man dann auch noch den schriftlichen Aufnahmetest, war diese Kombi quasi das goldene Ticket.
Eliza hatte sich die letzten Jahre hier exzellent geschlagen. Ich lehnte mich in das bequeme Leder des Sitzes und meine Gedanken begannen mal wieder dorthin abzuschweifen, wo sie eigentlich nichts zu suchen hatten.
Jon ist bestimmt unglaublich stolz auf seine Schwester.
Ich schnaubte auf.
Hör auf, an ihn zu denken, Olivia! Stopp. Stopp. Stopp.
Schnell nahm ich meinen Kugelschreiber in die Hand, um mir Notizen zu machen. Doch meine angebrochenen Gedanken gingen mir nicht aus dem Kopf, und anstatt den Stift zum Schreiben zu benutzen, kaute ich an dessen Ende herum und starrte vor mich hin.
Ich wette, für mich würde er sich schämen …
Seufzend schloss ich die Lider und lehnte mich mit einem aufkommenden Gefühl von Feindseligkeit und Wut zurück.
•
Als ich wieder aufsah, war der Lehrsaal hell erleuchtet und mehrere Augenpaare fixierten mich. Prompt verschränkte ich die Arme vor meinem Oberkörper. Mein Blick schoss zu Eliza, die mit weit aufgerissenen Augen und hektischen Kopfbewegungen in Richtung Podium deutete. Ich folgte ihrem gehetzten Blick, und da traf mich der verspätete Geistesblitz. Ich schob den Sessel mit einem Ruck zurück, sodass er laut aufquietschte und ich Mühe hatte, vor lauter Eile nicht auf die Nase zu knallen.
Leises Gelächter begleitete meinen schnellen Gang zur Professorin, die mit beiden Händen in die Hüften gestemmt streng meinen Blick erwiderte. Ich nuschelte mehrmals ein leises „Entschuldigung“ in ihre Richtung, während ich meinen Stick in ihren Laptop steckte und die Datei öffnete.
Beim Beamer angekommen folgte dann die Krönung des Ganzen. Mir fielen die gesamten Folien auf den Boden, die zuvor anscheinend kreuz und quer von der Professorin beschriftet worden sind.
Eilig sammelte ich die glitschigen Dinger mit meinen bereits schweißnassen Händen ein. Toll, wirklich toll, Liv!
Gedanklich gab ich mir mehrmals eine Kopfnuss.
Ich musste das Problem mit meinen abschweifenden Gedanken endlich in den Griff bekommen. Vor allem, wenn sie in diese bewusst verdrängte Richtung gingen. Und ja, mir war klar, dass es einen Zusammenhang mit meiner reichlichen Dosis an Tabletten gab. Dennoch: weder konnte noch wollte ich diese reduzieren. Es ging einfach nicht.
Noch nicht.
Der Rest der Stunde verflog dann regelrecht.
Alle Studierenden - mich diesmal eingeschlossen - hangen an den Lippen der Professorin. Niemandem schien aufzufallen, dass aus den zwei Lehrstunden nahezu drei wurden. Und das an einem Freitagnachmittag. Auch ich hätte es eigentlich nicht bemerkt, würde nicht ständig mein Handy in der Hosentasche vibrieren. So hartnäckig und standhaft, dass ich auch ohne aufs Display zu gucken wusste, wer mich erreichen wollte. Trotz des Wissens, mich nachher auf Diskussionen einlassen zu müssen, ignorierte ich den Anrufer. Was hätte ich auch sonst tun sollen? So versuchte ich, das ständige Kribbeln außer Acht zu lassen und konzentrierte mich stattdessen auf die Abschlussworte von Professor Peters.
Oder versuchte es jedenfalls.
Als diese endeten, versammelte sich eine kleine Menge von Studierenden am Ausgang, die mal wieder lautstarke Lobeshymnen in Richtung der Vortragenden sangen. Schmunzelnd packte ich meine Notizen ein und schlenderte auf die Tafel mit den Plakaten zu. Bevor ich meine Hand nach dem bunt bemalten Hirnstamm ausstrecken konnte, kam die Professorin zu mir.
„Lass mal, Olivia. Ich mach das schon.“ Ich drehte mich zu ihr um und sie legte ihre rechte Hand auf meine Schulter, ehe sie fortfuhr. „Es ist Freitagnachmittag. Sieh zu, dass du ein wenig Ablenkung bekommst am Wochenende, ja?“
Meine Antwort folgte zögerlich. „Morgen findet Dads jährliche Kanzleiparty statt. So oder so, da komme ich nicht dran vorbei.“
Sie zog die Hand wieder weg und gab mir stattdessen den USB-Stick, den sie in ihrer Faust versteckt hielt.
„Gut. Lass ihn schön grüßen. Und bitte vergiss nicht, dich nach dem Fest auszuruhen.“ Ihre Augen blitzten