Mombasa. Jürgen Jesinghaus

Mombasa - Jürgen Jesinghaus


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befohlen, obwohl Daniel jetzt ordentliche Papiere besaß. Nur im Notfall möge man sich bei Herrn von Grein melden, dem Verbindungsmann, mit dem Hartkopf die Bedingungen für das Überleben Daniels ausgehandelt hatte. Der Arzt, den Daniel konsultieren wollte, war unbestimmt verzogen. Die Eintönigkeit des Dahinlebens und die Angst vor Unbekannten zögerten den Besuch eines anderen Arztes hinaus. Das Brausen in Dans Kopf hatte zwar nachgelassen, aber das Gehör blieb beschädigt. Hartkopf und Radebusch gewöhnten sich an, mit Daniel laut und artikuliert zu sprechen.

      Was Daniel Spielstein blieb, war das nackte Leben, die Löwengrube und der 9-Uhr-Kaffee. Manchmal fragte er sich, woher und wieso Hartkopf die Kontakte zur Organisation hatte. Wie auch immer, er hatte sie genutzt, ihn aus der Haft zu befreien und vor einem Lager im Osten zu retten. Wer Jude war, sprach sich schnell herum. Die Leute kramten in Erinnerungen und wussten, wer den Sabbat feiert und wer in die Kirche geht. Und es gab Frauen, die untrügliche Zeichen am Fleische hätten angeben können. Aber sie hüteten sich wohl, darüber zu sprechen. Wer also hatte ihn denunziert?

      6.

      Masrat war der jüngste Sohn des Hof- und Brennereibesitzers. Er hatte Pädagogik studiert, aber den Schuldienst früh quittiert, weil er in eine Affäre verwickelt gewesen sein soll, über die niemand offen sprach, denn es sei „Schnee vom letzten Jahr“. Trotzdem, einige munkelten von Bestechung und Verführung Minderjähriger. Er hatte sich früh der herrschenden Partei angeschlossen, weil sie seiner Auffassung von Zucht und Sitte, vom neuen Menschen, der sich höheren Zielen bedingungslos unterordnet, entgegenkam, und weil er hoffte, die Gerüchte über ihn würden dadurch endgültig verstummen. Er spürte „abartigen“ Zeitgenossen nach, Abweichlern und Zugereisten, die nicht, wie er sich ausdrückte, in „unseren Volkskörper“ gehörten. Seine Familie war alteingesessen, gut katholisch. Unter Seinesgleichen im Dorf, den Bauern, Ladenbesitzern, Kneipiers und einigen Beamten ließ er sich schon einmal gehen, warf Runden, verkündete die neue Zeit und gab zum Besten, wer nicht mehr in sie hineingehöre: alle die es „mit der internationalen Verschwörerbande halten und Schweinkram schreiben“. Dabei fielen auch Namen. Er machte gerne Andeutungen, weil er sich dann der besonderen Aufmerksamkeit sicher sein durfte. Hatte er anfangs nur Informationen aus seinem Parteizirkel durchsickern lassen, begriff er bald, dass er selbst Macht ausüben konnte, wenn er von sich aus durch erfundene Andeutungen Personen einkreiste, ohne sie zu benennen. Er beobachtete zu seiner Lust, wie solche Personen isoliert wurden, weil niemand etwas mit ihnen zu tun haben wollte. Das hatte Masrat gelernt: Man musste sich zum Apparat bekennen, je lauter, desto besser, dann durfte man ihn bedienen, und er tat, was man wollte, wenn nur die Wünsche nicht übertrieben waren, die Ziele nicht zu hoch gesteckt, nicht ins Politische, und nicht so, dass man anderen aus der Partei in die Quere kam. Er war auf dem besten Weg, sich diese Entdeckung im großen Stil nutzbar zu machen, nachdem er festgestellt hatte, dass sich selbst Behörden auf seinen Wink hin in Bewegung setzten, Menschen verhörten und verhafteten - aber ihm blieb keine Zeit dazu.

      Seine Gewohnheit, an Samstagabenden in die Großstadt zu fahren, weil er, wie er tönte, am heiligen Sabbat noch Geschäfte erledigen müsse, nutzte Radebusch, um eine Rechnung zu begleichen. Er tat es mit dem Sendungsbewusstsein eines Widerstandskämpfers. Masrat ist ein kleines Würstchen, zwar ein Großkotz in Oplyr, aber in der Politik da draußen ein Niemand, er ist ein Arschloch, sagte sich Radebusch. Hat er mit seinem Gequatsche die Leute nicht ins Lager gebracht? Und was geschieht mit ihnen, wenn sie einmal dort sind? Ist je einer wiedergekommen, Jabotinsky und seine Familie, der alte Doktor Schön? Alle plötzlich abgereist, und keiner außer diesem Arsch wagt es, darüber zu sprechen. Radebusch war sich sicher, dass Masrat auch Spielstein ans Messer geliefert hatte – und zwar auf den bloßen Verdacht hin, dass Daniel Jude sei, weil er so heißt, wie er heißt, und nicht in die Kirche gehen mochte.

      Fritz Radebusch kannte den Mercedes, den Masrat an den Samstagabenden eigenhändig chauffierte, einen schwarzen Dienstwagen von der Sorte, die in dieser Gegend sonst niemand fuhr. Fritz hatte die Strecke aus Oplyr hinaus Richtung Köln mehrmals mit dem Rad abgefahren, um sich die seinem Vorhaben günstige Stelle einzuprägen. Für ihn kamen zwei Punkte in Betracht, ein Heiligenhäuschen mit der schmerzensreichen Madonna unter einer Linde und eine verlassene ausgebeutete Kiesgrube, neben deren mit Stacheldraht verrammelten Zufahrt ein mannshoher Findling lag. Fritz erinnerte sich, wie die Arbeiter damals den Stein mit einem Raupenfahrzeug aus dem Sand gehoben, geschoben und an der Straße abgelegt hatten, denn die Aktion war in der Regionalpresse erörtert worden (man hatte deshalb in der Schule über Eiszeiten und schwedische Findlinge gesprochen). Dieser Stein – das war der Punkt. Die Brombeerbüsche würden ihre Schatten werfen und Fritz zusätzlich Deckung gewähren. Außerdem hatte er bei der Hand, was er zu dem Einsatz sonst noch benötigte: Baubretter und eine alte Straßensperre.

      Generalprobe. Fritz versteckte das Rad und postierte sich hinter dem Findling. Noch hatte er ruhiges Blut, noch würde nichts passieren, noch lag es bei ihm, ob jemals etwas passieren würde. Scheinwerferlicht ließ sich von Weitem erkennen. Das erste stammte von einem Lieferwagen. Dann hörte er ein Motorrad noch bevor das Licht aufblitzte. Die Funzeln der Radfahrer waren kaum zu sehen, erst wenn man das Sirren der Dynamos hörte. Auf die Radfahrer musste er besonders achten. Sie sahen mehr als die Motorisierten. Fritz stand eine weitere halbe Stunde. Dann leuchtete die Madonnenlinde, ihr Wipfel erstrahlte. Es konnte kein Lastauto sein, denn der Wagen fuhr leise und war erst zu hören, als Fritz sich ducken musste, um nicht von den Scheinwerferkegeln erfasst zu werden. Fritz merkte sich die ausgeleuchteten Stellen, wo er sich keinesfalls würde aufhalten dürfen. Der schwarze Mercedes fuhr schnell, seine 80 Sachen. Fritz käme nicht darum herum, ein Hindernis auf die Straße zu werfen.

      An dem Abend regnete es. Radebusch wusste nicht, ob das Wetter vorteilhaft war oder nicht, und redete sich ein, der Regen erleichtere sein Vorhaben. Fritz startete früh und wählte zunächst die entgegengesetzte Richtung, um am Rande des Vorbergs über ein wenig benutztes Sträßchen zu fahren, das am Wegekreuz in die Landstraße mündet. Dort stieg er ab und achtete darauf, dass weder seine Schuhe noch die Reifen Profilspuren hinterließen. Er betrat sorgfältig nur Weideland und stieß sein Rad in eine Hecke. Er löste seinen Brotbeutel von der Querstange und vergewisserte sich, dass sein Inhalt vollständig war. Fritz hielt sich ungefähr eine Minute an der Hecke auf und suchte mit den Augen die Felder ab. Er sah niemanden und entschloss sich deshalb loszumarschieren. Er schritt ruhig mit gesenktem Kopf und schaute sich nicht um. Wer ihn beobachtete, sollte den Eindruck eines unbekümmerten Fußgängers gewinnen, der bei diesem Wetter dafür sorgte, schnell und ohne Umwege nach Hause zu kommen.

      Nach einer halben Stunde erreichte er den Findling und verschwand hinter einer Aufschüttung von Kies. Dort schlug er sein Wasser ab und nutzte die Gelegenheit zur eingehenden Prüfung des Umfeldes. Dann bezog er Posten. Er verstaute seinen Beutel am Fuß des Findlings in einer Nische, wo der Regen nicht hineinreichte. Fritz war bis auf die Haut durchnässt. Er hatte keine Vorkehrung dagegen getroffen. Es war jetzt auch seine Sorge nicht. Er beeilte sich, die Bretter und die Straßensperre heranzuschleifen, wiederum nach langem Absuchen der dunklen Ränder an Hecken und Wegen. Er war noch uneins mit sich, ob er das Brett und ein paar Steine nehmen sollte, um die Fahrt des Autos zu unterbrechen, oder die Straßensperre, die dazu diente, die Ausfahrt zu sichern, wenn die schweren Laster die Rampe vom Grund des Kieslochs heraufkeuchten und auf dem letzten Stück zur Straße beschleunigten. Die Sperre hatte er früher schon zwei- oder dreimal gesehen. Jetzt wurde ihm klar, dass er sie nicht verwenden durfte, denn sie sah nach Absicht aus und verriet etwas von der Vertrautheit mit dem Ort, den die Polizei bald vermessen würde. Er zerrte die Bretter zum Findling, dazu ein paar Steine, und schickte sich ins Warten. Wenn Masrat bei diesem Wetter nicht kommt? Dann bist du nur das Risiko eines Schnupfens eingegangen. Radebusch machte seinen Rücken krumm und ließ den Regen an sich hinablaufen. Als er hochsah, stachen ihm Scheinwerferfinger entgegen. Er konnte sich nicht entschließen, die Steine und das Brett auf die Fahrbahn zu werfen. Untätig hockte er hinter dem Findling. Er hatte Glück. Es war nicht der Mercedes. Radebusch schleppte nun die Hindernisse auf die Straße. Komme, wer wolle.

      Der Mercedes hielt. Er war bei dem Regenwetter langsam gefahren und brauchte nicht scharf zu bremsen, als hätte sein Fahrer hier und an keiner anderen Stelle halten wollen. Fritz verharrte regungslos hinter dem Findling. Er schaute nicht einmal hinüber. Er wollte selbst ganz


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