Mombasa. Jürgen Jesinghaus
musste zwar nach dem Umzug die Realschule aufgeben, in die er gerade aufgenommen worden war, denn es gab damals in Oplyr keine vergleichbare Schule. Das war für ihn keine Katastrophe. In der Volksschule Oplyrs galt er zwar als der Jude, weil er nicht am katholischen Gottesdienst teilnahm, aber die Bezeichnung „dä Jud“ hatte nur die Bedeutung von: der Fremde, der Andersgläubige, der Abessinier, der Zugewanderte, der von jenseits des Gebirges. Sie sollte nicht verletzen. Dan erfreute sich einiger Beliebtheit, denn er wurde als „Städter“ und bereits „Einjähriger“ angesehen, nur weil er die gebohnerten Flure einer höheren Schule gerochen hatte und weil man bei ihm mehr verwertbares Wissen vermutete als bei den Dörflern. Und weil Daniel nicht dumm war.
Er machte den Zeitabschnitt des Glücks gegen Ende seiner Kindheit an nur einem Tage fest, einem Tag, den er nicht zu datieren wüsste, der ihm aber für immer vor Augen stand. An jenem Tag, eigentlich an jenem Abend, durfte er später ins Bett gehen als üblich, weil die Erwachsenen in seltener Eintracht einen Gang über das Land machten, denn es war nichts vorgefallen, worüber sich zu streiten gelohnt hätte. Eine Laune, ein kostbarer Zufall: Kein Husten musste kuriert, keine Blutvergiftung ausgebadet, keine Warze besprochen werden. Keine Heimsuchung durch Migräne, keine Sütterlin-Briefe an Ämter. Darum lag die Brille im Futteral, der Tintenstift im Nähkorb. Keine Vorbereitung eines Festes. Kein Auftrag zum Schuhebesohlen. Darum blieben Prospers Hammer und Ahle in den Lederschlaufen am leimverklebten Schustertisch. Die Pumpe am Brunnen hatte nicht versagt. Keiner brauchte Eisenreifen über Holzräder zu ziehen. Die Kartoffeln waren ausgegraben, die Forken gerade gebogen, die Fahrräder geflickt. Kein Tier (außer der Katze) trächtig, das Unkraut gejätet, der Feuerwehrlöschteich umzäunt und der Garten gegen den Wald durch Maschendraht gesichert. Laune und Zufall. Nichts blieb zu tun übrig – außer dem Stopfen und Nähen, dem Nähen und Stopfen. Die Einsicht hatte sich durchgesetzt, dass diese ewige Arbeit auch noch in einem Stündchen gemacht werden könne, denn Stopfen und Nähen haben kein Ende, ob sie schnell oder langsam verrichtet werden. So zogen sie los, um die Krume zu prüfen, die Saat zu besichtigen, das Wetter zu ergründen, denn nichts ist zwecklos und Müßiggang aller Laster Anfang. Der Junge musste, ja er durfte wie auch der Hund, die Erwachsenen begleiten.
Daniel erlebt die anbrechende Sommernacht als Verheißung ewiger Zukunft. Die unzähligen Morgen hinter diesem Abend, wie viele Felder und Hügel und Höfe und Landstraßen und Dörfer und Städte und Kühe und Flüsse hinter diesem schönen Wald mit seiner Kühle am Abend! Der Junge kann nicht denken, ein wie großer Bruchteil seines Lebens schon verbraucht ist. Der Gang durch die warmen Felder, über einen ungepflügten Grasstreifen. Die Schemen der Erwachsenen. Ihre Unterhaltung, obwohl mit gewohnter Kraft geführt, ist kaum vernehmbar, berührt kaum das stille Wasser der Welt. Die Umrisse vor sich und die dunkle Ruhe, um die Sterne sichtbar zu machen, versetzen das Kind in eine Stimmung der Geborgenheit und Weltoffenheit zugleich. Es träumt von einer Zukunft, in der es behangen mit Waffen und Werkzeugen seine Taten verrichtet. Das Motorrad auf der Landstraße reißt die Stille auf längs einer vorgezeichneten Naht. Man kann es lange hören. Das ersterbende Geräusch zwingt Daniel, ihm nachzuhorchen, bis der Ton zu einer Spitze wird und nur die Haut der Stille eindrückt. Noch schreitet der Junge hinter seinen Eltern und fühlt sich festlich geborgen. In Gedanken aber sieht es sich auf dem Motorrad voll Mut und voll Angst an dem schwarzen Wald vorbei brausen, durch den Duft des Asphalts, den berauschenden Duft der Ferne, durch die nachleuchtenden Felder, zu dem weitesten Punkt, den er je mit dem Fahrrad erreicht hat, vorbei an der Ziegelei, in der es spukt, in der ein Mörder haust, in rasender Fahrt vorüber am Schatten des Mörders, der gestikulierend über den Weg zur Landstraße läuft, dem Kind aber nichts anhaben kann, denn es ist schneller und schon längst auf dem Weg zu einem Meer, das nur in den Büchern steht und wo das Kind noch nichts von seiner Zukunft verbraucht haben wird. Erst wenn es selber schaut, wovon die Bücher berichten, fängt das Leben an zu zählen.
Im Nachhinein sah er es so. Die Welt erschien ihm friedlich, trotz der Not, über die seine Eltern jammerten, trotz der Invalidität seines Vaters. Die Nachbarn, die Leute in Oplyr, sind zwar Bauern und Dörfler, aber von einer nachsichtigen Freundlichkeit, als hätte der Strom, an dem sich bedeutende Städte aufreihen, die giftige Beschränktheit hinweggespült. Noch heute kann man erleben, dass Kinder guten Tag entbieten, zwar mit fragendem Gesicht, wie wohl die Erwiderung ausfallen würde, aber ohne Affigkeit. Nein, diese Leute waren damals keine Bedrohung gewesen. Noch nicht. Die Bedrohung kam nicht von außen, sondern von seinem Vater, dem Tränenwischer, der gegen Ende der 1920er immer eigenbrödlerischer wurde und den die politische und wirtschaftliche Entwicklung zunehmend beunruhigte.
3.
Immer häufiger kam er auf die Dernauer Verwandtschaft zu sprechen, und eines Tages wusste er genau, was er wollte: nach Amerika auswandern, zunächst alleine, um seiner Familie den Boden zu bereiten. Um 1930 stand ihm dieser Entschluss klar vor Augen. Drei Jahre des Kampfes um Entschlüsse und Zukunftspläne waren für Daniel und seine Mutter eine schwere Zeit. Dan, der in den glücklichen Jahren der 1920er in der Familie einen festen Platz eingenommen hatte, fühlte sich vernachlässigt. Die Dernauer Verwandtschaft rückte zusehends in den Mittelpunkt der Familiengespräche, die sich nach Feierabend am Küchentisch entspannen. Die Mutter wollte nicht nach Amerika. Je mehr sie ihren Standpunkt verdeutlichte, desto mehr beharrte Prosper auf der seiner Ansicht nach einzigen Lösung, der deutschen Misere zu entfliehen und „drüben“ wohlhabend zu werden.
Die Spielsteins hungerten zwar nicht, aber sie lebten von der Hand in den Mund, und am Ende eines Monats war alles aufgebraucht bis auf ein paar Pfennige. Dieses kupferbraune Häufchen diente der Frau als schlagendes Argument gegen den Auswanderungsplan ihres Mannes, der umgekehrt im Geldmangel die Berechtigung zum Aufbruch in eine bessere Zukunft erkannte und in sich einen Abraham, einen Moses oder Josua erblickte, der allen Widerständen zum Trotz aufbrechen würde in ein gelobtes Land, wo er als Farmer ein patriarchalisches Leben zu führen gedachte. Seine Hoffnung war die Dernauer Verwandtschaft. Sie nahm (wenigstens für ihn) konkrete Konturen an, als er einen Brief aus den USA empfing, der eine allgemein gehaltene Einladung enthielt: Wenn er die Überfahrt würde finanzieren können, sei der Rest kein Problem. Mit einer großen Anstrengung gelang es der Familie, einen Betrag anzusparen, mit dem man die Passage auf einem Schiff bezahlte, an das der Reisende keine Ansprüche stellen durfte. Man bedauerte die Witwe und den jungen Mann, der, obwohl im heiratsfähigen Alter, nichts für die Gründung einer eigenen Familie hatte zurücklegen können. Welcher Art Flucht Prospers Auswanderung war, niemand weiß es genau. Später hieß es, er habe alles kommen sehen. Wenn dein Vater durchgekommen wäre, mit etwas mehr Glück, dann säßest du jetzt in Washington oder New York, und du könntest mir von Zeit zu Zeit eine Ansichtskarte vom Weißen Haus oder vom Empire State Building schicken. Das war so eine Redensart von Heinz Ollet, dem Müllkutscher, die er zu variieren pflegte, wenn Dan und er über sich sprachen (aber davon später mehr).
Der Abschied war auf einen Dienstag anberaumt worden. Die Familie wusste in ihrer Bekümmerung nicht, wie ein solcher Abschied vonstatten ginge. Aber schon am Montag war Prosper verschwunden und wurde nie wieder gesehen. Aus einem nicht mehr nachvollziehbaren Grund ist er aus Le Havre abgedampft. Er hat später nichts anderes darüber geschrieben, als eben die Wiedergabe dieser Tatsache. Vielleicht war sie für ihn so einleuchtend, dass er eine Erklärung nicht für erforderlich hielt, und vielleicht war es tatsächlich nur der niedrige Fahrpreis, der ihn dazu bewog, ein Schiff in Le Havre zu besteigen. Andererseits hielt sich das Gerücht, nachdem es einmal aufgekommen war, dass er unterwegs jemanden aufgelesen und mitgenommen hatte, den großen Unbekannten oder die unsterbliche Geliebte. Daniels Mutter hing der zweiten Deutung an und litt. Dan wiederholte ständig: Es war der Preis, Vater hat sich umgehört und erfahren, dass in Le Havre ein billiger Frachter in die Staaten fährt. Aber warum die vorzeitige Abreise? Warum sagte er nichts? Ja, warum. Prosper hat darüber kein Wort verloren, obwohl man ihm Schreibfaulheit nicht vorwerfen konnte. Er berichtete von erfolgreichen Unternehmungen, und eines Tages, dass er endlich eine Anstellung in Aussicht habe. Diese Mitteilung bedrückte die Familie, weil aus ihr hervorging, dass die erfolgreichen Unternehmungen geschwindelt waren, um die Daheimgebliebenen zu trösten. Die Aussicht, in irgendeinem Lagerverwaltungsbüro in New York (die Briefe kamen alle aus NY) zu arbeiten, hatte ihn so ergriffen, dass er unversehens in einen Ton aufrichtiger Berichterstattung gefallen war und so einen Schimmer der Wahrheit über seine tatsächliche