Am Meer. Peter Seeberg

Am Meer - Peter Seeberg


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geben?“ sagte sie zu dem Jungen, der an der Spitze ritt, „es ist ein bißchen träge, gib ihm nur ...“

      Er versetzte ihm einen hastigen Hieb und noch einen, und es schoß vor. Das half auch ihr, doch es genügte nicht. Sie bekam einen roten Kopf und war begeistert. Ihr wurde freier ums Herz, und sie fühlte sich ein bißchen jünger. Sie zog die Zügel an und ritt zurück.

      „Siehst du, wie es kann?“ sagte sie, und er versetzte ihm noch einen Hieb, nun jedoch über den Rücken, und als die Peitschenschnur wieder hochschnippte, traf sie sie zwischen die Schulterblätter, ganz leicht nur.

      Sie ließ es galoppieren, zügelte es dann aber und ließ es im Schritt gehen.

      „Mehr nicht“, sagte sie und hob abwehrend die Hand, als der Junge ihr noch einmal diesen Gefallen erweisen wollte. Sie nahm die Peitsche und hielt sie hinter sich und reizte das Pferd damit leicht an der Schwanzwurzel und sagte: „Hopp, hopp“, wie es die Reiter getan hatten, wenn sie ihr auf dem Heimweg vom Wald begegnet waren.

      9.50

      Eine Katze fauchte sie von einem Vordach aus an, als sie auf ihrem Ziel, einem alten Hof im Süden, einritten. Wenn sie eine Maus gewesen wäre, hätte sie sich gern von ihr fressen lassen. Sie glitt herab. Es war heimgezahlt. Sie blickte sich um. Im Süden lag der Campingplatz. Im Norden sah sie die Kirche. Den Weg wollte sie gehen.

      Sie folgte der breiten Bankette auf der rechten Seite. Autos rauschten vorbei, mit Familie beladen.

      Es war noch immer nicht später als Punkt zehn. Sie würde den Pfarrer predigen und die Gemeinde singen hören, während sie über den Friedhof ging.

      9.55

      Die Kirchenglocke läutet, fern, verschwindend und dann wieder näher kommend.

      Da ist ein Flugzeug in der Luft, hoch oben, eine kleine brummende Propellermaschine.

      Da sind das Lerchengetriller, die durchdringenden Beunruhigungsschreie des Austernfischers, hoch über den Strandwiesen das jammernde Pfeifen der Brachvögel, der ekstatische Minimotorlärm der Grillen von den Rasenflächen unterhalb der Dünen.

      Planschende, schleppende Trägheit, als ein paar Kinder durch den Priel waten, und das Plätschern mischt sich mit all den Zwischentönen und den leisen, interessierten Stimmen, ganz mit sich selbst beschäftigt, während sie südwärts zum Deich wandern.

      Das Sausen über den Dünen, die stumme Antwort des Strandroggens, die Sandkörnchen, die rascheln und über den Kragen und den Rücken hinabrieseln, die Spitzen des Strandroggens, die kitzeln und in die Arme stechen, die weißen Fliegen, die von den Ähren herablaufen und sich zwischen den Haaren auf den Armen festsetzen und kribbeln und krabbeln.

      Von den Wiesen landeinwärts duftet es schwach, eine Spur Honigduft, eine Spur Kiefernduft und vielleicht eine Spur nach angebrannter Rhabarbergrütze. Nun wird weit weg gerufen.

      Er hat reichlich Zeit. Er hält die Augen geschlossen, und Ölseen treiben vorbei, und farbige Zellenwelten bauen sich in seinen Augenschalen auf.

      Er redet sich ein, daß er nichts zu tun hat. Er hat hier zu ruhen. Er hat hier in Frieden zu ruhen, bis Inger kommt und ihn zu Mittag holt und ihm behilflich ist, von den Dünen herunterzukommen.

      „Peter“, hört er sie sagen, während sie das Gelände am Fuß der Düne absucht, „bist du da oben?“ Und sie hat eine Flasche gefunden, die sie ihm zeigen wird.

      9.56

      So pflegt sie zu kommen.

      Abraham war so wie üblich aufgestanden und hatte am Auto herumgepusselt, mit dem er nie fertig werden kann, nie kann es gut genug werden, und wenn er den Wachsfleck an der linken Vordertür, wo sein Platz ist, weggekriegt hat, ja, dann entdeckt er einen rechts auf der grauen Kühlerhaube.

      Ach was, zum Teufel damit.

      Er hat schon lange mit einem Vormittagsbier und einem ganzen Apfelbaum über sich dagesessen und auf Edith gewartet, die sich hinter dem vierteiligen Küchenfenster seitlich hin- und herbewegt und Brote schmiert und zusammenlegt, mit reichlich Pergamentpapier dazwischen. Sie kennt ihn.

      Auf der Straße kommen sie vorbeigespritzt mit einem Tempo, das weit über der Geschwindigkeitsbegrenzung liegt, aber die Straße hält das wohl aus. Er hat selbst daran mitgebaut, im Schnitt fünfhundert Meter täglich, die Streifen fehlen aber noch, denn die Maler haben den ganzen Monat Urlaub gemacht. Es ist zweifelhaft, ob die Leute genug Charakter haben, auch ohne diese Weisungen zurechtzukommen.

      Edith denkt angestrengt nach, ob es auch für sie beide reichen wird, sie bewegt die Lippen, sie redet mit sich selbst, sie zählt und rechnet, sie schlägt sich sogar einmal vor die Stirn und geht zum Küchenschrank und holt ein kleines Sägemesser hervor und schneidet damit Tomaten, schön dünn und schön gezackt.

      Hm. Abraham blickt bald zu ihr hin und bald auf den Verkehrsstrom mit all den vielen sonnentrunkenen Gesichtern hinter den offenen Fenstern, die sich einen Augenaufschlag lang in der Einfahrt zwischen den beiden Ahornhecken zeigen.

      9.30

      „Bist du bald fertig?“ ruft er, er hat keine unangebrachten Zeichen von Geduld von sich gegeben, wohl aber fast eineinhalb Stunden gewartet.

      Edith zählt mit einem Finger und blickt zum Übergardinenschal auf und dann zu ihm hinaus und sagt: „Ja, in ungefähr zehn Minuten.“ Auf dem Gasherd hinter ihr dampft es aus einem Topf.

      Abraham sieht, daß schon ein Extrapaket fertig ist, ein bißchen unförmig und bucklig.

      Edith will also den Hund mithaben. Er liegt mitten auf dem Hof unter dem Bornholmer Vogelbeerbaum und will sich einschmeicheln, schlägt mit dem Schwanz und hat das Maul aufgesperrt und läßt die Zunge heraushängen. Abraham ist der Meinung, daß ein Hund nicht an einen Badestrand gehört. Hunde sind doch keine Menschen. Er kann das nicht leiden, aber er will nichts sagen. Das soll ihnen nicht den Tag verderben. Nur ihm selbst verdirbt es ein bißchen den Tag.

      9.35

      Er geht hinaus auf die Straße. Da überholt einer sehr schnell und landet dabei fast in der Bankette, im Auto entsteht Panik, und im Wagen, der überholt wird, drohen sie vor Wut, und der Fahrer hupt mehrmals. Aber die Verkehrspolizei ist vormittags nicht allzu rührig. Vielleicht kann sich der Staat das nicht leisten, trotz all der Strafmandate. Solch eine Streife muß sich ja selbst ihr Gehalt verdienen.

      Ganz nette Leute, wenn sie all ihr Lederzeug abgelegt haben.

      9.45

      Nun kommt Edith mit den Schachteln und Körben, der Thermoskanne und den Getränken.

      „Ich hab deine Badehose mitgenommen“, sagt sie.

      „Willst du denn baden?“ fragt er und sieht sie an.

      So was sollte sie lieber bleibenlassen.

      „Bei solchem Wetter“, sagt sie, und die Bronchitis rasselt kräftig in ihrem Hals. „Du kommst auch nicht drum rum!“

      Er wird sich hüten, darauf zu antworten.

      9.50

      Und dann fahren sie. Der Hund steht zitternd und schwanzwedelnd auf dem Rückpolster. Edith sitzt in ihrem geblümten Kleid ein bißchen schräg auf dem Vordersitz, und Abraham achtet darauf, daß es nicht zu einer Karambolage mit ihrer linken Brust, ihrem Bauch und ihrem Schenkel kommt, wenn er runter in den dritten Gang oder rauf in den vierten schaltet.

      „Es werden viele Leute da sein“, sagt Edith. „Sieh mal, wie sie aus allen Richtungen an der Ampel halten.“

      „Wenn wir keinen schönen Platz kriegen, fahren wir wieder, dann können wir auf dem Deich sitzen und essen“, schlägt Abraham vor.

      9.55

      „Es ist ja genug Platz da“, sagt Edith. „Da fährt der Fischmann, er will raus und den Badegästen am Strand Räucherfisch verkaufen.“

      Abraham muß daran denken, daß sie selbst auch dazu gehören, bald.

      „Ich


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