Mombasa. Jürgen Jesinghaus

Mombasa - Jürgen Jesinghaus


Скачать книгу
aus dem Büro. Ein paar davon kann dein Mann entbehren, nicht wahr? Meine Tochter wohnt nämlich in meinem Haus, zusammen mit ihrem Mann. Der Mann arbeitet im Büro, lieber im Büro als draußen. Ich war früher immer draußen, und meine Frau, die gestorben ist, war immer im Büro.“

      Die Tochter stand mit eingestemmten Armen da und schüttelte wieder den Kopf.

      „Wollt Ihr euch gegenseitig Rechnungen schreiben?“

      Nach einer Zeit, während der Alte auf Daniel einredete, und Daniel seiner Gewohnheit entsprechend zuzuhören schien, um nicht unhöflich zu wirken, brachte die Frau einen Block Rechnungen und zwei Bleistifte.

      „Trinkt euren Kaffee und amüsiert euch gut“, rief sie und verließ das Zimmer. Die Männer schrieben sich gegenseitig, wie schwerhörig sie seien und welche Last es mit sich bringe. Aber Daniel schrieb nicht, wie seine Schwerhörigkeit entstanden war.

      Daniel nahm einen anderen Weg zum Beth Olam, nicht mehr an der Gärtnerei vorbei. Er wollte nicht noch einmal aufgehalten werden (obwohl sich Geschichte nicht wiederholt). Der jüdische Friedhof liegt am Ende einer natürlichen Rinne, die vom Vorbergsplateau etwa 150 m abwärts zieht und schräg auf den Fußweg stößt. Ab und zu ein Bauer, manchmal ein auswärtiger Wanderer. Ein schmiedeeisernes Gitter, kaum menschenhoch, umschließt ein schiefes Viereck, dessen große Seite parallel zum Fußweg verläuft. Das Tor ist angelehnt. Daneben, noch diesseits im Profanen, steht die Eiche. Keine Bank. Jenseits breitet sich bemooster Rasen aus. In ihm stecken Steine, mosaische Doppeltafeln. Die hebräischen Schriftzeichen sind verwaschen, an einigen Stellen aus dem Sandstein gebröckelt. Der Friedhof hatte seine Zeit um die Jahrhundertwende. Die Toten heißen Marx, Cossmann, Sander. Nur ein Stein ist nach dem Holocaust gesetzt worden für eine Frau, die am letzten Tag des Jahres 1945 an den Nachwirkungen der Lagerhaft gestorben war. Der Stein lässt das Deutsche aus (verworfen, untauglich): In memoriam Rosalie Sander, née Marx, who died of persecution. Daniel hatte den Friedhof vor der Nazizeit einmal besucht, aus Neugier und Stolz (jüdisches Gebiet im Bauernland). Die Eiche war um die Jahrhundertwende vom Kriegerverein gestiftet worden, zum Andenken an die 1866 und 1870/71 Gefallenen jüdischen Glaubens. Daniel wusste es aus den Erzählungen seines Lehrers. Damals hatten sie geglaubt (nicht nur gehofft), gleichberechtigte Nachbarn unter aufgeklärten Christen zu sein, im Großen und Ganzen wenigstens. Über den feierlichen Akt der Pflanzung ist in den Archiven nichts mehr zu finden. Wenn es jemals Urkunden oder Bilder gegeben hat, sind sie vernichtet worden.

      Daniel hatte bis jetzt nie den Mut besessen, das Stück Erde aufzusuchen, in der auch seine Mutter, Beate Spielstein, ruht (es hatte zu keinem Stein gereicht). Vermutlich war die Beerdigung seiner Mutter die letzte vor dem Holocaust gewesen. Er hatte Angst, dass die Stätte unter den Pflug gekommen oder zu einem buchsbaumumsäumten Aussichtspunkt umgewidmet und längst in den Besitz der Gemeinde geraten wäre. Als er sich dann endlich aufgerafft und nach einigem Suchen den Ort gefunden hatte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Alles lag unangetastet da, kein Grabmal war zerborsten, zerkratzt oder übermalt. Vielleicht hatte man die zerstörten Steine entfernt, um Spuren der Mitschuld zu verwischen. Der Ort lag so unbeachtet, als wäre er verwunschen, geächtet oder verflucht. Es schien, als hätte er die Nazizeit unberührt überstanden. Daniel schloss gerne daraus, dass die Leute hier nicht fanatisch waren, dass sie keinen Juden totschlagen würden. Er neigte dazu, die Verantwortung am Tod der Oplyrer Juden den Funktionären aus Bonn zu geben. Er wusste auch, dass solche Illusionen gefährlich sind. Daniel erschrak, als er die Kieselsteine auf den mosaischen Tafeln entdeckte. Es gab also noch jemanden, der Beth Olam aufsuchte. Undenkbar, dass die Kiesel auf den Stelen noch aus der Vorkriegszeit herrührten. Als Daniel beim Hinausgehen das Tor aufdrückte, sah er die alte Frau. Sie blickte ihn misstrauisch an. Er fühlte sich eingeschätzt wie ein Landstreicher. Um sich nicht fortstehlen zu müssen, fragte er die Dame, wer die Steine auf die Grabmale gelegt habe.

      „Die Kinder waren es nicht.“

      „Die Kinder?“

      „Nicht!“

      12.

      Wer sich an die Pfadfinder-Regel hält, nämlich dass Kirchen durch die Ausrichtung ihrer irdischen Hülle der Orientierung des Menschen dienen, der irrt sich hier: Der Chor zeigt nach Norden. Und die Bäume im nahegelegenen Park des Greinschen Hotels verhalten sich neutral: Das Moos bevorzugt keine Richtung. Der Westen ist verstellt durch den Vorberg, in dessen Schatten die Buchen groß geworden sind. Auf den Kompass-Lattich, der zwischen Kirchenchor und Nachbargrundstück wächst, ist auch kein Verlass. Er zeigt, wohin er will, und wer sich im anvertraut, hat auf Gott gebaut. Die Pfadfinder haben es ohnehin schwer, in dieser Gegend jeden Tag eine gute Tat zu vollbringen, um die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen, denn die Tragödien spielen sich im Verborgenen ab, im Rücken der Gartenzwerge, vor geblümten Tapeten. Bettler gibt es nicht. Die rüstigen Alten finden allein über die Straße. Für die anderen Alten („unsere lieben Alten“) sorgt der Pfarrer persönlich. Und die Arbeitslosen wenden sich an die Bundesanstalt. So ist das hier (oder so war es). Dass bei der alten Sebastiankirche in Oplyr die wegweisende Regel verletzt wurde und der Chor dem Sonnenaufgang seine Reverenz versagte, liegt an den Eigentumsverhältnissen im alten Ortskern. Das rechteckige Grundstück grenzt mit seiner Längsseite an die Heerstraße entlang dem Vorberg und mit der kurzen Seite an die Querstraße, die hinter der Kreuzung steil bis auf die halbe Höhe des Vorbergs führt. Neben dem gittereisernen Portal zum Greinschen Hotel flacht die Straße ab und streicht in Richtung des Vorbergs, als wäre der direkte Anstieg selbst für eine Straße auf Dauer zu anstrengend, als bedürfte sie einer Verschnaufpause, bevor sie an der Wirtschaft „Alt-Oplyr“ das letzte Stück bis zum Rand des Hochplateaus zurücklegt und von hier oben einen Blick über die Bäume des Hotelparks und über den Turm der sich regelwidrig verhaltenden Kirche hinweg ins Rheintal freigibt. Von hier erkennt man gut das Hartkopfsche Grundstück, die gelben, angerosteten Türme des Kieswerks, die wie Dosen am Rande des Anglerparadieses stehen, dessen Wasserflächen wie Stecknadelköpfe blinken. Der Strom verdunstet unter dem körnigen Mittagslicht.

      Der Pfarrer stand im Durchgang zwischen Narthex und Schiff, an dessen linker Wand deutlich ein Riss zu erkennen war. Von der Empore aus hätte jemand seine Hand bis zu den Ballen hineinstecken, die Kälte und den Zug spüren können. Dieser Riss, so hieß es, ließ sich nicht mehr stopfen. Seinetwegen müsse das Schiff der Sebastiankirche abgebrochen werden. Dieser eine Riss hatte den Wunsch aufkommen lassen, nach weiteren Rissen zu suchen, und es waren im feinen Netz des zersprungenen Putzes Linien entdeckt worden, die schwärzer als die anderen gezeichnet waren, als wäre ein Blitz, von der Feuchtigkeit der Wände angezogen, hinter dem Verputz zwischen den Fugen von Stein zu Stein springend in den Erdboden gefahren – als Zeichen drohenden Verfalls, ja (der Pfarrer wusste es so hinzustellen) als Zeichen drohenden Unheils. Der hochwürdige Herr trug einen Trenchcoat, seine Linke stak in der Tasche, mit der rechten Hand wies er zwei Arbeiter an, das Kruzifix im Chor abzumontieren, ein Eichenkreuz, mannshoch und braun gestrichen, mit kleeblättrigen Enden. An ihm hing ein Holz-Christus und bot sein Leiden dar. Der Pfarrer wollte es in der neuen Kirche wieder aufrichten lassen. Das Kreuz war in einem Sandsteinsockel verankert. An den Schrauben hatte seit achtzig Jahren keiner mehr gedreht. Die Schlüssel passten nicht. Sie zerquetschten die Schraubenköpfe. Der Arbeiter im blauen Overall presste zweimal „verdammt“ aus sich heraus, ließ den Schlüssel fallen, erhob sich, griff in die Tasche, riss ein Tuch hervor und presste es auf die Knöchel seiner Hand, die, ein Opfer falscher Berechnung und der eigenen unbändigen Kraft, gegen eine Kante des achteckigen Sockels aufgeschlagen war. Er stopfte das Tuch zurück und steckte die Knöchel in den Mund, um den Schmerz durch Lutschen zu beruhigen und die blutige Haut seinem Blick zu entziehen. Er rief etwas, was der Pfarrer nicht verstand.

      „Was sagen Sie, nichts geht?“

      „Verdammt, der Schlüssel passt nicht. Keiner weiß, wo die Schraube aufhört und der Stein anfängt. Alles fest zusammengebacken, Eisen, Holzdübel und Stein. Nichts zu machen.“

      „Wieviel Schrauben sind es denn?“

      „Vier. solche Kaliber. Wir müssen den Stein weghauen - oder das Kreuz absägen. Wie hätten Sie es denn gerne, Hochwürden?“

      „Schlagen Sie den Stein


Скачать книгу