Mombasa. Jürgen Jesinghaus
Daniel Spielstein, gehen Sie bitte von den Gleisen! Das ist heute ein strategischer Punkt! Ihre Artgenossen brauchen Sie bei der Eisenbahn gar nicht mehr zu suchen. Da gibt es nicht mehr zu suchen! Die Zeiten haben sich geändert, und wir reden Sie mit ‚Sie‘ an. Das sollte Ihnen doch genügen, unseren Weisungen Folge zu leisten! Die Züge in den Osten waren auch aus Bonn abgefahren und in Auschwitz angekommen. Gewiss, Daniel Spielstein, einige fahren noch, bringen aber Kohle an die Rheinhäfen, fahren Schrott in die Hütten, transportieren Knochen aus den Schlachthöfen in die Seifenfabriken. Und einige stehen noch heute auf den verlassenen Stichgleisen zwischen Schrebergärten und Nadelwald, verfaulen im Regen, zerblättern unter der Sonne oder stehen vergessen an den Kais und werden vom Wind zerfressen.
Daniel spürte es nur an dem ungewohnten Luftzug. Die Türe war aufgerissen worden. Als er sich umdrehte, standen zwei junge Männer vor ihm, in schwarzes Lederzeug gekleidet, behängt mit Symbolen. Die Köpfe waren geschoren. Die Füße staken in Armeestiefeln. Aber sie hatten keine Pistolen. Niemand richtete einen Lauf auf ihn. Und sie schienen auch nicht zu wollen, dass er sofort seine Sachen packte und die Wohnung mit ihnen verließe. Sie bewegten sich zwanglos in dem Zimmer und redeten auf ihn ein. Auch das Mädchen, das sich im Dunkel des Flurs aufgehalten hatte, war hereingekommen und schaute sich um.
„Ich dachte, der Laden ist unbewohnt. Würde uns gefallen. Könnten wir gut gebrauchen. Was wir gar nicht gebrauchen können, bist du, kannst du hier nicht verschwinden?“
Sie redeten ihn mit ‚Du‘ an. Er musste ihren Weisungen keine Folge leisten. Sie haben ja nur gefragt, ob ich nicht verschwinden könne, sie haben es mir nicht befohlen. Gute Kinder. Einer stieß ihn mit dem Zeigefinger gegen das Brustbein und schaute ihn herausfordernd an mit dem blankgeputzten Blick eines Hundes. Daniel erklärte, dass er nicht gut hören könne, weil man ihn geschlagen hatte.
„Du musst uns bei Gelegenheit mal sagen, wer dich geschlagen hat, Opa, den nehmen wir auseinander. Den kaufen wir uns, dazu sind wir nämlich da. Lass mal Geld rüberwachsen. Kies, kapiert? Kies!“
Daniel ging zu seinem Schrank und holte eine Tabakbüchse aus Blech hervor. Sie war durch pressende Männerfinger ausgebeult worden. Sie zeigte ein wehendes Flaggenband: Schiffergruß, darunter einen weißgekleideten Mann mit Schiffermütze vor dem blauen Meer. Drei weiße Pfeile oder Ausrufezeichen, die hintereinander aufgereiht einer Regatta von Segelschiffchen gleichen. Der weißgekleidete Mann hält eine Büchse in der Hand, auf der ein weißgekleideter Mann zu sehen ist, der eine Büchse in der Hand hält, auf der ein weißgekleideter Mann zu sehen ist, der eine Büchse in der Hand hält, auf der ein … Die Büchse mit dem blauweißen Signet war so alt wie Daniel. Darum sagte er:
„Die Büchse könnt Ihr mir lassen, sie ist so alt wie ich. Sie gehörte meinem Vater.“
Einer riss ihm die Büchse aus der Hand, öffnete sie und holte einen Zwanziger und einen Zehner heraus. Dann warf er sie achtlos von sich. Gerade wollte er das Papiergeld in die Brusttasche stopfen, als die junge Frau es ihm aus der Hand riss.
„Arschloch, lass ihm sein Geld!“
Sie fing sich eine schallende Ohrfeige und schrie in ihrer Empörung darüber.
„Von Sven ja, von dir nicht. Von dem lass ich mir sogar einen reinschieben, von dir nicht. Spielt sich vor dem Opa auf! Eine starke Nummer. Weißt du, Opa, dass er Anstreicher ist? Aber spielt sich hier auf! Du schlägst mich nie wieder, hörst du! Ich lass mich von meinem Alten nicht schlagen, und von dir schon gar nicht.“
Der eine stieß sie weg (halt die Schnauze), der andere hielt Dan am Oberarm fest und sah ihn an.
„Wir verlassen dich jetzt. Hat uns sehr gefreut. Wir sehen mal nach dir. Für heute, so long.“
Die jungen Männer verließen die Wohnung. Das Mädchen hob die heruntergefallenen Scheine auf, knallte wortlos den Zwanziger auf Daniels Küchentisch und steckte den Zehner in die Hosentasche. Sie verließ grußlos den Raum, kam aber wieder zurück, fingerte den Schein aus der Tasche und warf ihn in das Zimmer, so dass er niederflatterte und nahe der Büchse den Fußboden berührte und leicht auflag, als hielte es ihn dort nicht lange, jederzeit bereit, wieder fortzufliegen. Die junge Frau trat ganz herein – die Tür stand noch offen – ließ sich auf Daniels einzigen Stuhl fallen und fing an zu schluchzen. Daniel war in Verlegenheit und wusste nicht, was zu tun. Er konnte nicht einmal entscheiden, ob sie ihm etwas vorspielte, ob das alles Teil eines Schabernacks war, an dem sie auf seine Kosten einen Gefallen hatten. Sollten sie sich über ihn lustig machen! Was lag ihm daran. Er ging zu ihr und legte seine Hand auf die Farbmasse ihrer Haare. „Ich habe es überlebt, Kleines.“
Sie sprang auf und lief hinaus. Daniel zuckte die Schultern. Ein Jux war es wohl nicht. Was verstehe ich von diesen Kindern und ihren Problemen. Er bückte sich nach der Büchse, griff sie umständlich, ging zur Tür und rief auf gut Glück:
„Hallo, nimm sie mit!“
Er horchte aus Gewohnheit in das Treppenhaus. Wie sie heißen mag? „Wie heißen Sie, wie heißen Sie, darf ich Ihren Namen erfahren, kleines Frollein?“ Wie in einem Rausch rief er: „Wie heißen Sie? Die Büchse können Sie haben. Ich schenke sie Ihnen.“ Er hatte seine Tür abgeschlossen und begann, für sich zu singen, erlöst von dem Schrecken dieser Begegnung, die er nicht einordnen konnte. Dann sang er, unhörbar, in der Art von Opernarien: ‚Wie heißen Sie, nennen Sie mir Ihren Namen, Ihren Na-hamen, und weinen Sie nicht. Das Leben ist der schönsten eines. Tralalala. Que vuolo ballare, Signora Contessa. Die zehn Mark, die zehn Mark dürfen Sie behaal-ten.‘ Als ihm bewusst wurde, dass man ihn sogar auf der Straße hören musste (er maß es an der Kraft, mit der er seine Stimme herauspresste), beendete er seine Vorstellung, nahm die Scheine, stopfte sie in die Büchse zurück und stellte sie in den Küchenschrank. Du musst hier ausziehen. Du bist nicht mehr sicher. Ich bin zu alt, um mit einem Mädchen zusammenzuwohnen oder eine WG mit drei anderen zu gründen.
Er wusste diesen Vorfall zwar nicht einzuordnen, aber er fand ihn auch nicht schockierend, nicht so, als hätte er ihn auf eine Welt gestoßen, die ihm bis dahin unbekannt geblieben wäre. Es kam ihm bekannt vor, nicht vertraut, aber doch vorhersehbar. Seinesgleichen rechnete mit so etwas. Er war immer auf dem Sprung, wähnte sich beobachtet, bedroht. Er fühlte Gewehre auf sich gerichtet oder Gewehrkolben gegen ihn erhoben. Er hatte sich daran gewöhnt. Manchmal war es ihm lästig. Er konnte sich dann auf nichts anderes konzentrieren als auf einen Hieb, der ihn von den Füßen reißt. Dann würde sein Mund überquillen, und er müsste sein Blut wie heißen Kaffee herauslaufen lassen. Wenn ich so da liege, kurz vor dem Abkratzen, welches Gesicht wird es sein, das ich mir einprägen würde und hinübernähme? Angewidert oder gleichgültig? Polizei? Krankenpfleger? Jemand, der sich sorgt? Um dich? Dan! Das wird ein verdammt wichtiges Gesicht. Vor dem Gesicht habe ich Angst, mehr noch als vor dem Schlag und dem überquellenden Mund. Ein Hundegesicht? Ein Schafsgesicht!
Nahe dem Anlegepunkt der Mondorfer Fähre auf dem schmalen Streifen Wiese zwischen den Pappeln am Radweg und den Büschen am Kiesufer, in denen die Einkaufstüten und die Kunstdüngersäcke wie Fahnen wehen, war er eingeschlafen, leichtsinnigerweise, gefährlich für einen Mann seines Alters. Beim Aufwachen schaute er unvermittelt in ein Schafsgesicht, in das Antlitz eines Schafbocks, in das forschende, ganz und gar aufnehmende, von keinem Vorurteil entstellte Gesicht eines Schafs. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals eine so vertraute Nähe zu einem Tier erlebt zu haben, jemals eine so unbedingte Nähe zu irgendeinem anderen Lebewesen. Wohltuend aus dem Bauch heraus perlte es in ihm, und er schien einen Augenblick die Wahl zwischen Weinen und Lachen zu haben. Er lachte, fast so wie 1945, als sie über den jüdischen Indianer gesprochen hatten, als sie überglücklich gewesen waren. Gott hat nicht so gelacht am siebten Tag, denn er hatte noch so vieles zu bedenken (und schon damals quälten ihn böse Ahnungen). Aber Daniel lachte, und das war der Ausdruck völliger Übereinstimmung mit dem Schafbock und sich selbst. Er hatte an beiden nichts auszusetzen, und ihm schien diese kleine Welt, angefüllt mit dem Schaf und den Pappeln und den Wolken darüber, gelungen. Der Bock wandte sich ab, nicht überstürzt, sondern nachsichtig und zufrieden. Ach, dieses herrliche Antlitz. Wenn es ein Schaf wäre – oder wenigstens eine Katze. Einmal würde es ihn erwischen, in dem Augenblick, wo der Druckpunkt erreicht ist und der Luftzug