Am Meer. Peter Seeberg
wurde ungeduldig.
Bei den Telefonzellen standen Männer und lasen, während ihre Frauen die Eltern anriefen. Josef trieselte Steinchen über die Gehwegplatten zu ihnen hinüber. Sie blickten zu ihm hin und sahen ärgerlich aus.
Ein See war abwasserfrei und ein Fluß im Unterlauf kristallklar geworden, doch in den Mündungen und auf dem Grund der Ozeane sammelten sich die Verunreinigungen. Verkrüppelte Fische und miserable Menschen.
Aber wer möchte schon die chemische Industrie missen?
Wie können die Menschen ein Leben ohne schmerzstillende Tabletten ertragen?
Nun kam die eine Frau heraus. Ihr Mann zeigte auf etwas in der Zeitung, und sie standen da, den weißen Morgenhimmel über sich, und lasen. Josef ging um den Kiosk herum und blickte ihnen über die Schulter: Bis jetzt hat noch kein Terrorist bereut. Sie senken die Zeitung und sehen über den Strand, dann nimmt der Mann die Zeitung und faltet sie zusammen und sagt hinauf zu der Frau, die einen halben Kopf größer ist als er: „Das ist eine gute Beobachtung.“
Sie schüttelt den Kopf.
„Weswegen sollten sie auch bereuen?“ fragt er.
„Wegen der Unzulänglichkeit der Konsequenzen“, sagt sie.
Sie gehen gemeinsam die Zeltstraße hinunter, der Mann faltet die Zeitung sehr sorgfältig zusammen, und Josef sieht ihnen nach, während sie miteinander redend davongehen.
Sie reden noch miteinander.
Er geht in die Telefonzelle und wählt irgendeine Nummer, läßt es dann aber bleiben.
8.20
Er stellt sich an und kauft eine Schifferschreckzeitung und ein Brötchen und einen großen Zwieback. Er ist und war immer der einzige von allen, die er kannte, der Zwieback aß. Vielleicht würde er einmal jemandem begegnen, der das ebenfalls tat.
Auf dem Rückweg pfeift er laut. Er stößt das Zelttuch mit dem Fuß auf und wirft die Tüte zu Nina hinein. Dann kriecht er ins Zelt und läßt sich fallen und beginnt in seiner Zeitung zu blättern und läßt es protestierend zu, daß ihre Hand über ihn hingleitet.
8.15
Der Tag ist über ihnen allen. Die Sonne steht hoch über dem Morgendunst des Festlandes. Auf allen Straßen, die zum Damm und zur Insel führen, rollen Fahrzeuge heran, die Fenster heruntergekurbelt, behaarte Arme ein Stück herausgestreckt, die Lüftungsklappen der Busse bereits weit aufgeschoben, die alten Damen schon mit hervorgeholten Taschentüchern und leichten Atembeschwerden.
Der Betagteste von ihnen allen, mit gezwirbeltem Schnurrbart und altem Strohhut, dreht sich auf dem Vordersitz um und sagt: „Ich glaub, ich geh heut ins Wasser“, und er fügt hinzu, während er sich wieder nach vorn dreht und an die Uhrkette greift: „Zum letztenmal.“
„Soll das am Nacktbadestrand sein?“ ruft die stets schlagfertige Mie. Sie ist neunundachtzig.
„Ja, selbstverständlich“, sagt der Zweiundneunzigjährige und dreht sich um und droht ihr mit der Faust. „Selbstverständlich!“
Die anderen im Bus trocknen sich sachte Stirn und Schläfen und denken an ihre Körper in aller Nacktheit, sie versuchen bis auf den Grund der Wahrheit zu gelangen, werden jedoch auf halbem Wege vom Sog einer kleinen Wehmut erfaßt.
„Ich trau mir das“, sagt Mie neckend.
Doch nun ist der Alte durch einen Igel abgelenkt, der zusammengerollt auf der Straße liegt. Und Schwindel durchbraust ihn, während er in Gedanken das Tier auf seinem Weg nach hinten verfolgt.
8.30
„Der ist zu groß“, sagt Ulrik, „den kriegst du nicht rein. Pack ihn um in einen anderen Korb.“
„Der kann doch im Auto stehen“, sagt sie, „das macht doch nichts. Ich kann den Kleinen anders hinlegen.“
Doch er besteht darauf, und sie geht hinein und legt den Säugling in eine kleine Kiste und kommt heraus, blendend, die Kiste gegen die linke Hüfte gepreßt.
„Haben wir denn nichts anderes?“ fragt er.
Sie ist mutlos.
„Es ist nicht so schön“, sagt sie, „aber was macht das schon.“
Ulrik will selber fahren, er kurbelt die Scheibe herunter und legt den Ellbogen ins Fenster, sie sitzt lange da und sieht sich nach dem kleinen Würmchen in der weißen Schachtel um, das ruhig schläft, ein Altmännerlächeln im Marzipangesicht.
„Es ist doch nicht so schön“, sagt sie.
„Das mag schon sein“, sagt Ulrik. „Bist du unzufrieden?“
Maja seufzt und dreht sich um und sieht hinaus auf die lange Straße, Auto an Auto rollt dahin, mit Zelten auf dem Dach, mit halboffenen Kofferraumklappen und mit Kindern, die aus den Heckfenstern blicken.
„Was für ein wunderschöner Tag das ist, Ulrik“, sagt sie. „Ich freu mich darauf, am Strand zu liegen und zu faulenzen.“
„Es werden unendlich viele dasein“, sagt er. „Es wird unerträglich werden. Wir fahren nach Hause, wenn wir es nicht mehr aushalten.“
„Laß mich erst mal am Strand liegen und den Kleinen auf dem Bauch haben und ihn vielleicht mit raus in die Brise nehmen und ihn das Meer sehen lassen, das hab ich mir gewünscht“, sagt Maja. „Wir sollten alle am Meer leben, am Meer kann keiner alt werden.“
„In dem Gestank“, sagt Ulrik. „Hast du an die Umweltverschmutzung gedacht? Wo, glaubst du, verrichten all die Leute ihre Notdurft?“
„Das ist doch so wenig im Vergleich“, entgegnet sie.
„Das ist enorm viel“, sagt er. „Du hast nicht den Situationsbericht der Kreisärzte gelesen, heutzutage ist es besser, in einem Inlandsee zu baden, selbst die Ozeane sind auf dem Wege, das reinste Gift zu werden. Und dann all die Mitteleuropäer, die Viren bei sich haben, die überhaupt noch nicht bis hier rauf gekommen sind.“
„Es ist ein so schöner Tag, Ulrik“, sagt sie. „Fahr bloß ein bißchen langsamer, ich bin schon seit Monaten kaum vor die Tür gekommen.“
„Glaubst du, ich vielleicht?“ fragt Ulrik. „Ist es nun gut?“ Er schluckt ein bißchen.
„Selbstverständlich, Ulrik“, sagt sie.
Und etwas später: „Wie lang der Weg trotzdem ist.“
9.15
Doch nun sind sie oben auf der letzten Bodenerhebung.
„Ah“, sagt sie und dreht sich um und klopft die weiße Decke um das Kleine ein wenig fest.
8.30
„Bis vor zwanzig Jahren“, hatte Mogens gerade gesagt, und es war viel Platz um ihn her, und er wies über das Ganze hin, „war der ganze Strand öde. Es gab vielleicht einhundertfünfundzwanzig Sommerhäuschen. Um die Jahrhundertwende wurde der Versuch gemacht, einen kaiserlichen Badeort mit Wikingerhäusern zu gründen, da könnt ihr mal sehn, tja, das ist gar nicht so leicht zu sehn.“
Lone hatte eine Qualle aufgehoben.
„Wenn’s gibt Quallen, gibt’s keine Feuerquallen“, sagte Mogens, „so ist das, ihr könnt also ruhig ins Wasser gehen.“
„Willst du denn nicht ins Wasser?“ fragte Grethe. „Ich hab Lust!“
„Ich geh ins Wasser“, sagte Lone, „sofort.“
Villy hörte Radio, ein kleines Transistorgerät, schaltete es nun aber ab.
„Der Lohn kann sich ein bißchen erhöhen, aber der Reallohn ...“
„Das hatten wir ja vorausgesehn“, sagte Mogens. „Willst du nun ins Wasser, oder soll ich mit den Mädchen allein gehn?“
„Willst du trotzdem ins Wasser, Mogens?“ fragte Grethe.