Am Meer. Peter Seeberg

Am Meer - Peter Seeberg


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ganz hinauf zum Strandwall dunkel, es leckte faul und schmutzig, die westlichen Dunstbänke waren noch düster wie Petroleumrauch, und davor war ein kreideweißer Kutter auf dem Weg herein.

      „Wir wollten doch Bernstein sammeln“, sagte Jørgen.

      Oben im Norden hielt ein einzelnes Auto schräg auf dem Strand, schwarze Gestalten waren im Begriff auszusteigen, ein Moped zuckelte nordwärts.

      „Es gibt keinen Bernstein, wir sind schon zu spät dran, gönn mir doch noch eine Stunde.“

      Der Vater streckte sich wieder aus und sah bittend auf.

      „Hast du noch ein bißchen Geld?“ fragte Jørgen. „Dann hol ich ein paar Brötchen zum Frühstück.“

      „Nein“, antwortete der Vater und schloß die Augen, „ich hab keins, ich hab mein Konto schon überzogen.“

      Jørgen ging hinunter und behielt, Stufe für Stufe, den Vater im Auge. Er konnte den Drachen steigen lassen.

      „Sieh dir die an“, sagte Zollkontrolleur Nagel zu Biggie, mit der ganzen Grenzstation hinter sich, „die da im kurzen Mantel, mit der roten Tasche in der Hand, hast du die nicht gesehn, so ein blasses Gesicht, und dann diese Augen, die blaß und blau durch einen durchsahen, keine Bettelei im Blick, verstehst du, sondern Verachtung, und blaß war die, niedrige Stirn, aber intelligenter Blick, und dann so klein, und Stiefel mitten im Sommer, schwarz obendrein, so eine Kleine, die ich mit einer Hand unterm Hintern hochheben könnte, so eine kann auch ...“

      „Was?“ sagte Biggie, der die Kofferraumklappe mit einem Knall schloß und von der Seite zu dem Zollkontrolleur aufblickte, „was sagst du?“

      „Ach“, sagte der Zollkontrolleur und blickte auf Biggie herab, der einen etwas gewollt schafsköpfigen Gesichtsausdruck hatte, „man darf natürlich nicht dieser Ansicht sein, aber du glaubst doch wohl nicht, daß mittlerweile nicht immer irgendein Grund besteht, um jeden beliebigen zu verdächtigen – jeden beliebigen.“

      In Zollkontrolleur Nagels Gesicht war nicht viel Theater, sah Biggie, es war mit einer tiefen, nicht unerwarteten Menschheitsverachtung aufgeladen, die bald einem freundlichen Phlegma weichen würde.

      „Und dieser Ansicht bist du erst jetzt“, sagte Biggie.

      „Nicht erst jetzt“, entgegnete Nagel, „mein Beruf erfordert gewisse Voraussetzungen und gewisse Fähigkeiten. Trotzdem, es ist trauriger geworden.“

      „Und Trost ist nicht zu finden.“

      „Doch“, sagte Nagel, „laß ihn uns suchen, wo er zu finden ist, ich hab eine Viertelstunde Zeit.“

      7.20

      Biggie fuhr vor dem Café vor.

      „Da sitzt sie und hält Ausschau“, sagte Nagel, „unterlaß es aber, zu ihr rüberzusehen, das bringt nichts ein.“

      „Und du bist ganz sicher?“ fragte Biggie.

      „Ich will auch einen Schnaps haben“, sagte Nagel.

      „Ich halt mit“, sagte Biggie.

      „Jetzt hab ich doch den Fragebogen vergessen“, sagte Nagel und sah verzagt aus.

      7.35

      Helene blickt aus dem Fenster, der Verkehr fließt bereits als dichter Strom langsam an der Grenzstation vorüber: die Busse, blau, gelb, rot, grün, mit rauchfarbenen Kunststoffdächern, und hinter den beschatteten Fenstern in verschwimmenden Gesichtern Augen, die gespannt in dieses neue Land hinaussehen oder auf die Fahrbahn vor ihnen oder auf den Fremdenführer gerichtet sind, der übers Mikrofon von der nächsten Fahrt zum Meer erzählt; die verspäteten Lastautos auf dem Weg nach Norden, die auf die Ausweichplätze einbiegen, und gleich darauf liegen die Fahrer unter den Wagen und sehen hinauf und klopfen daran herum und bewegen sich auf dem Rücken hin und her und kommen schließlich mit hellen Gesichtern unter den Mützen wieder hervor, wischen sich die Hände an Putzwolle ab, fahren sich mit dem Handrücken einmal über die Stirn, und wenig später stehen sie an den Luken der Grillbar; die Personenautos mit Zelten auf den Dächern und die Kofferräume manchmal halb offen, Campingwagen ziehend, die mit geöffneten Fenstern vorbeirollen, voller halbnackter Familienmitglieder, bleiche oder braune Gesichter, die sich hin und her drehen, um zu sehen oder gesehen zu werden unter all den merkwürdigen Kopfbedekkungen: Mützen in Blau oder Weiß, mit Schnüren über dem Schirm, Strohhüte mit riesigen Krempen, Cowboyhüte, weiße Kappen, ein straff gebundenes Kopftuch über der blanken Stirn.

      Sie stützt die Wange in die Hand, bis es wehtut, dann läßt sie die Hand sinken und dreht den Aschenbecher ein wenig und wirft dann langsam einen Blick über die Schulter zu Nagel und Biggie hinüber, die ihrem Blick zufällig begegnen, beide fast gleichzeitig, Nagel, der aufsieht und bemerkt, daß sie den Kopf gedreht hat, Biggie, der sie trotz Nagels Warnung gerade in diesem Moment ansehen mußte. Sie läßt den Blick von einem zum andern wandern und verzieht dabei keine Miene, sondern läßt ihn in eine Ecke weiterwandern, wo ein Hund seine Zottligkeit zusammengerollt hat, während sein Herr eifrig und unaufmerksam mit einem Spiegelei kämpft, das er zum Mund führen will.

      Dann langt sie wieder bei ihrem Tisch an. Sie lächelt vor sich hin. Sie hebt die Gardine ein bißchen. Alles ist so, wie es ist.

      7.45

      Nina hatte sich erst bewegt, als Josef den Reißverschluß in der Zeltwand aufritschte.

      „Du darfst nicht gehn, Josef! Was zum Teufel willst du um diese Tageszeit anfangen, es ist doch bestimmt noch nicht mal halb acht!“

      „Du weißt schon, weshalb ich geh“, sagte er, während er hinauskroch, aufstand und den Kopf wieder zu ihr hineinsteckte. Sie hatte sich halb aufgerichtet.

      „Du kommst doch dann wohl sofort zurück, ich will hier nicht allein liegen, sonst kommen noch Kerle zu mir rein, wer weiß, und dazu hab ich keine Lust – jetzt –, daß du’s nur weißt.“

      Ein großes Lächeln stand um ihre vorgewölbten Augen, ihre Lippen waren dünn und blaurot, und ihre Zunge sah ein ganz klein wenig hervor.

      „Komm bald wieder“, sagte sie und legte sich zurück, so daß das Kinn aufragte und ihr sommersprossigweißer Hals leuchtend den winzigen Bocksbart umgab, den sie als Erkennungszeichen trug.

      „Wenn’s geht, zieh nur ganz vorsichtig“, sagte sie im Dunkeln und in dem Deckengewirr, in dem sie einander zu finden versucht hatten.

      Josef vergrub die Hände in den Taschen und trottete in Richtung Pissoir. Die Zelte flatterten, Zelttuch buchtete sich um Rücken und Hintern, man ahnte hinter jedem Villazeltfenster neugierige Blicke und Brillenaugen. Frauen in Shorts oder adretten Morgenkleidern deckten vor Campingwagen den Tisch, die Männer kamen mit reichlich gefüllten Tüten daher, begleitet von Lakritze kauenden Kindern. Es war nur ein Anfang.

      Josef stand da und schaute sich um. Irgendwo war ein Mädchen, das er von weitem gesehen hatte und das dann verschwunden war: Sie hatte einen ebenso langen Blick gehabt wie er selber. Wahrscheinlich braune Augen, weiße, kurzärmlige Bluse und an dem kühlen Abend braune Kordsamthosen. Er war durchs ganze Lager gegangen, und später hatte er Nina in alle Gaststätten eingeladen.

      „Du bist so nervös“, hatte sie gesagt, „wipp doch nicht dauernd mit dem Bein.“

      „Halt den Mund“, hatte er geantwortet.

      Er hätte die Tour auf seiner Maschine machen sollen.

      Nachdem er sein Geschäft verrichtet hatte, schlenderte er hinüber zum Kiosk und sah sich die Schlange an, die dort Brötchen und Zeitungen kaufte.

      Das Mädchen hatte so ausgesehen wie eine, die Zeitungen liest – ein schrecklicher Gedanke.

      Da lagen ungefähr zehn Meter Zeitungen. Zum größten Teil „Jyllands-Posten“, aber dann kam „Bild am Sonntag“, notfalls genug für eine kleinere Barrikade.

      Er versuchte ein bißchen zu kiebitzen.

      Da ging es um hastig einberufene Konferenzen wegen Geldangelegenheiten.


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