Mombasa. Jürgen Jesinghaus
Ein Gewehrschuss ließ alle wie auf Kommando zusammenfahren. Ein scharfer Ruck fuhr durch die Gruppe vor dem Büro. Nichts war zu sehen, was auf einen Zusammenhang mit dem Knall deutete. Es war einen Augenblick lang ganz still. Dann erschien der Offizier auf der Bildfläche, katzenhaft gewandt, jederzeit bereit, sich zu ducken.
„Jemand hat auf uns geschossen!“
„Hier war alles ruhig, bis wir den Knall hörten. Er kam vom Baggerloch.“
„Gehen Sie weg vom Gelände, ins Büro! Wenn es derselbe Kerl von vorgestern ist: der scheint vor nichts Respekt zu haben.“
Der Offizier war sichtlich aufgeregt, immer zum Ducken bereit. Er drängte die Arbeiter und einige Polizeibeamte, die inzwischen eingetroffen waren, ins Haus. Bald erfuhren alle Polizisten, dass ihr Vorgesetzter nach dem Knall seinen Befehlsstand in Hartkopfs Büro verlegt hatte.
Pohlhaus war ein Mittvierziger, ein kleiner Mann mit immer rotem Kopf und wässrigen Augen zwischen leicht entzündlichen Lidern. Da stand er bierruhig am Rand des Baggerlochs und stierte in die Tiefe wie man ins Feuer starrt, mit derselben Gebanntheit. Die Suche nach dem Verbrecher regte ihn nicht auf. Irgend jemand fände ihn schon. Ich habe noch nie einen gefunden. Es ist zwecklos, dass ich mich an der Suche beteilige. Trotzdem wird er gefunden, alle werden gefunden. Ein feines trockenes Raschel-Rauschen störte ihn auf. Instinktiv drückte er seinen Karabiner fester und suchte die steile Flanke der Kiesgrube ab, gegenüber der Rampe für die Lastautos. Es rieselte, dann war alles still. Plötzlich schoss ein Etwas aus einem schwarzen Sandloch, das ein Bagger ausgebissen hatte, und sprang mehr als dass es lief die sandige Steilwand hinauf, bis zu der Stelle, wo der Ackerboden anfing. Dort überschlug es sich, der Abbruch war zu steil, und das Etwas, diese Blitzschlange, dieses Wiesel, rollte wieder hinab, eine Lawine aus Sand und Kieselsteinen hinterdrein. Das Kaninchen versuchte es immer wieder an derselben Stelle, mit einer verzweifelten Sturheit. Die Intelligenz des Menschen, der sich an diesen Kapriolen ergötzte, reichte aus, um den Augenblick abzupassen, wo sich das Tier wieder aufrappeln würde, um die Sandmauer abermals zu erstürmen. An diesem Punkt der Ruhe, am Tiefpunkt des Falls, drückte Pohlhaus ab. Das Kaninchen war wie verzaubert, hinweggehoben über sich hinaus. Zurückgelassen hatte es nur ein Stückchen Fell und ein paar Tropfen Blut.
Pohlhaus behauptete, wie alle anderen, niemand habe auf ihn geschossen. Er behauptete aber auch, dass er keinen Schuss gehört habe, aus dem er hätte folgern können, dass jemand auf ihn schieße.
„Sie haben nichts gehört, Mann? Wo waren Sie denn?“
Während Pohlhaus mit dem Arm in die Richtung des Baggerlochs wies, dämmerte ihm, dass er in der Scheiße saß. Seinen eigenen Schuss hatte er ja nicht mitgezählt! Aber selbst seinem trägen Verstand erschloss sich nun die bittere Erkenntnis, dass der Schuss auf das Kaninchen, dieser Meisterschuss, für die ganze Aufregung sorgte.
„Ich habe nämlich auch geschossen“, begann der Schütze kleinlaut.
„Er hat auch geschossen! Sie Rindvieh, Sie alleine haben geschossen, auf wen, wenn ich bitten darf!“
Der Offizier sah sich außer Lebensgefahr und spielte die Rolle des Mannes, der die Lage beherrscht.
„Es hat sich dort etwas bewegt.“
„Es hat sich was bewegt! Und da schießen Sie mir nichts dir nichts? Mann, sind Sie sicher, dass es nicht Ihre Mutter war, der Sie ein Loch in den Arsch gebrannt haben? Den Bericht über Ihre Munitionsverschwendung schreiben Sie selbst, haben Sie verstanden? Und zwar so, dass ich meine Unterschrift ruhigen Gewissens darunter setzen kann. Alle Mann raus hier und aufsitzen!“
Die Suchaktion wurde vorzeitig beendet. Der beschämende Zwischenfall hatte dem Offizier die Fortsetzung verleidet. So rettete ein Kaninchen durch das Opfer seines Lebens Urbanski und Spielstein. Denn bis in die Schlosserei war die Suchmannschaft schon gedrungen, als der Schuss sie hinaustrieb.
Es fanden keine weiteren Aktionen statt. Während der Beisetzung von Masrat hatte es zwar großes Getöse gegeben: Im Dienste der Sache, Opfer der Bewegung - alles ausführlich behandelt in einer Beilage der Regionalpresse. Aber bald geriet die Sache in Vergessenheit. Sie verschwand jedenfalls aus dem öffentlichen Bewusstsein. Hartkopf erfuhr allerdings, was zur raschen Einstellung der Suchaktion geführt hatte, als er zwecks Aufbesserung der „Courtage“ mit von Grein verhandeln musste.
„Sie haben Glück gehabt. Normalerweise hätten wir Ihre Fabrik auf den Kopf gestellt. Unsere Jungs sind nicht so blöd wie die Polizei. Aber ich wollte unsere Geschäftsbeziehungen nicht stören. Wir haben auch keine Staatsaktion daraus gemacht, weil dieser saubere PG, den sich ein gehörnter Ehemann aufs Korn genommen hat, das ist jetzt die inoffizielle Version, anfing, uns lästig zu werden. Sein Verhalten war parteischädigend. Die Weiber vom Puff, die er an Wochenenden besuchte, rannten uns die Türen ein. Der feine Herr hatte vergessen zu zahlen. Ohne Uniform ist der Respekt dahin, und die Weiber haben dann keinen Sinn für die Ehre, unter solchen Herren zu dienen, wie Masrat einer war. Und noch eins: Uns lag auch nichts an der Verbreitung, Bolschewisten oder Juden, horribile dictu, hätten Masrat umgelegt. Das hätte so ausgesehen, als gäbe es Widerstandsnester, vielleicht sogar aufständische Juden, ein Massada in Oplyr, nicht auszudenken. Wir wollen das auf sich beruhen lassen. Aber ich rate Ihnen, auf Ihre polnischen Gäste ein Auge zu werfen. Sorgen Sie dafür, dass sie nicht auffallen. Und der eine, der zur fraglichen Zeit nicht da war, bleibt am besten verschwunden. Es wimmelt von Polizisten, die sich was anstecken wollen. Eine Mordakte wird nie geschlossen. Sie ruht, aber geschlossen? Darauf dürfen Sie nicht bauen!“
Diese Gesprächigkeit überraschte Hartkopf. Er nahm sich vor, das Gehörte nach Hinweisen abzusuchen, die nützlich sein könnten. Am Ende ist Masrat von den eigenen Leuten umgelegt worden? Hartkopf lebte in der gefährlichen Nähe von Personen, denen der Tod oder das Verschwinden eines Menschen nicht viel ausmachte.
9.
Als Sozialist verachtete Fritz Radebusch die Kirche, aber er besaß eine übertriebene Vorstellung von ihrer Moralität, von ihrem Gebot zur Nächstenliebe, das einzuhalten sie nur zu schwach sei. Insgeheim aber wies er ihr die Aufgabe zu, die sie vielleicht in den Anfängen wahrgenommen hatte: zu helfen, wo Not am Menschen ist. Wie dem auch sei. Man erzählte sich nach dem Krieg (wobei sich ein Informant auf den anderen berief), Radebusch, nicht Hartkopf, habe den Anstoß gegeben, nur um zu beweisen, dass Kleriker nicht täten, was ihre Pflicht ist: nämlich Urbanski, den polnischen Katholiken, zu verstecken und unbeschädigt über den Krieg zu bringen.
Der Abt war ein junger Mann. Die Leute in Oplyr, die an hohen Festtagen die Gottesdienste des Klosters Weiberberg besuchten, hielten ihn für vierzig, obwohl das Ornat, das er bei solchen Gelegenheiten trug, die Altersschätzung erschwerte. Der Pfarrer des Ortes wollte wissen, der Abt habe nicht nur Theologie und die beiden Rechte studiert, sondern auch Volks- und Betriebswirtschaftslehre, was ihn vor den anderen Mönchen auszeichne, ein angesehenes Kloster zu leiten. Gustav Hartkopf hatte sich im Ort nach den Eigenschaften des Mannes erkundigt und nie eine andere Information erhalten, als dass er gescheit sei und mit Geld umzugehen verstehe. Das beruhigte Hartkopf. Wirtschaftswissenschaften sind reell, handfester als das fromme Gesülze. So traten er und Radebusch dem Gedanken näher, wegen Urbanski mit dem Kloster zu sprechen.
Das Nächstliegende wäre, sich dem Pfarrer anzuvertrauen und ihn zu bitten, den Kontakt zum Kloster herzustellen. Radebusch riet davon ab: Der Pfarrer habe zu oft unter Hakenkreuzen posiert. Er sei eine Schaltstelle des Tratsches, außerdem habe er bei der Verschleppung Jabotinskys und Doktor Schöns nichts zu ihrer Hilfe unternommen. Mit dem Kloster zu telefonieren, erschien ihnen zu gefährlich. Es war nicht ausgeschlossen, dass alle Telefonate überwacht wurden. Es war auch nicht ausgeschlossen, dass man das Kloster bespitzelte. Viele Personen kamen als Spitzel in Betracht. Sie würden unentgeltlich denunzieren, nur um sich als treue Volksgenossen zu erweisen. Wie also den Kontakt aufnehmen mit einem Mann, der Ökonomie studiert hatte und von Amts wegen (wahrscheinlich) kein Nazi war? Aber sind denn die Männer der Wirtschaft immun gegen das „Braunfieber“? Es gab ja unter ihnen genug willfährige. Das Großkapital hatte schließlich diesem Gefreiten an die Macht verholfen (so