Mombasa. Jürgen Jesinghaus

Mombasa - Jürgen Jesinghaus


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      „Haben Sie das von Ihrem Platz aus sehen können?“

      „Nein. Meine Augen sind zu schwach, aber das Kind sagt, es ist der Teufel. Wir wissen es zwar nicht, aber die Kinder sagen es. Ich glaube es eigentlich nicht, denn ein Teufel gehört nicht in die Kirche.“

      Ellen bat den Pfarrer darauf zu achten, dass beim Abbruch das Fensterglas im Nordosten nicht beschädigt werde, es könne wertvoll sein.

      „Es ist leider zerborsten, aber wir glauben nicht, dass es wertvoll gewesen ist, sehen Sie, es hält keinen Vergleich mit den Fenstern von Chartres aus, nicht wahr, das haben Sie auch nicht erwartet. Ich glaube vielmehr, die Arbeiter haben Zielwerfen geübt. So etwas lässt sich kaum vermeiden. Die meisten Fensterflächen waren nicht zu gebrauchen und völlig ohne Wert. Völlig.“

      „Es sollen noch Figuren erkennbar gewesen sein?“

      „Ja, die Kinder glauben, in einer Figur den Teufel erkannt zu haben. Sehen Sie, um so besser, dass die Fenster entzwei sind. Nun, es war gewiss der gehörnte Moses, der den Alten Bund symbolisiert. Die Hörner verdankt er einem Übersetzungsfehler. Wie Sie wissen, hat ein Mönch vor vielen hundert Jahren das lateinische Wort coronata zu cornuta verfälscht, und seitdem gefallen sich die Künstler darin, Moses mit Hörnern darzustellen, und der unsrige hatte geradezu ein Geweih auf dem Schädel, so dass einige Herren früher in ihm den heiligen Hubertus zu erkennen meinten, der ihnen den Jagdschein entgegenhält. Das sollte ein kleiner Scherz gewesen sein.“

      Nachdem Holz, Steine und alles Eisen fortgeräumt worden waren, wurde die klaffende Öffnung in der Nordseite des Turms zugemauert - in einem Halbkreis, der den Eindruck hervorrief, als hätte sich der Chor dicht an den Turm geschmiegt. Als dieses Werk des Kirchenbaus vollbracht war, wurde der lehmige Untergrund, auf dem das Schiff gestanden hatte, aufgekratzt und abgetragen, mit Sand gefüllt, zubetoniert und asphaltiert. Wochen später malten Anstreicher mit blütenweißer Farbe ein Gitternetz auf die Fläche, zogen einen Gitterdraht und schnitten eine Öffnung hinein, groß genug für Autos. Jetzt erst, nachdem das große ‚P‘ auf dem Schild die Bestimmung des Ortes enthüllte, trauten sich die Autofahrer ihre Autos dort zu parken, wo einige von ihnen noch die heilige Kommunion empfangen hatten, und heute der Parkplatz Nr. 8 ein wichtiges wirtschaftliches und kulturelles Bedürfnis in Oplyr befriedigt.

      Nur der Turm des Baumeisters Adam Rüppel blieb also erhalten. Kies und Beton der neuen Kirche stammte aus dem Hartkopfschen Werk. Daniel Spielstein, der nicht mehr in seiner Löwengrube hausen musste, sondern in einem Gebäude der ehemaligen Reichsbahn, der heutigen Bundesbahn, Daniel, der wieder oder immer noch bei Gustav Hartkopf arbeitete, hatte alle Fuhren koordiniert, die Einnahmen verbucht, Steuererklärungen gemacht, mit einem Wort: die Büroarbeiten verrichtet. Ihm durfte man sie nicht zur Last legen - die Katastrophe. Am Freitag (einem 8. nebenbei bemerkt) um 17 Uhr 3 brach der Baldachin aus Beton über dem Portal der neuen Kirche herunter und verteilte sich so auf dem Vorplatz, dass der Pfarrer nur mit Mühe seine Kirche durch den Haupteingang betreten konnte. Niemandem war etwas passiert. Das Architekten-Konsortium wusste sich fein herauszureden. Die Betonkonstruktion „als solche“ (als Konstruktionsprinzip) sei bewährt, sogar Architekten der Ostzone, der sogenannten DDR, beherrschten diese Technik. Der Einsturz könne auch nicht durch Depassivierung verursacht worden sein, Kohlendioxid oder Chlorid-Ionen dürften nicht haftbar gemacht werden, denn die Kirche sei nicht einmal konsekriert worden.

      „Was für eine Logik“, Gustav Hartkopf tobte, „ich mache keine Chlorid-Ionen haftbar, ich mache diese Architekten haftbar! Idioten! Nicht konsekriert! Stürzen nur konsekrierte Kirchen ein? Das Bonner Münster steht heute noch! Das waren wenigstens noch Architekten. Die kannten ihr Material!“

      Trotzdem, man schob es auf den Kies, den Grundstoff, denn für Korrosion sei noch gar keine Zeit gewesen. Seinen Ruf in der Baldachin-Affäre konnte Hartkopf allerdings dadurch retten, dass er zweimal vor der Presse und einmal vor einem Ratsausschuss die markigen Sätze formulierte: „Oplyrscher Kies ist Qualitätsware“ und: „Ich selbst stamme aus dem Grund und Boden der Heimat.“ Daniel war milde verärgert darüber: „Die Presse wird uns vorwerfen, den Grund und Boden der Heimat jahrzehntelang verkauft zu haben. Du stehst mit deinem Nazi-Spruch bescheuert da, und sie sagen dir glatt: Kein Wunder, dass der Kirchen-Baldachin einstürzt.“ Hartkopf darauf: „Der ganze Quatsch kotzt mich an, ich verkaufe.“ Die Öffentlichkeit Oplyrs registrierte das stolze Bekenntnis Hartkopfs zur steinigen Silizium-Heimat mit Wohlwollen, und fortan wurde nach anderen Ursachen für die Katastrophe am Kirchenneubau gefahndet. Und erst als sich die Gerüchte von einem Gottesurteil häuften und der stellvertretende Stadtdirektor selbst die Möglichkeit eines warnenden Fingerzeigs Gottes nicht ausschließen mochte, da sagte Ellen Finke zu ihrer Mutter: „Sie haben den Schuldigen und müssen ihn decken“. Die halbherzige Rehabilitation Hartkopfs änderte nichts an dem Plan, das Kieswerk zu verkaufen. Es gab nämlich auch andere Gründe dafür.

      13.

      „Der Hagel ist auf einer zehn Kilometer breiten Front dreißig Kilometer vorgedrungen.“ Der Generalmajor des Wehrbereichs III stand neben dem Minister für Raumordnung in dem zerstörten Gewächshaus, spreizte die Finger beider Hände und schob die Arme nach vorn, um die Bewegung des Feindes zu beschreiben. Der mit Glas verseuchte Humus und die zermalmten Stiefmütterchen unter den zerborstenen Scheiben dienten dem Offizier als Modell des Terrains, über das der Feind avancierte. Neben dem Minister, dessen Gesicht feierlichen Ernst ausdrückte, stand der Vorsitzende des Zentralmarktes (zugleich Sprecher des Krisenstabes) und hielt einen Regenschirm hoch, um den Minister, wie er später gegenüber Journalisten äußerte, vor herabfallendem Glas zu schützen.

      „Herr Minister, das Artilleriebataillon in Meschenich kann zur Schadensbekämpfung abkommandiert werden. Der Krisenstab hat die Frage aufgeworfen, ob der Humusboden entseucht werden kann oder deponiert werden muss. Für beide Aufgaben stehen unsere Männer zur Verfügung.“ Der Minister nickte sehr lange, als bildete sich dadurch in seinem Kopf das Kaleidoskop einer ausgewogenen Antwort. Endlich erwiderte er:

      „Das wird sicherlich eine willkommene Hilfe sein, ich danke Ihnen, General.“ Dass er nur ‚General‘ sagte und nicht Herr General, gab der Antwort etwas Entschiedenes, das die Anwesenden innerlich straffte und jeden für sich auf einen verantwortlichen Posten stellte. Der Minister wandte sich nun an den Sprecher des Krisenstabes. Einen Vorsitzenden hatte der Krisenstab nicht gewählt, sondern erwartet, der Minister selbst würde spontan den Vorsitz übernehmen, und gehofft, auf diese Weise das Ansehen von Kabinettsmitgliedern zu erlangen. Das hätte ihnen geholfen, auf die wütenden Anrufe der Bauern gelassen zu reagieren, zum Beispiel so: Der Minister und ich haben das und das in die Wege geleitet, die Bundeswehr mobil gemacht und Gelder organisiert. Der Sprecher begann:

      „Herr Minister, ich würde vorschlagen, diesen Ort der Verwüstung zu verlassen und sich ins Freie zu begeben. Der Aufenthalt in diesen Räumlichkeiten ist nicht ungefährlich, obwohl ich die Entfernung der Scheiben bereits in die Wege geleitet habe.“ Der Minister nickte freundlich und schritt vorsichtig zur Tür, deren Scheiben noch intakt waren, und trat ins Freie. Hier setzte der Sprecher, der auch draußen den Schirm aufgespannt hielt, seinen Bericht fort. Schon einen Tag nach der Unwetterkatastrophe sei der Krisenstab zusammengetreten und habe ein Büro im Gebäude der Zentralmarktgenossenschaft eingerichtet. Er zählte die Mitglieder des Krisenstabes auf: Seine Wenigkeit, der Geschäftsführer, der Präsident des Landesverbandes Gartenbau, der Vorsitzende des Provinzialverbandes Rheinischer Obst- und Gemüsebauern, der Vorsitzende der Landesfachgruppe Gemüse im Provinzialverband, der Vorsitzende der Landesfachgruppe Obst, der Präsident des Landwirtschaftsverbandes Rheinland, der Direktor der Landschaftskammer …

      Der Minister nahm einen verklärten Ausdruck an. Plötzlich, vor Ende der Aufzählung, sagte er leise: „Eine großartige Leistung.“ Der Sprecher pausierte in der Hoffnung, der Minister werde jetzt die Gelegenheit ergreifen, etwas über Regierungshilfen zu verlautbaren. Der Minister machte aber keine Anstalten und blickte ihm aufmunternd in die Augen. Der Sprecher fuhr daher fort:

      „Der Krisenstab hat alle Anstrengungen unternommen, einen Überblick über das Ausmaß der Schäden zu erlangen. Eine erste Bilanzierung ergibt das folgende Ergebnis, wenn ich Ihnen die


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