Am Meer. Peter Seeberg

Am Meer - Peter Seeberg


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vorstellen“, sagt Edith, die die Hand unter der Wange, ja bis rauf zur Schläfe hat.

      10.15

      Bald sehen sie über der Insel das Meer, das sich weithin dehnt und so blau ist.

      10.05

      Biggie hat oben bei den Dünen vorm Hotel das Verdeck seines Wagens heruntergeklappt. Er trägt eine hellblaue Badehose mit weißem Gürtel und ein bauchfreies weißes Polohemd.

      Er beobachtet alle, die vom Hotel kommen oder dort hinaufgehen, durch seine Sonnenbrille, in der sich, wenn man ihn ansieht, der große Strand spiegelt.

      Da ist so eine Schicke, ganz in Weiß, langer weißer Rock, weiße Bluse und weiße Mütze, sehr braun. Sie entblößt die Zähne und reißt das eine schwarze Auge in Richtung zu ihm auf, und er wird ein bißchen zu eifrig, und sie sieht weg, hält den Körper ein klein wenig schräg, in einer schrägen Achse, so wie die Mannequins, etwas kühl, aber wer weiß.

      In der Luft fauchen kleine Modellflugzeuge. Väter und Söhne stehen unten am Strand über winzige Stationen gebeugt und dirigieren. So was kostet gut und gerne ein paar hundert Mark. Hoch über den Dünen stehen Plastedrachen von den Sommerhäuschen weiter landeinwärts. Und gleich nachdem die Kirchenglocke aufgehört hatte zu läuten, war das Motorengeräusch einer einmotorigen Propellermaschine zu hören.

      Sein Vater hatte immer von dem Zeppelin von 1934 erzählt, der so tief flog, daß man alle Passagiere sehen konnte, die an den Fenstern standen und zu den wenigen Badegästen herabwinkten, die es damals gab. Ein Propagandaflug.

      Er stellt das Autoradio an, schaltet es aber gleich wieder aus.

      Er ist ein sehr gut aussehender Mann, aber das reicht trotzdem nicht.

      10.15

      „Wo ist denn deine Frau, Biggie?“ redet Paul ihn an. „Was denn, du stehst hier und hältst nach Damen Ausschau, wo du doch am Nachmittag springen sollst? Paß bloß auf, daß du auch die Reißleine ziehst, Biggie.“

      Biggie sieht auf Paul hinunter, der in seinen grauen Shorts flachbrüstig dasteht und zu ihm aufsieht, den weichen Stoffhut tief in die Stirn gezogen.

      „Das ist doch nicht schlimm“, sagt Biggie, „wir haben das ja oft genug geübt. Es ist herrlich, je höher, um so besser.“

      „Eine Art Freiheit“, meint Paul.

      „Das kann man wohl sagen“, antwortet Biggie, „es ist ein Vergnügen, das jeder Mann haben kann, wenn er Lust dazu hat, besonders der freie Fall, die haarfeine Berechnung, das Abbremsen, das Rumschwingen und das Abgleiten. Verstehst du.“

      „Das ist so“, sagt Paul.

      Biggie sagt, daß es so sei.

      „Das ist übrigens ein flotter Wagen, den du dir da zugelegt hast“, sagt Paul und streicht über die heiße Kühlerhaube. „Farbfernseher müssen sich im Augenblick ganz gut absetzen lassen, trotz all der Einschränkungen.“

      „Was der Mensch braucht, muß er haben“, sagt Biggie.

      10.20

      Sie blicken über den Strand, um eine Pause zu gewinnen, damit sie sich trennen können. Die Toilettenwagenburg ist nun an allen Seiten von Autos umgeben. Die Würstchenbuden werden gerade an ihren Platz gerollt. Die hintersten Autos sind im Begriff, zu den trockenfallenden Flächen vorzufahren.

      „Jetzt kommt der Hubschrauber“, sagt Biggie.

      Die Maschine umfliegt die vorspringende Düne, die im äußersten Süden aufragt, und folgt dann der Küstenlinie nach Norden.

      „Bin gespannt, wieviel heute auf ihren Luftmatratzen raustreiben, das Wetter ist danach“, sagt Paul.

      Sie schweigen.

      Da war so vieles.

      Sackert hatte eine Woche lang ganz unten im Süden in einem Verschlag gelegen, der aus Treibgutstücken zusammengestoppelt war. Er war rot und immer röter geworden und auch ein bißchen dünner, aber es ging ihm nicht besser. Dafür war das Wetter besser geworden.

      „Geht’s dir gut?“ fragte Kæthe und blickte zu ihm hinunter. Sie hatte braune, mandelförmige Augen und war ungefähr sechzehn.

      „Ach, das juckt“, antwortete er, „das juckt und juckt.“

      „Ich komm und juck dich“, sagte sie, „brauchst es nur zu sagen.“

      9.55

      Er blickte über die Brettkante und verfolgte ihren Gang; lange schlanke Beine, ein magerer Rücken, der Kopf leicht geneigt, eine einzelne braune Flechte den Nacken hinab; aber dieser orientalische Blick und das freundlich-spöttische Lächeln, wo hatte sie das her? Sie bückte sich nach einem Brett, ihr Körper breitete sich aus, als schwebe sie tief über dem brennendheißen Sand, gerade da sah sie zurück und bemerkte ihn, wie er mit seinem schwarzen Schnurrbart dastand und über die Wand blickte. Spöttisch-freundlich, aber er hatte sich nicht lächerlich gemacht.

      Er legte sich wieder hin.

      Die Jugend hatte nicht mal dafür Interesse.

      Vielleicht war es die Seele, die sie sich geben wollten.

      Sich Seele geben.

      Er mußte wieder aufstehen, aber er durfte sich nicht kratzen. Er schlich zum Wasser hinunter, dort gab es ein bißchen Linderung. Etwas weiter nördlich war man bei den ersten Autos dabei, Sonnensegel aufzustellen, Frauen, deren weiße Partien leuchteten, und Haar, das im Wind flog.

      Und ein paar im Anzug, die sich hinsetzten, das Haar in die Stirn geweht.

      Ganz oben am nördlichen Horizont die zusammengeballte Hauptmasse, blinkend, in innerer Bewegung, und in der flachen Schaumverbrämung des Meeres Gesicht neben Gesicht, in Selbstverzückung und in Verzückung füreinander, angehoben, sinkend und verschwindend und zurückkehrend, Kugel, Blasen und diese hochaufgerichteten dunklen Körper vor dem Himmel, der hinter ihnen und um sie her brannte.

      Er setzte sich mit vorgestreckten Beinen ans Wasser, legte sich hin und ließ sich überspülen, schloß die Augen.

      10.00

      Vom Wind und den energisch Wandernden, die, ihre Hemden um die Lenden gebunden, an den Baken vorbeischritten, klang es herüber:

      „... aber kein Mensch könnte das machen ...“

      „... und dann – ja vielleicht ...“

      „... und an einem Tag ist das Ganze zugewachsen – und an einem anderen ist es überflutet, hier ist nichts fest ...“

      „... jetzt sind sie selber der Meinung, daß es reicht, jetzt sagen sie selbst, daß es zu viele sind ...“

      Der Hubschrauber flog tief über ihn hinweg. Sackert öffnete die Augen und begegnete vielleicht dem Blick des Piloten, obgleich das nicht nötig war. Er war einer, und da war einer und da noch einer, und vielleicht behielten sie sie allesamt im Auge. Was tat das schon?

      10.15

      Als er hinaufging, kam Adriane, ausgetrocknet, runzlig, faltig.

      „Guck mich an“, sagte sie mit einem Lächeln, als er sich ihren Anblick ersparen wollte.

      Er sah ihr in die Augen.

      „Nicht nur dahin“, sagte sie, „mach mir die Freude.“

      10.17

      Er versuchte hinzusehen.

      „Nun machst du mir eine Freude“, sagte sie und versetzte ihm einen Klaps.

      Sie mußten vor dem alten Restaurant einen Kaffee haben.

      Und die Fensterscheiben spiegelten den ganzen Strand.

      „Der Pavillon hier, der wurde zur Einweihung des Kanals gebraucht, hab ich mir erzählen lassen“, sagte Bloch.

      „Du bist oft hier gewesen?“ fragte Gerard.

      „Nicht


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