Mombasa. Jürgen Jesinghaus

Mombasa - Jürgen Jesinghaus


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des Mörders sein. Lass es nicht zu, Ewiger. Sei es ein schönes Gesicht, ein Schafsgesicht! Oder das Gesicht des kleinen Frolleins. Meinetwegen.

      11.

      Heute wollte er es tun. Dan hatte sich in den Kopf gesetzt, Beth Olam zu besuchen, den jüdischen Friedhof Oplyrs. Der Entschluss war ihm nicht leicht gefallen. Aber jetzt sollte es geschehen. Er schlug den Weg dorthin ein, vorbei an den Vorgärten, an Parkplätzen und Rasen, vorbei an der Gärtnerei, die sich dem Geschmack der kleinbürgerlichen Klientel angepasst hatte. Ihre Blautannen waren blauer als anderswo, der Rasen dichter. Der Rharbarber gedieh in Treibhäusern, auf offenem Feld standen Stiefmütterchen. Hier an der Gärtnerei wurde Daniel Zeuge der Hinrichtung einer Kuhblume. Ein Mann, älter als er, im blauem Drillich, eine Schürze vorgebunden, eine Schirmmütze auf dem Kopf. Er trug einen Kanister auf dem Rücken und betätigte eine Pumpe am Boden des Kanisters, die ein Pflanzenschutzmittel genanntes Gift aus einer Düse hinauspresste auf das Antlitz einer Blume. Der Löwenzahn stand unter dem Schild ‚Landwirtschaftlicher Verkehr frei‘. Er hatte sich das Loch der Stange zunutze gemacht und den Asphalt hochgewölbt und war mit seinen schönen Blättern herausgebrochen in die Todeszone, zu nahe im Herrschaftsbereich der Lebensbäume und Blautannen, zu nahe dem Terror des Rasens.

      Diese Bauern hatten nie ein Verhältnis zur Natur. Sie werden die letzten sein, die sie jemals verstehen. Sie wissen zu wenig darüber. Auf dem Lande glaubt man, dass Katzenhaare, wenn sie in den Magen kommen, das Innere in einen Pelz verwandeln, Leute, die Pflanzen in Kraut und Unkraut einteilen. Sie haben immer noch den Geist der Kolonisten, die alles frei Gewachsene als verfügbar ansehen und dagegen ankämpfen, um Ackerland zu gewinnen und es rein zu halten von nicht Auserwähltem. In der Vorzeit war die Auswahl groß, gegen die man seine Ordnung stellte, um zu überleben. Wichtig war nur die Kenntnis der Nutzpflanzen und des Handwerkzeugs. Der Rest war feindlich. Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Der Rest durfte der Ausrottung preisgegeben werden. Geist der Verfolgung, Inquisition und Ausrottung. Die Mönche und Priester kamen aus bäuerlichen Familien. Sie wussten, was recht ist. Sie unterschieden leichten Herzens Gut und Böse. Roden war Mission. Verbrennen bereitete den Boden des Guten vor. So haben sie Heiden und Ketzer bekehrt. Was sich nicht bekehren ließ, haben sie weggeworfen, abgeschnitten, verbrannt, vergiftet. Die Naturbetrachtung und die Naturwissenschaften sind in den Städten entstanden, Tier- und Naturschutz fern von Gehöften. Aber der Geist des Ausrottens wohnt aller Kultur inne: Tod, Ausgrenzung, Verbannung.

      Daniel war es schlecht vor Wut, dabei hatte er nicht das Bedürfnis, den alten Mann umzubringen. Wäre er umgekehrt, um sich in diesem Landstrich der geordneten Rechtecke einen anderen Streckenzug zu suchen, hätte er sich den ganzen Tag elend gefühlt, sich geärgert, sich einen Feigling gescholten und sich mit der Frage herumgestritten, ob er nicht nach Antwerpen auswandern solle. Wovon würde er dann leben? Alles wegen einer Kuhblume! Hatte er nicht selbst welche abgerissen, nur um herauszufinden, wie bitter die Milch schmeckt? Tritt er nicht selbst achtlos darüber hinweg? Aber die Exekution einer Blume mit der Giftspritze ist unverzeihlich! Daniel blieb bei dem alten Mann stehen, ohne zu ihm zu sprechen. Alles, was er sagen könnte, klänge wie dummes Zeug. Und die Antwort hätte er vermutlich nicht verstanden. Er musste sich das Unglück der Schwerhörigkeit manchmal ins Gedächtnis rufen und sich bewusst machen, bevor er etwas unternahm, was eine Antwort erforderte. Er blieb trotzdem stehen, ohne etwas zu sagen. Der alte Mann wandte sich ihm zu und lächelte. Seine Hand ließ die Pumpe los. Er sah Daniel erwartungsvoll an. Daniel sagte:

      „Ich habe nichts gesagt, ich bin schwerhörig und habe auch gar nichts gesagt.“

      Eine junge Frau kam hinter dem Haus hervor, ging um die Ecke und wollte zur halboffenen Haustür ins Innere. Da bemerkte sie die beiden Männer in ihrem Konflikt und rief:

      „Sie müssen schreien. Er ist schwerhörig.“

      Daniel entgegnete:

      „Ich habe nichts gesagt. ICH verstehe nichts.“

      Sie kam näher und schrie dem alten Mann ins Gesicht:

      „Was will er von dir?“

      Der Alte lächelte blöde. Er hatte das rosige Gesicht alter gesunder Menschen. Er bewegte seine Hand am Kopfe auf und ab, wie wenn ein Gefreiter seinen Leutnant grüßt. Er schrie zurück:

      „Ich habe nicht verstehen können, was er gesagt hat.“ Dann hob er seine Giftspritze vom Rücken und lud Daniel ein, in sein Haus zu kommen.

      „Es ist mein Haus“, schrie er, „meine Tochter wohnt auch hier, zusammen mit ihrem Mann.“ Daniel fühlte sich in einer unangenehmen Lage. Er war alt genug, ihm würde man einen groben Scherz mit der Schwerhörigkeit hoffentlich nicht zutrauen, deshalb bekannte er noch einmal:

      „Ich bin schwerhörig, ich kann leider nicht gut verstehen, was Sie sagen. Es ist mir unangenehm.“

      Die Tochter war einen Augenblick lang ratlos, aber Daniel blieb ernst und sah ihr forschend ins Gesicht: Wirst du begreifen, dass es ein peinlicher Zufall ist? Die junge Frau kam auf ihn zu, fasste einen Ärmel seines Mantels und deutete auf den Hauseingang. Nun gut, Daniel würde also ins Haus gehen müssen, zusammen mit dem alten Giftspritzer, der sich zu freuen schien, der offensichtlich sogar stolz war (ja, der Herr will mit mir reden!). Daniel wurde umständlich in ein kleines Zimmer geleitet, das dem Alten allein gehörte. Die Tochter rief etwas, kündigte etwas an und verschwand. Der rosige Alte sah Daniel mit zitternden, kauenden Kiefern freundlich an, in der Erwartung einer großen Überraschung, der Mitteilung vielleicht, dass eine Versicherung zahlen würde. Daniel wäre gerne wieder gegangen. Er rief:

      „Haben Sie etwas zu schreiben?“

      Der Mann erhob sich beflissen. Trotz seines schwerfälligen Gangs machte er allerhand flatterhafte Bewegungen, er ruderte im Zimmer umher, kramte auf Anrichten und Tischchen herum, öffnete seinen Küchenschrank, nahm einen Briefumschlag heraus, und als er irgendwo auch einen Bleistiftstummel gefunden hatte, kehrte er zu Daniel zurück, setzte sich, legte seine Arme auf den Tisch, hinter dem Platz zu nehmen Daniel genötigt worden war, und blickte wieder in derselben erwartungsvollen (kauenden) Miene auf Daniel, der jetzt sichtlich pikiert – das Theater kam ihm überflüssig vor – auf den Briefumschlag schrieb: „Ich bin schwerhörig – wie Sie. Ich habe vorhin nichts gesagt, nur zugesehen.“ Dann reichte er dem Alten den beschriebenen Briefumschlag. Der Mann nahm ihn gierig an sich, erhob sich wieder, und in derselben unsteten äugenden Hast ruderte er durchs Zimmer, auf der Suche nach einer Brille. Er rief:

      „Meine Augen machen es nicht mehr, Sie sollten mir sagen, was Sie aufgeschrieben haben, sagen, sagen, hören Sie? Was Sie geschrieben haben!“

      Er stand an der Tür und beugte sich in die Richtung auf Daniel zu. Daniel resignierte und machte seine gewohnte kreisende Handbewegung um ein Ohr. Damit signalisierte er, dass er Verständigungsschwierigkeiten habe. Der Greis lächelte beschämt.

      „Ich kann auch nicht hören. In meinem Alter, mein ganzes Leben gearbeitet, nur gearbeitet, das Häuschen gehört mir, meine Tochter wohnt auch hier, zusammen mit ihrem Mann.“

      Der Alte beobachtete noch einmal die Reaktion seines Gastes. Daniel sah ernst drein. Das mochte den Mann beruhigen. Der drängte nun auf eine Entscheidung und rief etwas in den Flur hinein. Einen Moment stand er reglos zwischen den Türpfosten und stierte vor sich hin. Dann kam die junge Frau mit einem Tablett auf den Händen. Sie brachte Geschirr und Kaffee und stellte die Tassen und eine Kanne auf den Tisch. So, schien sie zu sagen, schaute beide Männer an und nahm den ihr zitternd entgegengestreckten Umschlag in die Hand.

      „Hol mir die Brille“, schrie der Alte und setzte sich wieder zu Daniel. Er nahm dessen Hand und klopfte zweimal leicht darauf, wie ein Arzt seinem Patienten, um ihm zu sagen, es sei alles halb so schlimm, man gewöhne sich daran.

      „Wo hast du deine Brille hingetan, Vater?“

      „Was?“

      „Brille – hingetan!“

      „Da, wo sie immer ist, beim Sessel am Fernseher. Und bring Papier mit.“

      Die Frau schüttelte den Kopf,


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