Mombasa. Jürgen Jesinghaus

Mombasa - Jürgen Jesinghaus


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Ratten entgegenspringen. Nein, er war nicht neugierig. Er wollte es nicht wissen.

      Die alten Mieter hatten das Haus längst verlassen. Das genügte ihm. Sie waren in die Stadt oder auf die Felder gezogen, wo die Neubausiedlungen standen, weiter weg von den Schienen und dem an- und abschwellenden Brausen der Schnellzüge, die in dichter Folge Tag und Nacht durch Oplyr rasten. In der Dampflokzeit waren nicht so viele Züge gefahren. Das energische Stampfen und Ziehen unter dem davonwehenden Wasserdampf der Loks hatte sich frühzeitig angekündigt und niemanden erschreckt. Die Kessel in den schwarzen Bäuchen hatten in Oplyr noch nicht ihre maximale Kraft gewonnen, die Heizer noch nachlegen müssen. Die verdrängte Luft war in den Straßen parallel zum Schienenstrang abgeflossen, in die Gärten und auf die Felder. Jetzt schossen die Bahnen wie Raketen durch den Häuserschacht. Die Luft wurde gegen die Wände geschleudert, presste sich gegen die Scheiben, dass sie in den Rahmen erzitterten, knallte in die Ecken, gischtete am Efeu hoch, riss Blätter ab. Daniel lüftete nach hinten hinaus. Er hatte die Fenster zur Straßenseite zugekittet und hoffte, dass die Einfachscheiben dem Luftdruck widerstünden (ein wenig Spiel musst du ihnen lassen, die Fenster dürfen nicht zu stramm sitzen, sonst platzen die Scheiben).

      Daniel hörte wenig vom Leerlauf der Motoren in den Fahrzeugen, die vor der geschlossenen Schranke warteten, wie Hunde an der Leine sprungbereit, die Schienen zu überqueren, aufjaulend vor Erwartung. Der nervöse Fuß auf dem Gashebel, nur um einen Mann zu erschrecken. Das Mädchen auf dem Fahrrad durch eine halbe Umdrehung des Griffs am Motorrad zu zwingen, sich erschrocken umzudrehen und in ein grinsendes Gesicht zu schauen. Nur wenn Dan die Hände auf die Scheibe legte, „hörte“ er es, spürte die Vibrationen und konnte sich denken, warum die Mieter das Haus verlassen hatten und warum die Deutsche Bundesbahn, der das Haus gehörte, darauf verzichtete, von ihm Miete zu kassieren. Alles staute sich vor den Schranken. Die Jogger traten auf der Stelle. Die Fahrer stiegen aus den Autos und blickten links und rechts in die Ferne, strengten ihre Augen an, um zu erkennen, ob sich der Fluchtpunkt aufblähen, die Rakete aus ihm herausplatzen würde. Sie hörten auf das Singen und Sirren des angeregten, durch ferne Räder maltraitierten Stahls, der die Erlösung ankündigt: den Zug mit seinen Reisenden, die gelangweilt oder gedankenverloren in den Polstern halb saßen, halb lagen, nachlässig in Papieren blätterten oder hinausstarrten und von der Ungeduld der Leute an den Schranken nichts wussten, nichts wissen wollten, als stünden sie höher im gesellschaftlichen Rang. Das Drama der Vorbeifahrt, die Demütigung vor den Zuginsassen, wiederholte sich stündlich mehrere Male, bis auf die Nächte, in denen die Signale einsam salutierten und die Schranken sich nur selten querlegten. Manchmal stand Daniel hinter den Fenstern und versuchte, in die beleuchteten Fahrkabinen zu schauen, indem er rasch seinen Kopf mitbewegte.

      Die Scheiben wurden blind und fleckig, die Wasserfahnen des Regens klatschten dagegen. Der Regen nahm den empor gewirbelten Staub auf, und die Züge schmissen den Sud in der Vorüberfahrt gegen das Glas und das Fensterholz. Abends erstrahlte das Fenster, wenn das Licht der Fernzüge an Daniels Scheiben zerplatzte, aufglühte und flackerte wie Kerzen hinter Transparenzpapier oder wie Feuer in fernen Öfen, die Stahl durchsichtig machten und wo keine Form Bestand hat. Daniel aber fürchtete die lichtlosen Züge, die Waggons in langer Reihe, die Tieflader mit Panzern, die ins Manöver rollen.

      Die sowjetischen Militärattachés wissen es eher als ich! Hier an dieser Schranke, dem strategischen Kreuzungspunkt, werden sie die Gemüsezufuhr zum Großmarkt stoppen, die wartenden Traktoren mit ihren Spanholzkisten voll Endiviensalat oder Erdbeeren in die Luft pusten, vaporisieren, zu Gemüsedampft machen, zu Eisen- und Gemüseeintopf. Mit Fleischbeilage – die Bauern nicht zu vergessen und die Jungs nicht, die ihnen beim Ernten geholfen und auf dem Weißkohl gesessen haben und jetzt, im Eisen- und Gemüsedampf aus zehn Kilometer Höhe den strategischen Gemüse-Panzer-Kreuzungspunkt von oben sehen (denn sie haben bereits die Augen von Engeln). Die Panzer glühen, werden durchsichtig und leichter, erheben sich, fliegen davon wie Sonnenflecken im Spiegel eines sich schließenden Fensters, wackeln wie ein Flämmchen und verblubbern in der Stratosphäre, Plasma aus Eisen, Gemüse und Fleisch. Die Rohre von Rheinstahl bewegen sich wie Girlanden im Luftzug. Die Sowjets wissen es eher als ich. Im Krieg schießen sie auf diesen Punkt (auf diesen und viele andere). Dann kommen die Panzer nur bis Oplyr und keine Umdrehung weiter, denn hier vor meiner Nase werden sie durchsichtig gemacht, hier beginnt ihre Himmelfahrt. Ihn ging es nichts an, aber um die Jungen auf dem Weißkohl tat es ihm leid. Die blieben besser zu Hause oder wanderten aus. Allerdings, die Erde ist voll von strategischen Punkten. Es wimmelt von ihnen.

      Um die geschlossenen Waggons wäre es nicht schade, sie sollten verschwinden, obwohl es nicht mehr dieselben sind wie Anfang der 1940er Jahre (aber sie sehen immer noch so aus). Diese hier sind in den fünfziger Jahren gebaut worden. Es können nicht mehr dieselben sein. Das Holz wäre verfault. Auch die Schienen sind nicht mehr dieselben, das alte Eisen wäre sonst abgewalkt und verrostet. Er konnte vor seiner Haustür stehen oder am Fenster und die geschlossenen Holzwaggons vorüberfahren sehen. Er sah sie wie in einem Dokumentarfilm ohne Sprecher. Bist du ganz sicher, dass sie Schafe oder Kühe geladen haben, Daniel Spielstein, oder Zuckerrüben oder eines von tausend anderen Gütern, und keine Menschen? Lass es verstrahltes Material sein, das seine unsichtbaren Fackeln in die Häuser am Rande wirft, in die Straßenschluchten und Hinterhöfe. Was alles wird auf diesen Schienen hin- und hergeschoben! Sollte man es nicht wissen? Müsste nicht alles in Glaskübeln transportiert werden? Die Güterzüge mit den Holzwaggons, die Holzklapperschlangen auf Rädern, wurden an Dan vorbeigeschoben und verschwanden in dem Punkt, durch das sich alles Sichtbare hindurchquetschen muss, zu dem schnurstracks die Schienen führen wie eine Jakobsleiter zu Gott.

      Daniel hatte sich an dem Kontergewicht vorbei gedrängt und sich mit einem Bein auf die Schiene gestellt, den Oberkörper weit nach links ausgelagert in den Raum, den sonst in rasender Fahrt die Züge ausfüllten, die vor Bonn nicht zu halten brauchten. Ein Mann in Lodenmantel, Wickelgamaschen und Bergsteigerschuhen packte ihn an der Schulter und sprach zu ihm. Daniel zuckte zurück, beeilte sich, an dem Kontergewicht vorbei auf die Straße zurückzukehren und war sich seines dummen Leichtsinns bewusst. Der Mann wies zornig auf einen Mast nahe der Schranke und sagte etwas zu Daniel, bevor er in seinen Mercedes stieg und den Schlag zuklappte. Daniel nickte bestätigend mit dem Kopf, obwohl er sich nicht erklären konnte, was die Warnung vor einem herannahenden zweiten Zug mit dem Mast zu tun haben sollte, auf den der Herr gewiesen hatte (der Herr von Grein). Nachdem der strategische Punkt in beide Richtungen freigegeben worden war und nun verlassen dalag, suchte Daniel mit den Augen den Mast ab, der im Licht der beiden Lampen hüben und drüben zwei Schatten warf. Nun erkannte er den Lautsprecher (darauf hatte ihn der Mann aufmerksam gemacht). Und dieser Lautsprecher soll ihn gewarnt haben? Woher hat der denn gewusst, dass ich den strategischen Punkt berühre? Daniel suchte mit den Augen weiter. Genau vor seinem Haus jenseits der Bahnlinie, höher als der Lautsprecher, war die Kamera angebracht und auf die Kreuzung gerichtet. Irgendwo am Rande Bonns saß in einem Kontrollhaus ein Mann oder eine Frau vor einem Monitor, vor einer Wand von Monitoren, und beobachtete Kreuzungen.

      Daniel war beunruhigt, als er sich zu Hause in seinem Zimmer von dem Schrecken erholte. Durch sein Fenster konnte er bei dieser Dunkelheit nur die Flecken der beiden Lampen wahrnehmen. Er stieg an diesem Abend auf den Dachboden, stieß die Luke auf und erkannte in erschreckender Nähe und Deutlichkeit die Kamera, die immer noch auf die Kreuzung gerichtet war. Immer? Ließ sie sich bewegen? Könnte sie sich auf mein Fenster richten? Bin ich beobachtet worden? Werde ich beobachtet? Daniel achtete genau auf die Kamera. Dann war ihm manchmal, als ob sie sich rührte, in kleinen ruckartigen Bewegungen. Er schloss die Augen, und wenn er sie wieder aufmachte, wies die Kamera bewegungslos und zielgerichtet auf die Kreuzung. Weiß man bei der Bundesbahn davon? Ist es eine Einrichtung des Verteidigungsministeriums oder des Innenministeriums? Oder ist es doch nur eine Schutzmaßnahme für die Bevölkerung? Lampen blinkten, die Schranken klappten herunter, eine Schnur heller Rechtecke wurde vorübergezogen. Darauf achtete Daniel nicht. Er behielt die Kamera im Auge, ob sie sich synchron zu einem beleuchteten Fenster bewegte (wie er es mit seinen Augen machte, um Personen zu erkennen). Sie ist starr auf die Kreuzung gerichtet. Ist sie die einzige Kamera? Gibt es nicht andere, die mich beobachten, während ich diese eine beobachte? Übernimmt eine Kamera die Überwachung der anderen? Daniel rollte die Augen, ohne sein Gesicht zu bewegen. Er suchte unauffällig nach der zweiten Kamera auf einem anderen Mast. Es nützt nichts, Daniel, sie zoomen


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