Mombasa. Jürgen Jesinghaus
Heimat. Das reichte für freundliche Worte, auch für ein wenig Geld.
1933 traf der teuerste Brief von allen ein, ein dickes Luftpostschreiben aus New Jersey. Mehrere Seiten wurden darauf verwendet, die Empfänger auf die erschütternde Nachricht vorzubereiten und zu schildern, ein wie tapferer, ein wie fürsorglicher Mann Prosper gewesen sei, da er trotz seiner Behinderung versucht habe, für seine Familie und sich, in erster Linie aber für seine Familie, eine neue Existenz in dem demokratischsten Land der Erde aufzubauen, eine Aufgabe, die trotz der zahlreichen Unterstützung, die er in der neuen Welt erfahren habe, eines Samsons würdig gewesen wäre. Die Nachricht selbst: Der Tränenwischer ist im Hafen tot aufgefunden worden mit einer klaffenden Kopfwunde, so dass die Polizei Mord nicht ausschließt. Der Brief deutete an, dass er einige Male aufgelesen worden sei und einmal in ein Männerasyl („zusammen mit Negern“) gesteckt worden war. Monate später kam der amtliche Bescheid: in Yonkers gestorben vermutlich an den Folgen einer alten Verletzung. Der Tote hatte außer den Personalien, die ihn als „a certain Prosper Spielstein“ aus dem Deutschen Reich auswiesen, nichts bei sich. Seine Aufenthaltsgenehmigung war abgelaufen. Die Beisetzung habe in Paterson, NJ, stattgefunden, die Kosten seien von Verwandten beglichen worden.
Daniels Mutter hat ein Wochenende vor sich hin geweint und ist in Erinnerungen geschwommen. Ein paar Fotos wurden zusammengekratzt, Briefe geschrieben. Danach war sie eine alte Frau, von einer Woche zur anderen. Prosper hatte sich ein für allemal einer Erklärung entzogen. Die Kränkung war unheilbar. Daniels Mutter starb am gebrochenen Herzen, so sagt man (wie soll man es besser sagen). Dan lernte, alles der Kriegsverletzung zuzuschreiben, und kein Mensch weiß, ob dieser Glaube nicht sogar den Tatsachen entspricht.
Daniel durfte als Kalfaktor in der Schuhfabrik arbeiten, wo sein Vater einen wichtigen Posten bekleidet hatte. Aber 1933 wurde er entlassen. Man warf ihm vor, das ihm anvertraute Geld eines Kollegen veruntreut zu haben. Als die Firmenleitung nach langen rufschädigenden Untersuchungen die Sache auf sich beruhen lassen wollte, um die Justiz nicht zu bemühen, weil der Vorwurf des Kameradendiebstahls nicht erhärtet werden könne, willigte Daniel angewidert in die Kündigung ein, die trotz mangelnder Beweise ausgesprochen worden war und die er der Judenfeindlichkeit der neuen Regierung ankreidete. Im selben Jahr fing er bei Hartkopf an, vielleicht weil sich die Väter kannten und die Jungen, Daniel und Gustav (der Erbe) sich angefreundet hatten. Daniel selbst datierte seine große Liebe zu Gustavs Halbkusine in das Jahr 1934. In seiner Erinnerung hatte man sogar von einem Verlöbnis gesprochen. Und dann war plötzlich nicht mehr die Rede davon, und der alte Hartkopf pflegte nur noch einen förmlichen Umgang mit Daniel. Aber Dan durfte seine Stelle behalten. Damals war die große Zeit des Kirchgängers Bernhard Hartkopf, der seinen Bedarf an Ausübung religiöser Pflichten für den Rest seines Lebens deckte. Es wird überliefert, er habe mit seinem Kirchgang ein Zeichen dafür setzen wollen, dass mit der „neuen Zeit“ nicht alle Werte verloren gingen. Angeblich hat man ihn deswegen nach Bonn bestellt, wo er die Aussage näher erläutern sollte. Aber erst Gustav Hartkopf, der Erbe, war tatsächlich in einer „politischen“ Angelegenheit in der Gestapo-Zentrale am Kreuzbergweg.
Daniel Spielstein ging 1941 in die „Illegalität“. Er bezog eine Wohnung im Haus, das sein Vater, der Augenwischer, gerne gekauft hätte, aber Bernhard Hartkopf schließlich gekauft hatte. Er nannte sich Spielsin – Spiälsin (Betonung auf ‚äl‘). Das Versagen einer behördlichen Schreibmaschine, nämlich das am Typenhebel hochgerutschte ‚e‘ (der am häufigsten benutzte Vokal hatte den Fliehkräften nicht mehr standgehalten), die Schludrigkeit eines Beamten und die eigene genialisch-schwungvolle Unterschrift gestatteten eine Lesart in seinem Pass, die ihm die vielleicht lebenswichtige Namensänderung vom jüdischen ‚Spielstein‘ ins christlich-polnische ‚Spielsin‘ ermöglichte - Spiälsin („mein Name ist Spiälsin - das konnten Sie nicht wissen“).
4.
Daniel Spielstein wurde um fünf Uhr überfallen. Die Täter waren in Ledermäntel gekleidet und von einer Gelassenheit, die Kriminellen gewöhnlich nicht eignet. Sie schlugen gegen die Wohnungstür und forderten ihn auf mitzukommen. Sie brauchten nichts zu sagen, ein Ruck mit dem Kopf genügte. Daniel Spielstein, der sich Spiälsin nannte, fragte, was er mitnehmen dürfe. Der Anführer zuckte die Achseln. Er löste sich aus dem Türrahmen und folgte dem schlaftrunkenen Mann ins Zimmer. Die Hände behielt er in der Tasche, denn er hatte sich von der Harmlosigkeit des Opfers überzeugt. Widerstand hätte nur ein Pistolenschütze leisten können, der kaltblütig genug gewesen wäre, die beiden Männer über den Haufen zu schießen – und den dritten dazu, der bei laufendem Motor im Auto saß. Daniel packte seine sieben Sachen in eine verschlissene Aktentasche.
„Wertsachen?“
Er schüttelte den Kopf.
„Papiere?“
Die Papiere lagen im Küchenschrank. Der Ledermantel riss sie Daniel aus der Hand, als er sie geholt hatte.
„Wo ist das J?“
Er schwieg betreten, als hätte ihn die Polizei in einer Fälscherwerkstatt ertappt.
„Also dann.“ Der Ledermantel verließ energisch das Zimmer, ohne sich nach dem Wehrlosen umzuschauen, in der Gewissheit, dass er folgen würde. Flucht zwecklos. Also folgte Daniel. Die Männer stiegen hastig in den Wagen (jetzt musste es schnell gehen), so dass er Mühe hatte einzusteigen.
Die Opfer waren Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, sogar alte Zentrumsleute, Oppositionelle aller Art, aber auch persönliche Feinde derjenigen, die Macht hatten, Ledermäntel in die Nacht zu schicken und Leute aus ihren Wohnungen heraus zu verhaften. Die Ledermäntel taten, was man ihnen befohlen hatte. Sie würden sich nach dem Krieg darauf berufen und eine Tugend daraus machen („wo kommen wir hin, wenn jeder tut, was er will“). Keiner sprach mit dem Gefangenen. Die drei unterhielten sich über die nächsten Stationen und den kürzesten Weg, um das „Einsammeln“ schneller hinter sich zu bringen. Niemand solle glauben, betonte der Fahrer, ohne sich an das Opfer zu wenden, dass ihm der ganze Quatsch Spaß mache, die Herumfahrerei bei dieser Tageszeit, in diesem saukalten Wetter. Schuld daran seien die Juden und die anderen, die nicht in das neue Deutschland passten.
Daniel wurde an der „Sammelstelle“ der Gestapo abgeliefert und so behandelt wie einer, der 20 Reichsmark aus einer Ladenkasse gestohlen hatte, nicht freundlich, aber mit einer schmerzlosen Gleichgültigkeit. Das änderte sich am nächsten Tag, als er Rede und Antwort stehen sollte und die Herkunft des angeblich gefälschten Passes erklären musste. „Unverschämtheit!“ schrie der Verhör-Offizier ein um das andere Mal. Er stellte Fragen, wartete aber keine Antworten ab, sondern schlug dem Häftling jedesmal mit der flachen Hand auf die Ohren. Daniel stürzte. Er konzentrierte sich darauf, nicht in Ohnmacht zu fallen. Als er hochgerissen wurde, sah er, wie sich der Mund seines Peinigers bewegte, aber er hörte keine Stimme. Er war von Rauschen umgeben, als stünde er unter einem Wasserfall. Der Mann hob wieder seine Hand gegen ihn, Daniel deutete auf ein Ohr und sagte, ohne dass er es kontrollieren konnte: „Kann nicht hören.“ Man schlug ihn trotzdem. Er wachte in einer Zelle auf. Die Kälte hatte ihn geweckt. Um ihn herum drängten sich zehn, zwölf Personen. Seine Nachbarn redeten auf ihn ein, aber er hörte nichts, nur das Rauschen. Es rief das Bild eines schwarzen Meeres hervor, das kalte Wellen vor ihm auftürmt. Er schloss die Augen. Der Schmerz schoss durch seinen Kopf.
Tags darauf transportierte man sie in Wehrmachtautos zu einem stillgelegten Fabrikgelände, wo man sie hinter Stacheldraht in Baracken unterbrachte. Daniel fror. Er hatte vergessen, eine Jacke überzuziehen. Seine sieben Sachen waren auch verloren gegangen. Er wusste nicht, wie es weitergehen würde, er wusste nur, dass er es in diesem Zustand nicht lange aushalten konnte. Er stand in sich zurückgezogen, eingeigelt gegen den Schmerz und die Kälte, hinter seinen Armen versteckt, mit denen er sich selbst umklammerte. Nach der Helligkeit zu urteilen, war es ungefähr 9 Uhr. Kaffeezeit. Er dachte daran, dass jetzt im Büro von Gustav Hartkopf jemand Kaffee brühte.
Hartkopf mochte damals 40 Jahre alt gewesen sein. Jedenfalls sah er so aus, denn sein Gebaren ließ auf ein gesetztes Alter schließen. Der jahrelange Umgang mit Geschäftsleuten und Arbeitern, die alle etwas auf ihn gaben und ihm zuhörten, wenn er redete, hatte ihn zu einem selbstbewussten Mann gemacht, der sein Ego nicht hervorzukehren